Identitätsbewusstsein beruht auf der Erfahrung, dass einzelne Menschen wie auch Menschengruppen sich ändern und doch mit sich selbst identisch bleiben. Als Kategorie des Geschichtsbewusstseins ist es das Bewusstsein, zu verschiedenen Gruppen "wir" sagen zu können und sich damit von anderen ("sie"; "ihr") abzugrenzen (8). Identitätsbewusstsein ist aber nur dann ein Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein, wenn dies "wir" in zeitlicher Dimension gesehen wird, d. h. durch Verweis auf vergangene Handlungen der Bezugsgruppe, die als Identifikationsobjekt gewählt wird, Identität begründet. Identität als Strukturmoment von Geschichtsbewusstsein ist somit eine Orientierung in diachroner Weise.

Das Individuum sagt zu verschiedenen Gruppen "wir". Diese Gruppen variieren in der Größe: unsere Familie, unser Verein, unsere Stadt, unsere Nation (Devereux 1984b) etc. Das Individuum identifiziert sich mit den Mitgliedern dieser verschiedenen und verschieden großen Gruppen. Wir können deshalb von der Größe des identitiven Raumes des Individuums sprechen (Vgl. Streit 1982). Die Wir-Ihr-Differenzierung ist in der Regel mit einer Verteilung von sozialen Wertigkeiten verknüpft (9). Die Ihr-Gruppen (besonders wenn es sich um Minderheiten handelt, die der allgemeinen Norm nicht folgen) werden somit abgewertet. Die Ihr-Gruppe ist nicht "unseresgleichen", sie ist anders, fremd.

Den Mechanismus, der zu einem Identitätsbewusstsein, zu einem Kollektivbewusstsein führt, hat Piaget ausführlich analysiert (Piaget, Weil 1976). Piaget beschreibt das Verhältnis, dass das Kind zu übergeordneten Kollektiven eingeht, als logische und affektive Dezentralisierung. Zu Anfang der individualgeschichtlichen Entwicklung betrachtet das Kind sich selbst als den einzig logisch und affektiv möglichen Standpunkt (Egozentrismus). Es nimmt an, dass der Standpunkt, den es selbst vertritt, von allen geteilt wird.

Auf der ersten Stufe kann das Kind zwar wir und ihr unterscheiden, aber diese Unterscheidung gilt radikal. Ein Osnabrücker kann kein Deutscher sein und ein Deutscher kann kein Osnabrücker sein. Deutscher und Osnabrücker sind räumlich und logisch verschiedene Klassen. Ebenso kann ein Deutscher kein Europäer sein und Europäer kann kein Deutscher sein.

Auf der zweiten Stufe kann das Kind schon die räumliche, aber noch nicht die logische Inklusion vollziehen. Deutschland liegt in Europa, aber dennoch kann ein Deutscher kein Europäer sein. Auf der affektiven Ebene kann es aber auch schon eine affektive Dezentrierung vornehmen. Andere Länder, andere Bezugsgruppen können ihm schon gefallen, aber nur, wenn sie einem Mitglied der Familie gefallen. Das Kind ist in der Lage, seine Affekte auch auf Gruppen zu zentrieren, die außerhalb der eigenen liegen (Dezentrierung); hier wäre der Übergang zur diachronen Identität zu sehen.

Auf der dritten Stufe nimmt das Kind die kollektiven Stereotypen an, die eine jede Wir-Gruppe von sich entwirft (10).