[/S. 115:] Wer der Berufsorientierung in der Schule einen Stellenwert, möglicherweise sogar einen hohen Stellenwert im Berufsfindungsprozess von Mädchen beimisst, setzt sich leicht dem Verdacht aus, Mädchen und Frauen anzulasten, was tatsächlich der geschlechtlichen Arbeitsteilung, einem geschlechtshierarchisch segmentierten Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt sowie einem nach Geschlechtern selektierendem Berufsausbildungssystem geschuldet ist. Haben nicht empirische Untersuchungen längst belegt, dass Mädchen eine qualifizierte Berufsausbildung anstreben, eine schulische Berufsorientierung als "Motivationspropaganda" für Mädchen somit überflüssig ist? Sind es nicht die Zwänge des Arbeitsmarktes, die junge Frauen immer wieder in die schlechter bezahlten "typischen Frauenberufe" einmünden lassen. Und mussten wir uns nicht längst von der Illusion verabschieden, dass Frauen allein durch Bildungsanstrengungen gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt erreichen?
Mit diesen Fragen sind strukturelle Grenzen der Berufsorientierung in der Schule angedeutet. Die Benachteiligung von Frauen abzubauen, ihnen gleichberechtigte Teilnahme am Erwerbsleben, am gesellschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen, das ist nicht in erster Linie ein Bildungsproblem, sondern ein Problem der politischen Gestaltung dieser Gesellschaft. Das heißt, es geht um Quotierung, Frauenförderung und letztlich um die Umverteilung und Neubewertung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit, ohne die keine Aussicht auf ein neues, gleichwertiges Geschlechterverhältnis besteht. [/S. 116:]
Dennoch möchte ich im Folgenden weder auf diese Grenzen eingehen noch auf den begrenzten Stellenwert, den Bildung im Allgemeinen und für Frauen im Besonderen hat, wenn soziale und Geschlechterungleichheiten zu überwinden sind. Auch mit der Analyse der Situation von Mädchen und Frauen in Ausbildung und Beruf will ich mich hier nicht beschäftigen. Ich setze dies alles als bekannt voraus und gehe auch davon aus, dass mir nicht unterstellt wird, diese Grenzen und Bedingungen nicht zu sehen oder zu vernachlässigen.
Ich möchte vielmehr im Folgenden
- begründen, warum und in welcher Hinsicht ich der Berufsorientierung in der Schule - trotz der angedeuteten Einschränkungen - einen hohen Stellenwert im Berufsfindungsprozess der weiblichen Jugendlichen beimesse,
- theoretische, didaktische und organisatorische Defizite schulischer Berufsorientierung aufzeigen, wie sie einerseits aus dem Blickwinkel der Frauenforschung und andererseits aus der Zielsetzung einer kritischen Berufsorientierung und Handlungsfähigkeit sichtbar werden,
- Bezugspunkte eines didaktischen Konzepts schulischer Berufsorientierung (nicht nur) für Mädchen benennen und
- auf Probleme und Möglichkeiten zur Umsetzung eines solchen Konzeptes und zur Veränderung der schulischen Berufsorientierung in der Praxis eingehen.
Hintergrund meiner Ausführungen sind Überlegungen, Erfahrungen und Ergebnisse des Projekts "Mädchen und Berufsfindung", das ich von 1987-1991 zusammen mit wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Lehrerinnen und Lehrern aus Haupt-, Real- und Gesamtschulen am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Bielefeld durchgeführt habe.
Aufgaben dieses Projektes waren
- die empirische Untersuchung des Berufsfindungsprozesses von Mädchen, um daraus Anhaltspunkte für Inhalte, Ziele und [/S. 117:] Vorgehensweisen eines curricularen Konzepts zu gewinnen;
- die Entwicklung und Erprobung eines didaktischen Konzepts und curricularer Materialien für die schulische Berufsorientierung;
- die Durchführung von Lehrerinnen- und Lehrerfortbildungen.