Eine geschichtsdidaktisch gerichtete Theorie des Geschichtsbewusstseins stößt immer wieder auf die kognitiven Schwierigkeiten beim Umgang mit moralischen Prinzipien. Die Welt historischer Sachverhalte wird "moralisiert", d. h. es wird nach den zugrunde liegenden Motivationen und den Begründungsformen von Handlungen gefragt, und diese werden dann gewertet. Historische Ereigniszusammenhänge werden als gut oder schlecht, historische Handlungen als richtig oder falsch klassifiziert. Darüber hinaus finden sich Formen des moralisierenden Deutens (Vorsehung, Verschwörung, Dolchstoß etc.) historischer Entwicklungsprozesse. Dennoch ist uns im Moment noch völlig unbekannt, welche Bedeutung moralische Prinzipien für die Wahrnehmung und Deutung von Geschichte haben.

Moralisches Bewusstsein allgemein besteht in der Selbstobligation gegenüber sozialen Normen (12). Es ist deshalb nach den sozialen Normen und deren Bindung zu fragen. Hinsichtlich der Wahrnehmung und Deutung von Geschichte besteht moralisches Bewusstsein in der Fähigkeit, die Prädikate gut und böse nicht willkürlich oder zufällig, sondern nach Regeln anzuwenden.

Hier stellen sich für das Geschichtsbewusstsein zwei Probleme, von denen das eine Geschichte als Prozess und das andere die Verstehbarkeit historischer Situationen betrifft.

  • Im Kohlbergschen Konzept geht es nicht darum, ein historisches Ereignis richtig oder falsch, gut oder schlecht, akzeptabel oder verwerflich zu finden: ob die Bauern im Bauernkrieg "richtig" handelten, als sie zur Gewalt griffen, ob der gesellschaftliche Umsturz 1918/19 richtig oder verwerflich war, ob die Verschwörer des 20. Juli das tun durften oder nicht, was juristisch Hochverrat war, ist nicht Gegenstand einer genaueren Analyse des moralischen Urteils in der Geschichtsdidaktik. Hier geht es einzig und allein darum, welche Argumentationsniveaus für Pro- oder Contra-Entscheidungen benutzt wurden. Auf jeder der 6 Kohlbergschen Argumentationsstufen ist zu jedem Ereignis eine Pro- und eine Contra-Haltung möglich.

Die vorfindbaren moralischen Argumentations- und Begründungsmuster lassen sich hierarchisch ordnen (Egozentrik, Heteronomie, Autonomie), und diese Hierarchie bringt einen entwicklungslogischen Zusammenhang zum Ausdruck. Es spricht vieles dafür, dass die Entwicklung des moralischen Bewusstseins einem rational nachkonstruierbaren Muster folgt. Über diesen Entwicklungsgang des moralischen Bewusstseins geben uns die Untersuchungen von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg Auskunft. Nach Kohlberg vollzieht sich das moralische Bewusstsein in sechs Stufen (13).

Die Untersuchung von moralischen Argumentationsformen, die sich auf historische Ereignisse beziehen, erlaubt eine zureichendere Analyse des historischen Handlungszusammenhanges als bisher. Ein Konzept wie das von Kohlberg, das allgemeine Menschheitsgeschichte und individuelle Lebensgeschichte verknüpft, vermeidet es, den Schülern die unterschiedlichen Handlungsorientierungen und Wertsysteme in der Geschichte als ein buntes, beliebiges und zufälliges Kaleidoskop kontingenter Ereignisse ohne eine bestimmte Entwicklungslogik vorzustellen. Wenn die Muster moralischen Handelns stets kontingent wären, wäre eine historistische Relativierung begründet. Eine solche Annahme schränkt die historischen Erkenntnismöglichkeiten ein, man kann aber mehr erkennen, als der Historismus für möglich hielt.

  • Während wir moralisches Bewusstsein im alltäglichen Leben wie auch moralisches Bewusstsein in hypothetischen Situationen bei Kindern relativ früh finden, ist damit noch nicht entschieden, wie ihr moralisches Bewusstsein mit historischen Situationen umgeht. Was vom einzelnen Individuum hier gefordert ist, ist eine Verbindung der Basisorientierungen (Realität, Zeit, Geschichtlichkeit) mit dem moralischen Bewusstsein. Es scheint so, dass eine Verknüpfung von moralischem Bewusstsein und dem Bewusstsein von Geschichtlichkeit im weiteren Sinne erst auf einer zeitlich ziemlich späten lebensgeschichtlichen Stufe erfolgt. Auf der frühen Phase werden moralische Urteile für historische Situationen analog zu gegenwärtigen hypothetischen Situationen vorgenommen, ohne dass das Bewusstsein von Geschichtlichkeit dabei leitend wäre. Dass das moralische Bewusstsein als Komponente von Geschichtsbewusstsein nicht allein von Entwicklungs- und Sozialpsychologie hinreichend analysiert werden kann, zeigt die immer noch vorhandene Interpretationsregel des Historismus. Dem Historismus ist ein ethischer Relativismus eigen, der die "Geltung moralischer Urteile allein an Rationalitäts- oder Wertstandards derjenigen Kultur- und Lebensform bemisst", die verstanden werden soll und nicht an der, der das urteilende Subjekt angehört (Habermas 1983: 132)! Dass das nach den Erfahrungen mit dem Faschismus nicht mehr gelten kann, ist zwar theoretisch plausibel, trifft aber noch nicht die aktuelle Praxis. Wir müssen vielmehr von der Existenz eines kindlichen Historismus ausgehen, der alles legitimiert, weil es eben "damals" so üblich war (14).