Auf das einzelne Individuum bezogen ist Geschichtsbewusstsein eine individuelle mentale Struktur, die durch ein System aufeinander verweisender Kategorien gebildet wird. Dieses kognitive Bezugssystem wird im Prozess des Sprachlernens erworben (1). Die durch (direkte wie durch kommunikative) Erfahrung geformte mentale Struktur ist für die Art und Weise verantwortlich, wie eine Geschichte erzählt wird, welche Perspektiven gewählt, wie das Verhältnis von oben und unten, von arm und reich gesehen wird, ob Verhältnisse generell statisch oder veränderbar gesehen werden.
Ich möchte vorschlagen, Geschichtsbewusstsein als eine mentale Struktur zu bezeichnen, die aus sieben aufeinander verweisende Doppelkategorien besteht. In dem Maße, in dem das Kind diese grundlegenden Kategorien ausdifferenziert, erwirbt es jenes kognitive Bezugssystem, ohne das es weder Geschichte verstehen noch Geschichte erzählen könnte.
Diese Kategorien sind:
- Zeitbewusstsein (früher- heute/morgen) Wirklichkeitsbewusstsein (real/historisch imaginär)
- Historizitätsbewusstsein (statisch - veränderlich)
- Identitätsbewusstsein (wir - ihr/sie)
- politisches Bewusstsein (oben - unten)
- ökonomisch-soziales Bewusstsein (arm - reich)
- moralisches Bewusstsein (richtig - falsch)
Dem jeweiligen Geschichtsbewusstsein des einzelnen Individuums liegt eine individuelle mentale Strukturierung aus diesen Kategorien zugrunde. Dieses kognitive Bezugssystem, das das Geschichtsbewusstsein ausmacht, wird durch Entwicklungserfahrungen gebildet. In diesen Entwicklungserfahrungen wird die mentale Struktur des Individuums ausgebildet.
In welcher Reihenfolge und in welcher Gleichzeitigkeit diese einzelnen Kategorien erworben werden, wissen wir noch nicht. Wir können sie aber in drei Basiskategorien und vier soziale Kategorien einteilen, ohne damit schon eine Präferenz in den individuellen Lernprozessen anzugeben. Die drei fundamentalsten Differenzierungen dieser mentalen Strukturierung, die allen anderen vorausliegen, bestehen in der Fähigkeit, die Prädikate "früher" und "heute" (bzw. "morgen"), "real" und "imaginär" sowie statisch -veränderlich/veränderbar (sein - werden) korrekt zu verwenden. Natürlich werden die Orientierungsbegriffe nicht ausschließlich nacheinander erworben, sondern auch gleichzeitig. Dennoch wird es Hierarchien geben: Erst wenn Fiktion und Realität geschieden sind, kann aus dem Märchenerzählen ein historisches Erzählen werden. Für dieses historische Erzählen sind dann die Kategorien Identitätsbewusstsein, ökonomisch-soziales Bewusstsein, politisches Bewusstsein und moralisches Bewusstsein maßgeblich.
Die vier letzten Dimensionen beziehen sich auf die Komplexität von Gesellschaft. Geschichtsbewusstsein umfasst ein strukturiertes Wissen über Veränderung von jeweils konkret und spezifisch organisierten Gesellschaften in der Zeit. Veränderungen von Gesellschaft als Bewusstseinsinhalt beschreibt nicht nur Veränderungen in der Zeit, sondern auch was sich in der Gesellschaft strukturell verändert und was nicht - ob sich z. B. die politische Stratifikation verändert bzw. verändern kann oder ob es überhaupt wünschenswert ist, dass sie sich verändert.
Die Ausbildung dieser dimensionierten Doppelkategorien in der Lebensgeschichte ergibt jene individuelle mentale Strukturierung, die wir Geschichtsbewusstsein nennen können. Das bedeutet allerdings nicht, dass es ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein im Sinne eines bewussten Seins sein muss. Es muss sich nicht um ein durchdachtes moralisches Bewusstsein oder um ein konkretes Herrschaftsbewusstsein handeln. Moralisches Bewusstsein wie auch politisches Bewusstsein kann sich in moralischem Relativismus wie in politischer Apathie äußern. Dennoch ist eine Kategorisierung der Bereiche moralisches Bewusstsein und Herrschaftsbewusstsein vollzogen.