Die "Integration" bislang selbständig unterrichteter Fächer, die hinsichtlich ihrer Methoden, Kategorien und Aussagen auf eine Fachwissenschaft rückbeziehbar blieben, in einen Gesamtlernbereich, der nunmehr von einer politisch-didaktischen Vorentscheidung her strukturiert wird, bezeichnet das Kernproblem dieser Richtlinien: die Frage, ob rationale, am Wissenschaftsstand kontrollierbare Lerninhalte und -methoden politische Vorentscheidungen differenzierter reflektierbar machen können oder nicht.

Der Ansatz ist eindeutig geprägt vom Primat einer politischen Zielvorstellung; Didaktik ist die Fortsetzung der Poli- [/S. 36:] tik mit pädagogischen Mitteln. Nun ist gegen die Beziehung der "Gesellschaftslehre" auf die "Gesellschaft", der Erziehung auf die Verfassung grundsätzlich nichts einzuwenden: der Zusammenhang beider gehört seit Aristoteles zur immer wieder formulierten politischen Grunderkenntnis (5). Aber entscheidend ist die Art, in der dieser Zusammenhang hergestellt wird. Man erkennt das Problem deutlicher, wenn man es - das kann hier nur andeutend geschehen - in seinen historischen Zusammenhang rückt.

Das didaktische Modell der direkten politischen Funktion der Erziehung, wie es in der Bundesrepublik wieder vorzudringen scheint, wird am deutlichsten in den Jakobinischen Erziehungsplänen der französischen Revolution. Das "Demokratiegebot" der neu geschaffenen Verfassung soll aus den Gesetzen in die Gemüter getragen werden, und zwar unmittelbar. Ziel aller Erziehung soll sein das "richtige" politische Verhalten und Handeln. Wissen und Einsicht bleiben dem normativ vorgesetzten Handeln untergeordnet, d. h. sind nicht Voraussetzung oder Kritik politischer Entscheidungen sondern deren Legitimation. Die "eigentümliche Wissenschaftsfeindlichkeit" (6) dieses didaktischen Modells ist Konsequenz des Misstrauens in die Freiheit - nicht nur des Individuums, sondern auch der kommenden Entwicklung; die eigene Doktrin darf daher nicht der freien und unberechenbaren wissenschaftlichen Untersuchung ausgesetzt werden, die Heranwachsenden müssen zur Gewissheit und Sicherheit ihres Tuns, nicht zur kritischen und zweifelnden Prüfung erzogen werden. "Der Staat will nicht, dass die Geister und Gemüter irre gehen; darum führt und leitet er sie, indem er sie mit seinen Lehren panzert. Der Mensch bedarf einer Kräftigung des Zusammengehörigkeitsgedankens, er bedarf einer Theorie, die ihm Ursprung und Beschaffenheit der Wesen erklärt, ihm seinen Platz und seine Rolle in der Welt anweist" (7).

Unverkennbar, dass in diesem Modell das ältere, religiös fundierte, dogmatische Sozialisationsprinzip säkularisiert wieder aufgenommen wurde. Deshalb eignete es sich auch nicht nur für den demokratischen Zentralismus jakobinischer Prägung, sondern gleichermaßen für konträre Inhalte: [/S. 37:] der napoleonische Cäsarismus konnte es ebenso übernehmen wie die deutsche Pädagogik der Restauration oder des nationalen Staates mit imperialistischer Sendungsidee; dass es heute unter den verschiedensten Etiketten kräftig weiterlebt, braucht nicht erst gezeigt zu werden.

Diesem Typus stand aber ebenfalls schon in der Französischen Revolution ein anderer gegenüber. Es gehört zum europäischen Demokratiebegriff - und das ist sein Widerstandspotential gegen den despotischen Demokratismus - nicht nur das Postulat der Gleichheit, sondern als Basis dieses Postulats der Begriff der Autonomie, der Mündigkeit, der Selbstverantwortlichkeit des Menschen, und zwar jedes einzelnen. Selbstbestimmung aber ist nur denkbar als eigene Tätigkeit; eigene Tätigkeit kann nur Folge eigener Entscheidung und also eigener Denkfähigkeit sein. Von diesem Ansatz her versteht sich ein Erziehungsmodell, das auf Entwicklung der Urteilsfähigkeit abzielt. Entwicklung der Urteilsfähigkeit aber ist nicht anders mehr möglich als durch Rückgriff auf wissenschaftliche Methoden des Denkens. So durchbricht dieses Modell den Kurzschluss zwischen Theorie und Praxis und baut wissenschaftliche Bildung als den Weg zur Selbstbefreiung des Menschen an zentraler Stelle in den Unterricht ein. Condorcets Erziehungsplan ist dafür das deutlichste Beispiel (8). Kant und Humboldt versuchten - vergeblich - diese Erziehungsvorstellung zu realisieren. Sie unterlagen der direkten politisch-pädagogischen Aktion der Restauration, so wie Condorcet den Jakobinern und diese wiederum dem imperialen Cäsarismus.

Dieses zweite Modell ist nun keineswegs unpolitisch. Aber es ist nur möglich in einer freien Demokratie - d. h. bei einer Gesellschaftsverfassung, die sich nicht auf ein geschlossenes System einer politischen Theorie stützen muss, sondern die es vermag, unterschiedlichen Positionen Spielraum zu geben - nicht notgedrungen, sondern als Quintessenz der Auffassung, dass nur Vielfalt und Selbsttätigkeit den Prozess der Humanisierung vorwärtstreiben können; eine Gesellschaftsverfassung, die sich selbst in Frage zu stellen bereit ist und gerade zu diesem Zweck der freien Wissenschaft bedarf; die es zulässt, geradezu verlangt, dass der zur [/S. 38:] Selbstbestimmung gebildete Mensch die Verfassung an sich prüft (9); eine Verfassung, die nur an einer Grenze politischer "Veränderung" Halt gebieten muss: dort, wo dieser Grundsatz der Selbstverantwortlichkeit, der Selbstbestimmung, der Freiheit der Prüfung und Kritik selbst zugunsten einer normativen politischen Dogmatik aufgehoben werden soll.

Diese hier extrem vereinfachten Positionen zeigen den Antagonismus aller Konzeptionen der öffentlichen Erziehung seit dem späten 18. Jahrhundert. Auf der breiten Skala der Zwischen- und Mischformen ordnet sich bewusst oder unbewusst jeder didaktische Ansatz ein.

Wo stehen die hessischen Richtlinien?

Grob gesagt: sie reflektieren diesen Antagonismus nicht und schwanken zwischen beiden Positionen im einzelnen hin und her, haben im ganzen aber eine deutliche Schlagseite zur "Überzeugungsdidaktik", der Verpflichtung aller auf ein vorinterpretiertes Gesellschaftsbild. Das zeigt sich schon im Ansatz der Aufgliederung: Von einer politischen Maxime, aus der das oberste Lernziel in seinen drei Dimensionen: Erkennen - Urteilen - Handeln (H. S. 9) mit ausgesprochener Priorität des Handelns gewonnen wird, gehen sie über zu einer Aufgliederung des Gesamtgebietes in "Lernfelder". Wenn man die etwas unklaren Ausführungen richtig versteht, strukturieren diese "Lernfelder" den Unterricht, indem sie als vorgebliche Sektoren der Gesellschaftserfahrung den Rahmen für die Einordnung von Lernsituationen geben. Denn die Wissenschaftssystematik ist als didaktisch ungeeignete Struktur deklariert. So hatte schon Eduard Spranger im Leiden an der modernen, wissenschaftsorientierten Welt seine "Heimatkunde" (10) gegen die Wissenschaftssystematik konzipiert als das "einheitliche, ungeteilte Ganze" (NW. S. IV). Aber das ist nur die eine Seite. Im politischen Ansatz der Rückbeziehung auf das Grundgesetz steckt ja notwendig das Prinzip der Selbstbestimmung, und man sieht es immer wieder an verschiedenen Stellen durchbrechen, aber rudimentär und nicht klar ausgewiesen (H. S. 7). Die Wissenschaftsfeindlichkeit des Ansatzes wird durchkreuzt von einer nicht näher reflektierten, selektiven Aus- [/S. 39:] geliefertheit an Wissenschaft. Die Lernfelder sind ja keineswegs Erfahrungszentren; sie sind im Grunde selbst Wissenschaftsdisziplinen, die das komplexe Erfahrungsfeld bereits abstrahieren: Sozialisationsforschung - Wirtschaftswissenschaften - und zwei Disziplinen der Politikwissenschaft: Innere Politik und Internationale Beziehungen. So stellt sich heraus, dass im Grunde unter dem Anspruch des Primats politischer Didaktik der Begründung entzogene und willkürlich aus dem Bewusstseinsstand der Verfasser zitierte Wissenschaftssegmente soziologischer und teilweise wirtschaftswissenschaftlicher und politikwissenschaftlicher Provenienz sich hervordrängen. Steckt hinter dem Zurückdrängen der "Fächer" und der ihnen zugeordneten Wissenschaften also nichts als ein neuer "Streit der Fakultäten"?

Die Verfasser meinen es wohl nicht so. Sie unterwerfen die wirkliche oder die verlangte Erfahrung einer Vierteilung, die als Erkenntniszusammenhang deklariert das neue Einheitsfach strukturiert. Erst innerhalb dieser Vierteilung werden dann jeweils die Wissenschaften - Sozialwissenschaften, Geschichtswissenschaft, Geographie - nach ihrem möglichen didaktischen Wert befragt, sie werden zu "Arbeitsbereichen" oder zu "Aspekten". Ob sie selbst lernzielbestimmend sein dürfen, wird im Hessenplan nicht ganz deutlich (H. S. 13); in NW wird es strikt abgelehnt, ganz im Sinne der unten zu zeigenden Tendenzverschiebung (NW. S. 11).

So anspruchsvoll also diese Richtlinien mit einem scheinbar ganz neuen Ansatz daherkommen - so hilflos verwirrt ist die Grundkonzeption.

Wie nimmt sich nun in diesem Rahmen der "didaktischen" Vorentscheidungen der "Arbeitsschwerpunkt Geschichte" aus?