Die Lektüre der Ausführungen zum Arbeitsschwerpunkt Geschichte hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Der Sprachgestus reklamiert einen erheblichen Anspruch der Selbstgewissheit über das, was Geschichtsunterricht und [/S. 40:] Geschichtswissenschaft sein müssen und nicht sein dürfen; diesem Anspruch kontrastiert merkwürdig die verworrene Gedankenführung und die strukturelle Unklarheit der Aussagen sowie die offensichtlich weithin fehlende Sachkompetenz der Verfasser hinsichtlich des wissenschaftlichen und theoretischen Hintergrunds ihrer Behauptungen. Es muss wohl in der Tat eine rein "politische" Entscheidung des Kultusministeriums gewesen sein, Fachwissenschaftler und Fachdidaktiker von der Erarbeitung auszuschließen (s. u. Anm. 20). Politisch deuten könnte man auch die Ambivalenz der Formulierungen, die sich genauer Festlegung durch einen assoziativ reihenden Stil entzieht ("nicht allein", "darüber hinaus", "auch"). Die Wichtigkeit eines solchen Papiers verlangt eigentlich eine Satz für Satz fortschreitende genaue Analyse von Inhalt und Sprache: das aber wäre ein Kommentar, der den Umfang der Richtlinien übertreffen würde. Hier können nur einige Bemerkungen zu wesentlichen Punkten gemacht werden.

a. Die "zentrale Aufgabe" und deren Begründung

Volle Zustimmung kann die Formulierung der "zentralen Aufgabe" finden, "ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein aufzubauen" (H. S. 21); nur ist diese Formulierung für sich eine Leerformel und besagt nicht viel anderes als etwa die ältere Zielforderung des "historischen Verständnisses". Es kommt also alles darauf an, wie diese begründet und wie sie nach diesem Ansatz angegriffen werden soll.

Wie sieht ein solches Geschichtsbewusstsein aus? Wie kommt es zustande? Da sind zunächst die Abgrenzungen: der Angriff gegen eine antiquarische Geschichtsauffassung, die meint, "objektiv gesicherte Daten und Tatsachen, die unabhängig von unserem Bewusstsein, von unserer jeweiligen gesellschaftlichen Interessenlage existieren", als abgeschlossene Vergangenheit repräsentieren zu können (H. S. 19). Das hier angesprochene, sehr komplizierte erkenntnistheoretische Problem, das seit dem Nominalismus-Realis- [/S. 41:] mus-Streit des Mittelalters geführt wird, ist für die Verfasser gelöst. "Die in letzter Zeit intensiv geführte erkenntnistheoretische Diskussion" habe eine solche Vorstellung als "objektivistischen Irrtum" erwiesen. Diese Bemerkung ist angesichts der differenzierten und keineswegs abgeschlossenen Auseinandersetzung mindestens spaßig (11). Offenbar kennen die Vf. das Problem nicht, sonst könnten sie nicht Banalitäten als Erkenntnisstand ausgeben. Da waren alte Didaktiker kenntnis- und gedankenreicher. Sie unterschieden sehr wohl zwischen der Geschichte selbst, die ohne unser Zutun existiert und von der wir nicht nur in bestimmter Absicht geschriebene, ideologieverdächtige Quellen ("Tradition"), sondern auch "Überreste" haben - und unserem Wissen von Geschichte, das in einem schwer zu analysierenden Oszillationsprozess zwischen der Überlieferung und ihrer Deutung entsteht (12). Auf einen salto mortale vom "objektivistischen Irrtum" in eine präsentistische Instrumentalisierung von Geschichtsbewusstsein lässt sich die anspruchsvolle zentrale Aufgabe nicht begründen. Das Muster der Ideologiekritik schlägt hier überall durch, und zwar in seiner vulgären Form, die sich der Untersuchungen der Wissenssoziologie oder der Arbeiten über das Problem der "Ideologie" nicht mehr versichert. So ist Geschichte als Bewusstsein stets nur Geschichte für uns, klassen- oder schichtenspezifisch, interessegebunden verstanden, im Dienste irgendeiner Absicht, Legitimierungsmaterial (H. S. 27).

Nun bleibt nicht aus, dass die Verfasser bei dieser Sicht auf das alte Problem des Relativismus stoßen. Gibt es denn überhaupt keine mindestens relativ gültigen Aussagen über die Vergangenheit? Bezeichnend ist nun, dass nicht dieses Problem an sich ernst genommen wird, sondern nur die Tatsache oder die Vermutung zählt, dass die Schüler bei einer solchen Geschichtssicht jedes Interesse an der Geschichte verlören. Da das aber nun nicht sein darf, weil ja Aussagen über Geschichte politische Kampfmittel sind, muss also ein Ausweg gefunden werden. Und nun bietet sich die Geschichtswissenschaft an: mit Hilfe ihrer wissenschaftlichen Methoden ist eine Überwindung der Beliebigkeit möglich; Aussagen müssen der wissenschaftlichen Quellenkritik standhalten (H. S. 20). [/S. 42:] Zwar bleibt unerfindlich, wieso die wissenschaftliche Quellenkritik unter den sonst hier gemachten Voraussetzungen in der Lage sein soll, die allgemeine Ideologiegebundenheit zu durchbrechen. Hier springt man aus dem einen theoretischen Zusammenhang in den anderen. Nachdem man zunächst einen halb rezipierten Habermas vorstellte und die generelle Interessegebundenheit der Erkenntnis nachdrücklich vor Augen rückte, greift man nun zurück auf das Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft und bietet ein Stückchen Max Weberschen Gedankengutes: Geschichtliche Reflexion kann keineswegs Entscheidungen vorwegnehmen, aus ihr sind nicht Handlungsanweisungen abzuleiten; sie kann aber, indem sie die Bedingungen gegenwärtiger Verhältnisse erhellt, zur Rationalität der Entscheidungen beitragen (H. S. 20).

Der Leser, der auch dieser Meinung ist, fragt sich verwundert, was denn nun gilt und wie eins zusammen mit dem anderen gelten soll. Einerseits wird die Wissenschaft dem Interesse nachgeordnet, andererseits als Kritikinstanz davon getrennt. Ist es einfach eine unklare Position, die nicht konsequent auf das Denkmuster setzt, dass jede Wissenschaft letztlich nichts anderes sei als Politik? Von dieser Denkform her ließe sich ja das "Jakobinische" Didaktikmodell "rechtfertigen". Oder ist es so, dass lediglich die für sich und in ihrer Begrenzung richtige Erkenntnis der Standortgebundenheit und Instrumentalisierbarkeit historischer Aussagen hier als didaktisches Prinzip verabsolutiert wird?

Man wird das letztere annehmen dürfen. Aber es hat fatale Konsequenzen. Denn nach der Feststellung, dass die Geschichtswissenschaft die Verfahren liefere, die interessengebundene Beliebigkeit von Aussagen auf ihre Berechtigung zurückzuführen, müsste konsequenterweise nun entwickelt werden, wie es möglich ist, Schüler die Grundelemente dieses kritischen Verfahrens handhaben zu lehren, damit sie instrumentalisierten Geschichtsaussagen gegenüber nicht hilflos bleiben. Denn was sonst wäre Befähigung zu "reflektiertem Geschichtsbewusstsein", als die Mittel der Reflexion anwenden zu lehren? Genau das geschieht aber nicht. Die Aussage über die Geschichtswissenschaft als kritisches Verfahren [/S. 43:] bleibt folgenlos. Der Gedankengang pendelt um diese Konsequenz herum und gerät wieder in das Gleis der unausweichlichen Ideologiegebundenheit aller Erkenntnis. So kann man auch nirgends sehen, wie nach diesem Konzept ein didaktischer Weg zu finden sein soll, der zur "zentralen Aufgabe" hinführt. Statt dessen werden dann fragwürdige Vermutungen über Erwartungshaltungen der Schüler geboten, die als didaktische Ausgangspunkte dienen sollen: nun gut, aber wozu Ausgangspunkte, wenn kein Weg zum Ziel führt?

Ganz deutlich muss eingewandt werden: ein didaktischer Ansatz, der versäumt, Fähigkeiten zu entwickeln, die es erlauben, historische Verhältnisse überhaupt erst einmal soweit wie möglich objektiv - d. h. quellen- und standortkritisch - für sich zu untersuchen und aufzunehmen, kann nicht zur Rationalisierung politischer Entscheidungen beitragen. Die zusammenfassend formulierten Aufgaben am Schluss hängen in der Luft (H. S. 30).

Man geht wohl nicht fehl, wenn man das Entfremdungsverhältnis, in dem die Verfasser zur Wissenschaft stehen, für diese eigentümlich unklaren Verwirrungen des didaktischen Ansatzes verantwortlich macht - warum sonst scheuen sie im Arbeitsbereich Geschichte vor den Folgerungen zurück, die sich aus der eigenen Behauptung ergeben, die im Arbeitsbereich Sozialwissenschaften wenigstens annähernd anerkannt sind: nämlich die Wissenschaft zu befragen, was sie "zur Vermittlung von erschließenden Kategorien und grundlegenden Erkenntnissen beizutragen" habe- wenngleich auch hier diese Kategorien "einer didaktischen Überprüfung" unterzogen werden sollen. Ein seltsamer Gedanke: Didaktik als Metawissenschaft, die wissenschaftliche Kategorien an "Erfahrungen der Schüler" prüfen will (H. S. 13)!

b. "Veränderung" und "Kontinuität"

Es ist eine wichtige und im Lernprozess zu thematisierende Einsicht, dass die Gegenwart und ihre Verhältnisse nichts unabänderlich Gegebenes sind, sondern im historischen [/S. 44:] Prozess von Menschen herbeigeführt und also nur ein Moment dieses Prozesses sind. Zu Recht wird dem Arbeitsbereich Geschichte zugewiesen, "Veränderung erfahrbar zu machen" (H. S. 23). Wenn in den gesamten Richtlinien nun immer wieder das Prinzip Veränderung sehr stark betont wird, man also annehmen darf, dass unter dem Primat des politischen Ansatzes ein Verhalten bewirkt werden soll, das die Gegenwart überwindet, so wäre nun dringend erforderlich - unter dem Lernziel der Rationalisierung von Entscheidungen durch geschichtliche Reflexion -, dass dieser zentrale Begriff nicht einfach immer wieder formal wiederholt würde. Veränderungen in der Geschichte können vielfältiger Art sein. Nicht immer ist von vornherein zu sagen, inwieweit sie Progression (unter dem Postulat des Demokratie- und Selbstbestimmungsgebots), inwieweit sie Regression sind. Veränderung an sich kann fragwürdig sein. Diese Ambivalenz von Veränderung, von der die Geschichte so ausdrücklich zu sagen weiß, kommt nirgends in den Blick. Zwar heißt es richtig, man dürfe keine "isolierte Erfahrung von Veränderung" vermitteln - aber was heißt das genau? Man kann vermuten, dass die an anderer Stelle ausdrücklich erwähnte historische Komplexität, "die Vielschichtigkeit der Bedingungen", Veränderungen als Gesamtphänomene verständlich machen soll (H. S. 24), dass die Vielschichtigkeit es verbietet, durch Vereinfachungen eine "unwandelbare Gesetzmäßigkeit" vorzutäuschen, die von der "vielschichtigen historischen Analyse" befreie (H. S. 24). Wenn das ernst gemeint ist, müssten wiederum die Instrumente solcher Analyse didaktisch thematisiert werden. Aber die folgenden Fragestellungen gehen über die Grundanalyse hinweg und bezeichnen wieder genau die Interessegebundenheit von Veränderungen allein: ihre Bedingungen, Möglichkeiten, Richtungen - der Bestand gesellschaftlicher Wirklichkeit, in den sie eingreifen - werden an sich nicht ernst genommen. Man hat den Verdacht, dass der Begriff "Veränderung" von vornherein positiv im Sinne "gesellschaftlicher Weiterentwicklung" interpretiert wird.

Er verstärkt sich durch die Art, wie der Begriff Kontinuität verwendet ist. Er sei mitgesetzt mit dem Begriff Verän- [/S. 45:] derung - aber wie? "Im Unterricht" stelle sich Kontinuität her, "indem nach Bedingungen für Veränderung gefragt wird" (H. S. 23). Das bleibt Behauptung. Der Lehrer möge sie verstehen und auf seine Weise lehren, wie solche Bedingungen fassbar sind. Dass auch der Begriff Kontinuität ambivalent ist, dass Kontinuität ebenso sehr Antrieb wie Hemmnis von Veränderung sein kann - das ist gar nicht im Blick. Wie soll aber bei so unklaren Schlüsselbegriffen die hohe Forderung an Lehrer und Schüler eingelöst werden, die Kriterien der Stoffauswahl selbst zu "thematisieren" - ein richtiger Anspruch; nur, wenn er mit unzulänglichen Mitteln erfüllt werden soll, wird er schlimmere Wirkungen zeigen als das als "ahistorisch" beschriebene Kontinuitätsbewusstsein, das aus einem chronologischen Durchgang erwachsen soll (H. S. 23).

c. Die Kritik an anderen Ansätzen

Die Ablehnung des "chronologischen Durchgangs" ist inzwischen eine allgemein verbreitete Forderung; man kann sie unterstützen; nur muss man wissen, dass damit ein dem Prinzip der Veränderung querlaufender Ansatz gewählt wird. Und so geht es auch gar nicht um Ablehnung der Chronologie schlechthin: Alle Unterrichtsthemen dieses Plans folgen dem Prinzip der "relativen Chronologie", was wohl heißen soll, dass der Unterricht Schwerpunkte setzt und Zwischenräume auslässt. Nur, das tat der Geschichtsunterricht schon immer. Und dass chronologisches Vorgehen Gegenwartsbezug nicht ausschließt, dass Gegenwartsbezug eine Sache der Fragestellung ist, wissen die Verfasser an anderer Stelle selbst. Verwechselten sie vielleicht den Aufbau mancher Schulbücher mit dem Unterricht?

Der Angriff gegen den personalisierenden Geschichtsunterricht ist ein Scheibenschießen auf Pappkameraden. Wenn ein Lehrer heute noch so verfährt, helfen auch keine neuen Richtlinien. Aber die Begründung für diese Ablehnung ist nun wieder bezeichnend für den gesamten Ansatz: Nicht weil ein solcher Unterricht den geschichtlichen Sach- [/S. 46:] verhalten nicht gerecht wird, also objektiv falsch ist - oder besser: insofern er für bestimmte Zeiten in unterschiedlichem Grade objektiv falsch ist -, ist er abzulehnen; abzulehnen ist er, weil er dem politischen Erziehungsziel widerspricht, weil er "das Gefühl individueller Ohnmacht verstärkt" (H. S. 25). (Tut er das wirklich, gibt er nicht vielmehr eine falsche Vorstellung von individueller Macht?) Nicht das wissenschaftlich zu prüfende Wahrheitskriterium zählt, sondern die "Auswirkung" (H. S. 25). Heißt das auch, dass ein Geschichtsunterricht, der erwünschte politisch-didaktische Wirkungen hat, eben deshalb schon gerechtfertigt ist? Das passte vortrefflich zum instrumentalisierten Begriff des Geschichtsbewusstseins: es dient dazu, "Urteile und daraus folgende Entscheidungen abzusichern" (H. S. 27).

Die Ablehnung des "thematischen Längsschnittes" wird mit guten Gründen gerechtfertigt. Solche Längsschnitte isolieren in der Tat Einzelphänomene, die nur im "gesellschaftlichen Kontext" gesehen werden sollten. Wissen die Verfasser, wie schwer diese Forderung, wird sie ernst genommen, einzulösen ist? Sie müssten es spätestens bei der Konstruktion der eigenen Unterrichtseinheiten gemerkt haben. Was sie dort tun, ist das Musterbeispiel thematischer Längsschnitte unter den vier Lernfeldern; zwar wird im allgemeinen Teil das unbehagliche Gefühl, gegen eigene Prinzipien zu verstoßen, noch durch alibihafte Hinweise auf herzustellende Zusammenhänge verdrängt (H. S. 23, 28 f.). Dann schwindet es mehr und mehr. Man lese im 4. Lernfeld etwa die Hinweise zur Behandlung des Krieges oder der Stellung des Militärs (H. S. 295 f.). Und wie soll in der 5./6. und 7./8. Jahrgangsstufe zu den thematischen Längsschnitten zum Erziehungswesen der gesamte Kontext geliefert werden?

Richtlinien sind keine Theorie des Geschichtsunterrichts, keine Manifeste guter Meinung oder hübscher Vorstellungen. Sie haben die Pflicht des Realitätsbezuges. Sonst sind sie intellektuell unredlich, indem sie Wunschbilder gegen die Wirklichkeit ausspielen. Es muss die Frage nach der Stundenzahl erlaubt sein, die in diesem Fächerverbund für den historischen Arbeitsbereich zur Verfügung stehen soll. [/S. 47:] Solange, wie in NW, im Höchstfall insgesamt vier Wochenstunden in den Gesamtschulen, in Realschulen und Gymnasien eher weniger Stunden für das gesamte integrierte Fach Gesellschaftslehre angesetzt sind, wird allein aus pragmatischen Gründen über den didaktischen Ansatz und seine Ausführungen in Teil B nicht mehr zu reden sein - es sei denn, man habe gar nicht verstanden, was zur Erarbeitung der genannten Einsichten gehört. Die Materialhinweise in Teil B und die Ankündigung in der Vorbemerkung S. 5 lassen allerdings Schlimmes befürchten.

d. Der "Gegenwartsbezug"

Hier herrscht zunächst eine fröhliche Selbstgewissheit: Beschäftigung mit Geschichte kann sich nur legitimieren (vor wem? dem gesunden Gesellschaftsverstand?) "durch einen Nachweis [!] ihrer Beziehung zu den jeweils relevanten politisch-gesellschaftlichen Problemen" (H. S. 19). Wer aber entscheidet darüber, was relevant ist? Die Schülererwartung? Die wirkliche oder die, die er haben sollte? Wo ist hier der Bezug auf eine eindeutige Gesellschaftsanalyse, die es erlauben würde, auf diese Weise gesichert in die Geschichte zurückzufragen? Angesichts der wissenschaftstheoretischen Diskussion über "Relevanz" kann man hier von bloßem Gerede sprechen, ohne unhöflich zu werden (13). Es herrscht hier ein krasser und unreflektierter Neopositivismus. So geht's, wenn man die Tradition der Wissenschaft für sich nicht ernst nimmt und nur noch als Maßnahmen zur Interessensicherung begreifen kann - weder die sog. "bürgerliche" noch die "marxistische" mit ihren Spielarten, die weiß, dass gegenwärtige Veränderung nur zu erkennen und zu beurteilen ist durch eine Positionsbestimmung der Gegenwart im Gesamtfeld der Geschichte. So kann nicht überzeugen, wenn von "wechselseitiger Verschränkung von Gegenwart und Geschichte" gesprochen wird (H. S. 21): ist doch auch hier Geschichte nicht als Geschichte, sondern nur als Wirkung auf die Gegenwartsfragen gemeint.

Wäre man nun konsequent, müsste man einen präsentisti- [/S. 48:] schen Zugriff entwickeln. Aber sogleich schlägt der Gedankengang wieder Haken. Die Ausführungen S. 21 sind geeignet, den Leser vollends zu verwirren. Nachdem man liest, was der Gegenwartsbezug nicht heißen kann, nachdem eine unverständliche didaktische Aporie konstruiert, der chronologische Durchgang sowie der thematische Längsschnitt abgelehnt sind, kommt dann die Erklärung: "unmittelbar erfahrene Verhältnisse in ihren historischen Bedingungen" müssten "fassbar" werden (H. S. 23). Da sind denn nun wieder die Lernfelder als Gebiete gesellschaftlicher Erfahrung zur Hand und definieren den Gegenwartsbezug: Der Schüler "erfährt" Erziehung, Wirtschaft, öffentliche Aufgaben und zwischengesellschaftliche Beziehungen. In dieser Vierteilung ist die Geschichte zu befragen, das gibt Gegenwartsbezug (H. S. 28)!

Im Grunde ist hier nichts anderes gesagt, als dass der historische Ansatz struktur- und sozialgeschichtlich aufzufassen ist - nur, dass nun die Vierteilung in die Lernfelder die Zusammenhänge zerschneidet, die man doch herstellen möchte. Eine sektorielle Typologie von Gesellschaften ist eigentlich gemeint - und die Ausführungen in Teil B bestätigen das.

Dieser Art von "Gegenwartsbezug" liegt ein soziologisch-systematischer Zugriff auf die Geschichte zugrunde: eine Erscheinung, die durchaus ihre partielle Berechtigung auch in der Wissenschaftsentwicklung hat. Nur kommt in der konkreten Ausfüllung dieses Ansatzes gerade das Prozesshafte der geschichtlichen Welt zu kurz. Nirgends sind die bedeutenden Wandlungen von Gesellschaft ausdrücklich thematisiert und in ihrer Vielschichtigkeit zum Unterrichtsgegenstand geworden; vielmehr reiht sich statisch Bild an Bild - zwar Andersartigkeit, aber nicht eigentlich Veränderung zeigend. Es ist eigenartig, dass die bedeutenden Revolutionen nirgendwo in ihrem ganzen Umfang zum Thema werden - mit einer Ausnahme: der industriellen Revolution in England, die aber auch nur sektoriell behandelt werden soll.

Damit bleibt ein Zentralbegriff der Richtlinien dort unabgedeckt, wo er allein auszufüllen wäre, im historischen [/S. 49:] Bereich. Die Lernfelder erweisen sich als ungeeignet, geradezu als hemmende Begrenzungen für die Aufarbeitung historischer Erfahrung von Veränderung ebenso wie für die historische Erkenntnis von Strukturen. Akzeptabel als vorläufige heuristische Aspekte bei der Erschließung von gesellschaftlichen Zusammenhängen, werden sie als unterrichtsorganisierende Grenzen zum Hindernis von Erkenntnis.

Diese Hinweise mögen genügen, um die Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten des grundsätzlichen Ansatzes der Richtlinien zu zeigen. Man muss fragen, in welche der sich kreuzenden Richtungen sich die Praxis bewegen wird, welche Dynamik in diesem Knäuel von Setzungen liegt. Der Blick auf die Rahmenlehrpläne für die Gesamtschulen in NW, die diese Richtlinien ab- und fortschreiben, zeigt eine bereits realisierte negative Möglichkeit der Veränderung und Interpretation dieses Ansatzes.