Im Politikbewusstsein werden Vorstellungen über die Genese von kollektiver Verbindlichkeit aufgebaut. Inhaltlich lässt es sich nach Feldern unterteilen, für die jeweils kollektive Verbindlichkeiten hergestellt wird. Neben Bereichen wie der Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik, Umweltpolitik ist auch die Geschichtspolitik ein Politikfeld, in dem Individualinteressen in verbindliche Regelungen transformiert werden.

In einer differenzierten und pluralen Gesellschaft lässt sich auch aus der Geschichte keine homogene Identität mehr gewinnen. Verschiedene interessengeleitete Fraktionen konkurrieren darum, ihre Geschichtsdeutung allgemein verbindlich durchzusetzen. Geschichtspolitisch relevant sind "die Auseinandersetzungen um die Interpretation der Vergangenheit unter dem Aspekt von [...] Auseinandersetzungen um Geschichtsbilder und um Versuche, ein gleichsam 'kollektives' Geschichtsbewusstsein zu prägen" (45) .

Als geschichtspolitisches Bewusstsein kann damit der Teilbereich des Politikbewusstseins begriffen werden, der Vorstellungen darüber aufbaut, wie innerhalb einer sozialen Gruppe kollektiv verbindliche Geschichtsdeutungen hergestellt werden. Im geschichtspolitischen Bewusstsein befasst sich das politische Denken mit Geschichte. Es werden Vorstellungen davon entwickelt, wie partielle Geschichtsinterpretationen in allgemein verbindliche Geschichtsdeutungen transformiert werden. Dieser geschichtspolitische Prozess kann sowohl als autoritäre Durchsetzung eines Geschichtsbildes als auch als demokratisches Produkt pluraler Geschichtsdeutungen vorgestellt werden.

Durch geschichtspolitisches Lernen wird gelernt, wie der Prozess der Transformation von interessegebundenen Geschichtsbildern in kollektives Geschichtsbewusstsein anerkennungswürdig gemacht werden kann. Geschichtspolitisches Lernen entwickelt die Kompetenz, am politischen Streit um verbindliche Geschichtsdeutungen zu partizipieren. Die grundlegende Sinnbildungsform des geschichtspolitischen Lernens ist das Legitimieren. Die Besonderheit der geschichtspolitischen Legitimation liegt darin, dass sie innerhalb des Politikfeldes 'Geschichte' tätig ist. Es wird erlernt, Geschichtsdeutungen allgemein verbindlich zu machen.

Geschichtspolitisches Lernen lässt sich in einen autokratischen und einen demokratischen Lerntypus unterscheiden. Durch autokratisches geschichtspolitisches Lernen erlernt der Mensch, dass er unfähig ist, Geschichtsdeutungen zu produzieren, die allgemein bindend sein könnten. Es werden Legitimationsmuster erlernt, die es sinnvoll erscheinen lassen, dass kollektiv bindende Geschichtsvorstellungen von einer Minderheit entwickelt und von der Mehrheit übernommen werden. Autokratisches Lernen erschließt die Vorstellung, dass Geschichtsdeutungen historische Wahrheiten wiedergeben. Kollektive historische Identität erhält den Anschein der Natürlichkeit.

Durch demokratisches geschichtspolitisches Lernen erlernt der Mensch, dass er seine interessengebundenen Deutungen in den kollektiven Identitätsbildungsprozess einer sozialen Gruppe einbringen kann. Er entwickelt Denkstrukturen, durch welche die Beteiligung an der Verbindlichmachung von Geschichtsdeutungen legitimiert wird. Es wird gelernt, wie subjektive historische Sinnbildungen in den politischen Streit um die Deutung der Vergangenheit eingebracht werden können.

Durch demokratisches geschichtspolitisches Lernen entwickelt sich die Fähigkeit, Vergangenheitsdeutungen prüfend zu begegnen. Geschichtsvorstellungen, die als 'historische Wahrheit' präsentiert werden, können so als interessensgebundene Interpretationen verstanden werden (46). Die demokratische Sinnbildung erkennt die grundsätzliche Kontroversität möglicher Geschichtsdeutungen als Ausdruck pluraler gesellschaftlicher Interessen an. Demokratisches geschichtspolitisches Lernen immunisiert gegen Homogenitätsansprüche historischer Legitimation und Identifikation.