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Lemmermöhle, Doris (2001): Berufsorientierung im schulischen Unterricht. Grenzen und Möglichkeiten zur Unterstützung von Mädchen im Berufsfindungsprozess.

In: Friese, M./ Lösch-Sieveking, G. (Hrsg.): Junge Frauen an der "ersten Schwelle". Diskrete Diskriminierung in der Schule und im Berufsfindungsprozess. Bremen 1993, S. 115 - 135.

[/S. 115:] Wer der Berufsorientierung in der Schule einen Stellenwert, möglicherweise sogar einen hohen Stellenwert im Berufsfindungsprozess von Mädchen beimisst, setzt sich leicht dem Verdacht aus, Mädchen und Frauen anzulasten, was tatsächlich der geschlechtlichen Arbeitsteilung, einem geschlechtshierarchisch segmentierten Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt sowie einem nach Geschlechtern selektierendem Berufsausbildungssystem geschuldet ist. Haben nicht empirische Untersuchungen längst belegt, dass Mädchen eine qualifizierte Berufsausbildung anstreben, eine schulische Berufsorientierung als "Motivationspropaganda" für Mädchen somit überflüssig ist? Sind es nicht die Zwänge des Arbeitsmarktes, die junge Frauen immer wieder in die schlechter bezahlten "typischen Frauenberufe" einmünden lassen. Und mussten wir uns nicht längst von der Illusion verabschieden, dass Frauen allein durch Bildungsanstrengungen gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt erreichen?

Mit diesen Fragen sind strukturelle Grenzen der Berufsorientierung in der Schule angedeutet. Die Benachteiligung von Frauen abzubauen, ihnen gleichberechtigte Teilnahme am Erwerbsleben, am gesellschaftlichen und politischen Leben zu ermöglichen, das ist nicht in erster Linie ein Bildungsproblem, sondern ein Problem der politischen Gestaltung dieser Gesellschaft. Das heißt, es geht um Quotierung, Frauenförderung und letztlich um die Umverteilung und Neubewertung aller gesellschaftlich notwendigen Arbeit, ohne die keine Aussicht auf ein neues, gleichwertiges Geschlechterverhältnis besteht. [/S. 116:]

Dennoch möchte ich im Folgenden weder auf diese Grenzen eingehen noch auf den begrenzten Stellenwert, den Bildung im Allgemeinen und für Frauen im Besonderen hat, wenn soziale und Geschlechterungleichheiten zu überwinden sind. Auch mit der Analyse der Situation von Mädchen und Frauen in Ausbildung und Beruf will ich mich hier nicht beschäftigen. Ich setze dies alles als bekannt voraus und gehe auch davon aus, dass mir nicht unterstellt wird, diese Grenzen und Bedingungen nicht zu sehen oder zu vernachlässigen.

Ich möchte vielmehr im Folgenden

  1. begründen, warum und in welcher Hinsicht ich der Berufsorientierung in der Schule - trotz der angedeuteten Einschränkungen - einen hohen Stellenwert im Berufsfindungsprozess der weiblichen Jugendlichen beimesse,
  2. theoretische, didaktische und organisatorische Defizite schulischer Berufsorientierung aufzeigen, wie sie einerseits aus dem Blickwinkel der Frauenforschung und andererseits aus der Zielsetzung einer kritischen Berufsorientierung und Handlungsfähigkeit sichtbar werden,
  3. Bezugspunkte eines didaktischen Konzepts schulischer Berufsorientierung (nicht nur) für Mädchen benennen und
  4. auf Probleme und Möglichkeiten zur Umsetzung eines solchen Konzeptes und zur Veränderung der schulischen Berufsorientierung in der Praxis eingehen.

Hintergrund meiner Ausführungen sind Überlegungen, Erfahrungen und Ergebnisse des Projekts "Mädchen und Berufsfindung", das ich von 1987-1991 zusammen mit wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Lehrerinnen und Lehrern aus Haupt-, Real- und Gesamtschulen am Zentrum für Lehrerbildung der Universität Bielefeld durchgeführt habe.

Aufgaben dieses Projektes waren

  • die empirische Untersuchung des Berufsfindungsprozesses von Mädchen, um daraus Anhaltspunkte für Inhalte, Ziele und [/S. 117:] Vorgehensweisen eines curricularen Konzepts zu gewinnen;
  • die Entwicklung und Erprobung eines didaktischen Konzepts und curricularer Materialien für die schulische Berufsorientierung;
  • die Durchführung von Lehrerinnen- und Lehrerfortbildungen.
 

1. Zur Begründung und Zielsetzung schulischer Berufsorientierung im Berufsfindungsprozess von Mädchen

sind, ist ein Prozess, der sowohl durch die widersprüchlichen Anforderungen, Möglichkeiten und Gefährdungen der Berufs- und Arbeitswelt bestimmt ist als auch dadurch, wie Jugendliche die vorgefundene Wirklichkeit wahrnehmen und interpretieren, sich ihr anpassen oder sie ihren Wünschen und Interessen entsprechend zu gestalten suchen. Vergleichen wir den Berufsfindungsprozess von weiblichen und männlichen Jugendlichen, so zeigt sich einerseits eine Angleichung der Geschlechter beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt auch in einer widersprüchlichen Situation. Einerseits führen längere Schul- und Berufsausbildungen, die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen, die tendenzielle Auflösung traditioneller Frauenbilder sowie Veränderungen "privater" Lebensformen zu einer stärkeren Individualisierung und Ausdifferenzierung weiblicher Lebensläufe. Andererseits aber grenzen die Geschlechterverhältnisse, die grundlegend sind für die Zuweisung von Ressourcen wie "Arbeit" und "Einkommen", noch immer die Möglichkeiten der Mädchen beim Übergang von der [/S. 118:] Schule in die Arbeitswelt ein, beeinträchtigen die Chancen der Frauen in Ausbildung und Beruf und lassen die subjektiven Orientierungen der weiblichen Jugendlichen nicht unberührt.

Zweifellos kann Schule auf die Arbeitswelt nicht direkt verändernd einwirken, wohl aber kann sie den Prozess der Berufsfindung begleiten, Erklärungen anbieten für die widersprüchliche Situation der weiblichen Jugendlichen, und sie kann vor allem den weiblichen Jugendlichen die Möglichkeit bieten, ihre Wahrnehmungen der (Arbeits-) Wirklichkeit zur Diskussion zu stellen, zu überprüfen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dass dies notwendig ist und warum trotz aller Einschränkungen der schulischen Berufsorientierung ein hoher Stellenwert beizumessen ist, möchte ich an einigen Interviewauszügen deutlich machen. Die Äußerungen der 13- bis 15jährigen Schülerinnen, die in der Schule in einem "Mädchenprojekt" mit von uns entwickelten Unterrichtsmaterialien arbeiteten, geben auch einen Hinweis darauf, was schulische Berufsorientierung leisten könnte oder sollte.

Zunächst Sonja auf die Frage nach Problemen und Schwierigkeiten weiblicher Auszubildender in männlich dominierten Berufen:

"Weil, wenn man so in einen Betrieb kommt, wo hauptsächlich Männer arbeiten, und dann als einzige Frau da ist, und dann wird schon, also so Blicke kriegt man dann schon mit, und dann wird auch über einen geredet, und das denkt man sich auch alles schon vorher."

Zum gleichen Thema Ilka, eine Hauptschülerin:

"Als Erstes musst du (..) zeigen, was du kannst, und vor allen Dingen musst du nicht nur einmal, sondern mehrere Male musst du beweisen, dass du gut bist, dass man dich genauso respektieren kann wie die Männer auch."

Beate, die ihren Berufswunsch Mechanikerin inzwischen aufgegeben hat: [/S. 119:]

"Ja, weil die Eltern so dagegen sind. Also, mein Vater, der sagt, ich soll so was machen, bloß nicht in ne Firma gehen, da, wo nur Männer sind und so z. B. mit Mechaniker. Ich weiß nicht, ich werkel da gern so rum. Ich nehm mein Radio auseinander oder so, meint er, ich soll das bloß sein lassen, ich kann, ich könnte das sowieso nicht."

Zu einem anderen Thema die Aussage von Dagmar:

"Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben. (...) Och, wenn es nach mir ginge, dann würde ich die ganze Zeit nur im Kindergarten arbeiten, also überhaupt nicht mehr aufhören ... aber das ist eben fast unmöglich."

Oder Tanja, die vehement den Wunsch nach Beruf und Familie vertritt:

"Wenn man also 'ne Arbeit hat, also den ganzen Tag, dann kann man auch kein Kind, keine Familie gründen, zumal wenn man Erfolg haben will auch in dem Beruf und nach oben streben möchte, da kann man sich dann keine Familie leisten. Ich mein, `n Ehemann klar, das kann man immer, aber so Kinder, das ist dann schon schwieriger, dann muss man für die Kinder da sein, das ist eben auch ein Problem ... Ich mein, wenn man Familie gründet, dann bleibt man eigentlich immer zu Hause, und dann hat man Gelegenheitsjobs und so halbtags, und das ist dann auch nicht das Wahre. Das lässt sich nicht ändern."

Und Angela auf die Frage, ob nicht auch der Partner die Kinderversorgung übernehmen könne:

"Wenn`s für mich schon schwer ist, allein zu Hause zu bleiben, dann wird`s dem Mann bestimmt auch genauso schwer sein. Das kann ich ja dann nicht verlangen, wenn ich arbeiten will, dass er zu Hause bleibt."

Und zum Schluss noch einmal Tanja auf die Frage, ob sich für sie durch das Mädchenprojekt etwas geändert hat: [/S. 120:]

"Durch das Mädchenprojekt, also da hat sich schon viel geändert. Früher hab ich immer gedacht: Ach, wenn du Kinder hast, hörst du auf zu arbeiten und du bleibst zu Hause. Und jetzt denke ich eben, och, du gehst auch arbeiten und lässt dich nicht unterdrücken. Das hat sich geändert."

Keine dieser Äußerungen ist repräsentativ, und das "Mädchenprojekt" hat keinen zusätzlichen Ausbildungsplatz geschaffen und auch die realen Bedingungen der Mädchen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt nicht verändert. Dennoch lassen sich "Erträge" dieser Form und Inhalte schulischer Berufsorientierung festhalten:

  • Das Projekt hat den Mädchen andere Interpretationsmöglichkeiten ihrer widersprüchlichen Situation zwischen Individualisierungsansprüchen und Anpassungszwängen angeboten,
  • es hat über die Analyse des historischen Entwicklungsprozesses der geschlechtlichen Arbeitsteilung gegen die von den Mädchen immer wieder vertretene Ansicht "Das lässt sich nicht ändern" die Gewordenheit und Veränderbarkeit der Geschlechterverhältnisse gesetzt,
  • es hat ihre Erfahrungen und ambivalenten Orientierungen ernst genommen und ihnen über Selbstbehauptungstrainings Verhaltensweisen vermittelt, um gegen "die Blicke, die frau so mitkriegt" etwas zu setzen, und
  • es hat sie nicht zuletzt ermutigt, ihren Anspruch auf Beruf und Familie, auf die Verwirklichung außerhalb der Erwerbsarbeit liegender Interessen offensiv zu vertreten und eine Veränderung der Organisation und Verteilung gesellschaftlicher Arbeit zu fordern.

In der Aufklärung über Strukturen und zentrale Entwicklungstendenzen der Arbeitswelt, in der Diskussion und Überprüfung der Interpretationen gesellschaftlicher Wirklichkeit, in der Unterstützung berechtigter Ansprüche, im Aufzeigen, Diskutieren und Erproben alternativer Handlungsmöglichkeiten jenseits der traditionellen [/S. 121:] weiblichen oder männlichen Verhaltensweisen und Erwerbsbiografien liegen m. E. die Aufgaben und die Möglichkeiten schulischer Berufsorientierung.

Wollen wir die weiblichen Jugendlichen weder an die vorherrschende geschlechtliche Arbeitsteilung und damit verbundene Erwartungen anpassen noch ihnen die männliche Erwerbsbiografie als neue Norm empfehlen, so muss es um die Entwicklung einer kritischen, d. h. einer auf die Veränderung einengender und diskriminierender Bedingungen gerichteten Handlungsfähigkeit gehen. Kritische Handlungsfähigkeit als Ziel schulischer Berufsorientierung, darunter verstehe ich die Motivation und Kompetenz der Mädchen,

  • eigene Erfahrungen und erworbene Orientierungen als vorläufige Interpretationen gesellschaftlicher Bedingungen auf befriedigendere Alternativen hin zu reflektieren;
  • die geschlechtliche Arbeitsteilung und die sie legitimierenden Ideologien und Geschlechtsstereotypen im Hinblick auf einengende und diskriminierende Handlungsbedingungen hin zu überprüfen;
  • Arbeitssituationen interessenbewusst, d. h. im Hinblick auf die Verringerung diskriminierender und inhumaner Restriktionen zu interpretieren und zu gestalten.

Einer solchen kritischen Handlungsfähigkeit stehen die vorherrschende Theorie und Praxis der Berufsorientierung in der Schule entgegen.

 

2. Theoretische, didaktische und organisatorische Defizite schulischer Berufsorientierung

Rein formal gilt auch in der schulischen Berufsorientierung Chancengleichheit. Berufswahlvorbereitung, Betriebserkundungen und Betriebspraktika gelten für Mädchen wie Jungen gleichermaßen. Und auch die alte Trennung in Hauswirtschaft für Mädchen und [/S. 122:] Technik für Jungen ist längst ein alter Hut. Ein etwas genauerer Blick aber zeigt sehr schnell, dass in der schulischen Berufsorientierung weder die mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung zusammenhängenden Widersprüche zur Sprache kommen, noch der Komplexität des weiblichen Berufsfindungsprozesses Rechnung getragen wird.

  1. Wie im Alltagsverständnis gilt auch für den berufsorientierenden Unterricht: Arbeit, das ist Erwerbsarbeit, berufsförmig organisierte, marktvermittelte Arbeit. Die andere, die nicht marktvermittelte, die unbezahlte, nach den Marktgesetzen "wertlose", für das Überleben der Menschheit aber notwendige Arbeit wird nicht thematisiert. Damit bleibt nicht nur ein wesentlicher Teil der von Frauen geleisteten Arbeit unberücksichtigt, sondern es werden auch die eigentlichen Ursachen für Widersprüche und Ambivalenzen im weiblichen Berufsfindungsprozess und für die ungleichen Situationen von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt nicht benannt: die hierarchischen Geschlechterverhältnisse und die geschlechtliche Arbeitsteilung.
  2. Schulische Berufsorientierung orientiert sich bisher einseitig an Erfahrungen und Perspektiven der männlichen Erwerbsbiografie und setzt diese als Norm. Dass es daneben auch eine andere "Normalität" gibt, die z. B. durch Berufsunterbrechungen, Teilzeitarbeit, Wiedereinstiegsprobleme und Versorgung von Kindern neben der Erwerbsarbeit - möglicherweise aber auch durch andere Interessen und Lebensentwürfe - gekennzeichnet ist, wird selten angesprochen. Dadurch bleiben die spezifischen Berufs- und Lebensperspektiven, Sichtweisen und Erfahrungen des weiblichen Geschlechts ausgeblendet.
  3. Seit einigen Jahren steht zwar in Schulbüchern und berufsorientierenden Materialien die Lohntabelle der Frauen neben der der Männer, wird darauf hingewiesen, dass Frauen auf wenige "frauenspezifische Berufe" konzentriert und häufiger erwerbslos sind als Männer. Damit aber wird lediglich eine schlechte [/S. 123:] Wirklichkeit registriert, nicht aber nach Ursachen und Erklärungszusammenhängen gefragt. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass Frauen selber schuld oder eben unzureichend qualifiziert seien, wenn sie in den "Frauenberufen", den unteren Lohngruppen und Positionen verbleiben.
  4. Ein wichtiger Bestandteil schulischer Berufsorientierung sind Betriebserkundungen und Betriebspraktika. Sie werden mit Mädchen und Jungen gleichermaßen und zunehmend in allen Schulformen durchgeführt. Vielfach erwarten Eltern, SchülerInnen und Lehrerinnen von Praxiserkundungen und mehr noch vom Betriebspraktikum, dass sich darüber Eignung und Neigung für einen Beruf feststellen lassen, dass die Wirklichkeit der Arbeitswelt unmittelbar erfahren und damit die Berufswahl auf eine rationalere Grundlage gestellt werden kann. An dieser SteIle kann nicht ausführlich darauf eingegangen werden, warum derartig hohe Erwartungen unrealistisch sind und welche didaktischen Probleme mit einem Betriebspraktikum verbunden sind; ich möchte nur kurz auf zwei Gefahren hinweisen, die ein unreflektierter Umgang mit Praxiskontakten mit sich bringt:

    Erstens auf die Gefahr der affirmativen Wirkung des Betriebspraktikums: Praktikantinnen und Praktikanten ordnen sich im Praktikum notwendigerweise in eine ihnen fremde und von ihnen nicht zu verändernde Situation ein. Der Ausbildungsplatzmangel der vergangenen Jahre verstärkte eine unreflektierte Anpassung an betrieblich vorgegebene Anforderungen. Zugleich wird der Betrieb als ein Ort wahrgenommen, der durch technisch-funktionale Erfordernisse geprägt ist und der sachgesetzlichen Notwendigkeiten folgt. PraktikantInnen können zwar beobachten, wie ein Betrieb organisiert ist, wo weibliche und männliche Arbeitskräfte eingesetzt, welche Anforderungen gestellt und welche technischen Mittel verwendet werden, aber sie können nicht ohne weiteres erkennen, warum das so ist, welche Entscheidungen dahinter stehen und wer diese [/S. 124:] Entscheidungen mit welchem Interesse getroffen hat. Wesentliche Merkmale der Arbeitssituationen, ihre Interessenbestimmtheit und die gesellschaftliche Überformung oder Veränderungstendenzen sind der bloßen "Anschauung grundsätzlich unzugänglich und können nur auf der Grundlage von Vergleich, Verallgemeinerung und theoretischen Überlegungen erschlossen werden" (Feldhoff u. a. 1985, S. 54).

    Ein zweites Problem liegt in der Gefahr falscher Schlussfolgerungen und falscher Verallgemeinerungen. Froh darüber, endlich einmal etwas anderes machen zu können als in der oft als kopflastig empfundenen Schularbeit, beurteilen die meisten SchülerInnen die Arbeit im Betriebspraktikum danach, in welchem Ausmaß sie praktisch tätig sein können und ob sie sozial, d. h. als Erwachsene anerkannt werden. Diese Kriterien sind für eine Beurteilung des Betriebspraktikums durchaus sinnvoll. Werden aber aus den positiven oder negativen Erfahrungen hinsichtlich dieser Kriterien Schlussfolgerungen für den Beruf gezogen, so handelt es sich um unzulässige und falsche Verallgemeinerungen. Was die PraktikantInnen kennen gelernt haben, sind Hilfstätigkeiten am Rande von Berufen, einfache Arbeiten, deren konstitutives Merkmal es gerade ist, dass sie keine berufliche Qualifizierung verlangen. Was aus der Perspektive des Praktikanten als soziale Anerkennung erfahren wird, sieht aus der Arbeitskraftperspektive möglicherweise ganz anders aus.
  5. Diese Gefahren und die bereits genannten didaktischen Defizite werden noch verschärft durch organisatorische Defizite: Schulunterricht ist, wie wir alle wissen, nach Fächern differenziert. Schon dadurch werden disziplinübergreifendes und problemorientiertes Arbeiten, wie es angesichts der Komplexität [/S. 125:] des weiblichen Berufsfindungsprozesses dringend notwendig wäre, weitgehend verhindert. Wenn Haus-/ Familienarbeit der Hauswirtschaft zugeordnet wird und Erwerbsarbeit der Wirtschaftslehre, wird dadurch gerade getrennt, was unmittelbar zusammengehört.

    Die Aufgabe der Berufsorientierung ist in den Bundesländern unterschiedlichen Fächern, zum Teil aber auch gar nicht fachlich zugeordnet. Dies macht sich insbesondere bei den Betriebspraktika bemerkbar. Da bereitet der in der Regel männliche Wirtschaftslehrer vor, da betreuen KlassenlehrerInnen das Praktikum, und da wertet die in der Regel weibliche Deutschlehrerin die Berichte nach Kriterien aus, die eben für Berichte gelten. Durch eine solche Organisation bleiben die falschen Schlussfolgerungen unbemerkt und das, was über eigene Arbeit, Beobachtungen und Fragen im Betriebspraktikum gelernt werden kann, ungeprüft.

Was ist diesen didaktischen und organisatorischen Defiziten entgegenzusetzen?

 

3. Konsequenzen für ein didaktisches Konzept oder: Möglichkeiten eines Perspektivenwechsels (2)

  1. Im Berufsfindungsprozess werden Mädchen nicht nur mit dem Wandel der Berufe, der Qualifikationsanforderungen und beruflichen Perspektiven konfrontiert, sondern auch mit geschlechtlicher Arbeitsteilung, mit einengenden Geschlechtsstereotypen sowie mit widersprüchlichen Verhaltensanforderungen. Gerade weil traditionelle Geschlechtsrollenbilder und sie tragende kollektive Normen [/S. 126:] an Bedeutung verlieren, gerade weil Frauen heute vielfältigere Möglichkeiten haben, ihr (Arbeits-)Leben zu gestalten, gerade weil Mädchen heute "Männerberufe" angeboten werden, ohne dass andererseits die geschlechtliche Arbeitsteilung in und außerhalb der Erwerbsarbeit generell in Frage steht, ist ein didaktisches Konzept notwendig, das sie darin unterstützt, die Chancen und Risiken ihrer (Berufs-)Entscheidungen zu sehen, um den eigenen Weg zwischen Anpassung und Widerstand zu finden.
  2. Die ungleichen Situationen von Mädchen und Jungen, von Frauen und Männern beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, von der Ausbildung in den Beruf lassen sich nur angemessen erklären, wenn die Geschlechterverhältnisse in den theoretischen Bezugsrahmen schulischer Berufsorientierung einbezogen werden. Die Geschlechterverhältnisse manifestieren sich zum einen in Arbeitsteilungen: Da sind die einen, das weibliche Geschlecht, vorrangig zuständig für den "privaten" Bereich, für die Reproduktion der Menschen, deren Bedürfnisse, Erziehung und Erhaltung, für all das, was nach den Marktgesetzen als "wert"los gilt und daher nicht bezahlt wird. Und da sind die anderen, das männliche Geschlecht, vorrangig zuständig für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, für Bereiche, die gesellschaftlich als zentral gelten, die Einkommen und Profit, Macht und Herrschaft versprechen.

    Die Geschlechterverhältnisse manifestieren sich auch in den sozialen Konstrukten, in Stereotypen, über die dem jeweiligen Geschlecht - unabhängig davon, was die Einzelnen jeweils wollen oder können - bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften zugeschrieben werden. Während z. B. technische Kompetenz immer noch - ungeprüft - als männlich gilt, scheint sie mit dem vorherrschenden Weiblichkeitsbild nur schwer vereinbar. Von den Geschlechterverhältnissen auszugehen heißt für die schulische Berufsorientierung konkret, dass die Schülerinnen und Schüler bei allen Problemen, die sie erforschen, die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter stellen, nach deren Positionen im [/S. 127:] öffentlichen und privaten Bereich, nach den Bildern von Frauen und Männern und den Ideologien, mit denen ungleiche Positionen legitimiert werden, nach weiblichen und männlichen Interessen, Handlungsbedingungen und Utopien. Über ein in dieser Weise problemorientieres Vorgehen könnte sichtbar werden, dass die Zuordnung nach Geschlecht nicht biologisch determiniert ist, sondern sozial konstruiert und deshalb veränderbar. So könnten die scheinbar natürlichen Zuweisungen - z. B. zu "Frauenberufen" und "Männerberufen", zu "Technikbedienerinnen" und "Technikgestaltern", zu "Hausarbeiterinnen" und "Erwerbsarbeitern" - als soziale Konstruktionen sichtbar werden, bei denen rationalisierungsbedingte und geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen ineinander greifen.
  3. Die gegenwärtige Organisation der Erwerbsarbeit einerseits und die für ein gleichberechtigtes Geschlechterverhältnis notwendigen Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeit andererseits können nur angemessen erkannt werden, wenn der berufsorientierende Unterricht seine einseitige Orientierung auf die Erwerbsarbeit aufgibt und von einem erweiterten Arbeitsbegriff ausgeht, der Haus-/ Familien- und Erwerbsarbeit als komplementäre und zugleich widersprüchliche Einheit erfasst. Bezogen auf die Berufsorientierung ließe sich zwar argumentieren, dass Arbeit, deren Kennzeichen gerade die nicht berufsförmige Organisation ist und für die keine Berufsausbildung gebraucht wird, in der schulischen Berufsorientierung keinen Platz hat. Gegen eine solche Argumentation sprechen jedoch mehrere Gründe:
    • Ohne die Reproduktion der Arbeitskraft wäre die Arbeit in der Produktion nicht möglich. Auch wenn in den modernen Industriegesellschaften die Arbeitssituationen in Produktion und Reproduktion räumlich getrennt und von ihrer Funktion, Formbestimmtheit und Struktur her unterschiedlich sind, so sind sie eng aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Reproduktion ist auf die Einkommen aus der Erwerbsarbeit angewiesen und umgekehrt die Arbeit in der Produktion auf die [/S. 128:] Erzeugung, Versorgung und Erziehung der Arbeitskräfte.
    • Die volle Konzentration auf die Erwerbsarbeit, wie sie in der männlichen Normalbiografie vorherrscht, die Anforderungen des gegenwärtigen Berufssystems, beruflicher Aufstieg und Karriere setzen die weitgehende Entlastung von Reproduktionsarbeit im privaten Bereich voraus. Umgekehrt wird die Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt über die ihnen zugewiesene Verantwortlichkeit für den privaten Bereich bestimmt und legitimiert. Die Arbeitssituationen von Frauen und Männern in der Erwerbsarbeit lassen sich ohne Kenntnis des zur Erwerbsarbeit komplementären Reproduktionsbereichs nicht angemessen erfassen.
    • Ein Verschweigen des zum Überleben der Menschen notwendigen Bereichs der Reproduktion unterstützt - im Gegensatz zu der Erkenntnis der Frauenbewegung "das Private ist politisch" - den Schein des Privaten und verdeckt, dass die Trennung beider Bereiche selbst Teil der Produktionsverhältnisse ist.

    Auch ohne aus der Sicht von Frauen zu argumentieren, zeigt sich, dass mit dem auf Erwerbsarbeit reduzierten Begriff von Arbeit auch berufliche Arbeitssituationen nicht angemessen erfasst werden.
    Ein Vergleich der Strukturen und Funktionen beider Bereiche im berufsorientierenden Unterricht kann Einsicht in die ungleiche Verteilung und Bewertung gesellschaftlich notwendiger Arbeit vermitteln und durch eine kritische Sichtweise der Belastungen und Entfaltungsmöglichkeiten des jeweils anderen Bereichs emanzipatorische Impulse setzen und Widerstandspotenziale wecken.
  4. Als veränderbar lassen sich die Geschlechterverhältnisse sowie die Verteilung und Bewertung gesellschaftlich notwendiger Arbeit erst durch die historische Analyse des Entwicklungsprozesses der geschlechtlichen Arbeitsteilung erkennen. Sie kann aufzeigen, dass die heute vorfindlichen Bedingungen kein natürliches oder zwangsläufiges Ergebnis historischer Gesetzmäßigkeiten sind, sondern Resultat von interessenbesetzten Entscheidungsprozessen, [/S. 129:] in denen auch Alternativen offen standen, gedacht und versucht wurden, sich aber in je spezifischen Machtkonstellationen nicht durchsetzen konnten. So kann z. B. durch die Geschichte der Erfindung der "modernen Hausfrau" die scheinbare Selbstverständlichkeit der Zuweisung der Haus- und Familienarbeit an Frauen in Frage gestellt und als Ausdruck ökonomischer und patriarchaler Interessen sichtbar werden. Ein Vergleich früherer und heutiger Lebensplanungen, Berufs- und Lebensverläufe von Frauen und Männern kann Einblick geben in Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und Differenzierungen zwischen den Geschlechtern und die Einsicht vermitteln, dass die Geschlechterverhältnisse prinzipiell gestaltbar sind.

Der in den Punkten 2, 3 und 4 benannte theoretische Bezugsrahmen betrifft die Berufsorientierung von Mädchen und Jungen gleichermaßen. Zugleich wird von diesem Erklärungszusammenhang her aber auch deutlich, dass über die vorherrschenden Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse Mädchen wie Jungen unterschiedliche Positionen in der Arbeits- und Lebenswelt zugewiesen werden, sie deshalb auch unterschiedliche Erfahrungen machen, die Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen, interpretieren und sich aneignen. Sie müssen deshalb auch Unterschiedliches lernen. Vor diesem Hintergrund kann auch, was ohne ein umfassendes Verständnis des Berufsfindungsprozesses als "natürlich", als traditionell und rollenspezifisch erscheint und oft abwertend als "typisch Mädchen" bezeichnet wird, angemessen interpretiert werden.

  1. Die widersprüchlichen Erfahrungen der Mädchen im Berufsfindungsprozess, ihre unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen ambivalenten Orientierungen auf Beruf und Familie dürfen nicht negiert, sondern müssen zum Ausgangspunkt schulischer Lernprozesse gemacht werden. In diesen widersprüchlichen Orientierungen liegen einerseits die Gefahr der Anpassung und der Zwang zum Kompromiss, wenn das Vorgefundene als unveränderbar, [/S. 130:] Widersprüche als individuell überwindbar wahrgenommen werden, Alternativen nicht sichtbar sind oder unrealisierbar erscheinen. Andererseits liegt darin aber auch die Chance, sich mit widersprüchlichen Anforderungen und eigenen Orientierungen kritisch auseinander zu setzen und dadurch neue Sichtweisen und eine erweiterte Handlungsfähigkeit zu gewinnen. (3)

Die genannten Bezugspunkte waren neben der Analyse der Orientierungsprobleme von Mädchen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt und ihrer Sichtweisen auf Arbeit, Beruf und den Zusammenhang von Beruf und Familie maßgeblich für die Auswahl der inhaltlichen Schwerpunkte und der Anlage der Themeneinheiten im Projekt "Mädchen und Berufsfindung".

Den aufgezeigten Gefahren des Betriebspraktikums versuchen wir dadurch zu begegnen, dass wir in Anlehnung an Feldhoff u. a. (1985) Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Betriebspraktika als didaktische Einheit konzipieren. Vorbereitung und Auswertung erfolgen in Projekttagen direkt vor bzw. nach der Praxisphase durch eine Lehrperson bzw. durch ein Team, das auch die Praktikantinnen in der Praxisphase betreut. Um inhaltlich die Überprüfung der Praxiserfahrungen zu gewährleisten, schlagen wir vor, nach folgendem Erkundungskonzept vorzugehen:

Erster Schritt: Problemwahrnehmung

Über Vorinformationen, Beispiele aus der Erfahrungswelt der SchülerInnen oder anhand von Fallbeispielen wird die Arbeitswelt bzw. ein Aspekt der Arbeitswelt als Problem bewusst (z. B. Frauen und Männer arbeiten in der Regel an unterschiedlichen Arbeitsplätzen). Was als Problem wahrgenommen wird, regt auch dazu an, Fragen nach den Ursachen zu stellen.

Zweiter Schritt: Formulierung von Vermutungen/ Annahmen [/S. 131:]

Die Schülerinnen äußern ihr Vorverständnis zum Problem, z. B. Vermutungen, warum Frauen und Männer an verschiedenen Arbeitsplätzen zu finden sind. Dadurch werden ihre Vorannahmen bzw. Vorurteile bewusst und überprüfbar. Diese aus dem Vorverständnis gewonnenen Annahmen können ergänzt werden durch allgemeine Informationen über den zu erkundenden Aspekt, die zu einer weiteren Annahmenbildung im Hinblick auf die Situation im Betrieb anregen, z. B. Informationen über die unterschiedlichen Berufsbildungen und Arbeitssituationen von Frauen und Männern.

Dritter Schritt: Umsetzung in Fragestellungen und Beobachtungsaufgaben:

Nicht alle Annahmen lassen sich im Betrieb durch Beobachtung überprüfen, nicht jede Frage ist geeignet, die Annahmen wirklich zu bestätigen oder zu widerlegen. Deshalb müssen SchülerInnen genau überlegen, was beobachtet werden kann, welche Fragen gestellt werden müssen und wem sie sinnvollerweise gestellt werden.

Vierter Schritt: Überprüfung der Annahmen

Die Annahmen selbst werden bei der Erkundung im Betrieb durch Beobachtung, Kommunikation vor allem auch mit älteren Arbeitnehmerlnnen, die auch Entwicklungen miterlebt haben, durch eigene Arbeit im Praktikum und durch Zusatzinformationen überprüft. Zugleich wirft die Erkundung bzw. die Mitarbeit im Praktikum neue Fragen und Probleme auf, die wieder Anlass zur Annahmenbildung sind.

Fünfter Schritt: Auswertung und Erarbeitung verallgemeinerbarer Erkenntnisse

Die über Erkundungen und Praktika gewonnenen Antworten werden diskutiert, mit den Ergebnissen anderer Erkundungen verglichen, mit empirischen Daten und Fakten konfrontiert und/ oder mit ExpertInnen besprochen. Auch damit lässt sich nicht "die Wahrheit" über die Arbeitswelt oder die "Wirklichkeit" von Berufen [/S. 132:] erkennen, wohl aber eine realistische Einschätzung gewinnen, an der anders lautende Informationen überprüft werden können.

Derartig vorbereitete und ausgewertete Erkundungen und Praktika garantieren zwar nicht, ermöglichen aber eine angemessene Einschätzung der Arbeitswelt und eine realistischere Berufsfindung.

 

4. Zu Erfreulichem und Unerfreulichem bei der Umsetzung in der Praxis

Wir haben im Projekt das didaktische Konzept und die Themeneinheiten nicht nur entwickelt, sondern auch in verschiedenen Schulformen erprobt. Trotz gleicher Vorbereitung und überwiegend gleicher Materialien verlief die Umsetzung in jeder Klasse anders. Je nach Lerngruppe und Lernsituation wurde gekürzt, erweitert, geändert, umgestellt. Was an einer Schule möglich war - die Durchführung von Projektwochen, die Arbeit in geschlechtshomogenen Gruppen, die Verlagerung von Unterricht in außerschulische Bildungsstätten -, war in anderen Schulen nur reduziert, in Dritten überhaupt nicht möglich. Während an einigen Schulen männliche Kollegen - angeregt durch das "Mädchenprojekt" - über antisexistische Jungenarbeit nachzudenken begannen, mussten sich an anderen Schulen die Lehrerinnen gegen Ausgrenzung ob der von ihnen eingebrachten provozierenden Perspektiven und Organisationsformen von Unterricht wehren.

Möglicherweise waren diese Schulen Ausnahmen. Wodurch die Unterstützung der Mädchen im Berufsfindungsprozess konkret begrenzt wurde, zeigte sich deutlich bei Schul- und Fachkonferenzen, bei Fortbildungen und in Gesprächen in einzelnen Klassen. [/S. 133:]

  1. Nicht nur im Forschungsschwerpunkt "Arbeit und Bildung" in Bremen (vgl. Alheit u. a., 1990) ist der um Haus-/ Familienarbeit erweiterte Arbeitsbegriff erheblich umstritten, sondern auch in der Schule. Was den Lehrerinnen aufgrund ihrer Erfahrungen unmittelbar einleuchtet, wird von der Mehrzahl der männlichen Kollegen abgewehrt, weil lange gehegte Theorie- und Traditionsbestände ins Wanken geraten und - beziehen wir die Handlungsdimension mit ein - nicht nur ein Umdenken, sondern ein "Umhandeln" gefordert wird. Da in der Regel der berufsorientierende Unterricht in der Hand der männlichen Kollegen liegt - sie vertreten mehrheitlich die Fächer Wirtschaftslehre, Politik und Technik -, wird es noch erheblicher Anstrengungen bedürfen, um den erweiterten Arbeitsbegriff in der Schule zu etablieren.
  2. Durch die Entspannung auf dem Ausbildungsstellenmarkt einerseits und die medienwirksame Werbung von Industrie und Handwerk um Mädchen in gewerblich-technischen Berufen andererseits entsteht auch bei vielen Lehrern und Lehrerinnen der Eindruck, die quantitativen Engpässe der 70er und 80er Jahre sowie geschlechtsspezifische Benachteiligungen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt gehörten der Vergangenheit an. Auch unter dem Deckmantel der Chancengleichheit bei einer koedukativen Erziehung erscheint ein die besonderen Probleme der weiblichen Jugendlichen berücksichtigendes Konzept überflüssig, wenn nicht gar rückschrittlich. Das eingeschränkte Berufsspektrum der Mädchen wird zwar durchaus registriert, aber auf ein Problem der Technikdistanz von Mädchen reduziert. Tatsächlich wird damit aber allenfalls eine Dimension angesprochen. Wie unsere empirische Untersuchung zeigt, ist für die Zurückhaltung der Mädchen gegenüber gewerblich-technischen Berufen mindestens ebenso entscheidend die Angst, alleine in einem männerdominierten Bereich zu arbeiten, die eigene die Geschlechtergrenzen überschreitende Leistungsfähigkeit [/S. 134:] immer wieder unter Beweis stellen zu müssen und sexuellen Belästigungen ausgesetzt zu sein. Technikkurse allein - so notwendig sie sind - verdecken diese Ängste und werden den Mädchen nicht gerecht.
  3. Die heute in den Schulen tätigen Lehrerinnen und Lehrer haben in der Regel ihr Examen vor 20 Jahren gemacht, d. h., weit bevor erste Frauenforschungslehrstühle an den Universitäten eingerichtet und frauen- bzw. geschlechtsspezifische Themen im Lehramtsstudium angeboten wurden. Nicht nur Lehrern, sondern auch Lehrerinnen sind frauenspezifische Sichtweisen fremd und nicht wenige auch der weiblichen Kollegen stehen ihnen ablehnend gegenüber.
  4. Auch bei den Schülerinnen stößt die Thematisierung ihrer Probleme nicht nur auf Gegenliebe. Ein nach Geschlechtern getrennter Unterricht weckt nicht nur bei den Mitschülern Protest, sondern es entsteht bei den Mädchen häufig der Eindruck, bei ihnen müssten Defizite ausgeglichen werden. Dagegen wehren sie sich zu Recht. In ihrer widersprüchlichen Situation zwischen Individualisierungsansprüchen und Anpassungszwängen setzen sie auf Chancengleichheit und darauf, Benachteiligungen durch individuelle Leistungen ausgleichen zu können und zu müssen. Unterricht, der strukturelle Bedingungen der Geschlechterungleichheit aufzeigt, stört dieses harmonisierende Verständnis.

Angesichts der hier aufgezeigten Probleme zeigt sich, dass die Entwicklung eines didaktischen Konzepts und thematischer Einheiten zur Berufsorientierung allenfalls ein Schritt auf dem Weg zu einer Veränderung des Unterrichts ist. Der Möglichkeit nach könnte Unterricht durchaus ein Ort kritischer weiblicher Selbstreflexion und Selbstbewusstwerdung sein (vgl. Rabe-Kleberg 1990) und die Schülerinnen bei ihrer Suche nach neuen, eigenen Wegen jenseits der traditionellen weiblichen oder männlichen Biografien [/S. 135:] unterstützen. Damit aber schulische Berufsorientierung zu diesem Ort wird, bedarf es vor allem organisatorischer Veränderungen und einer gezielten und systematischen Fort- und Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern.

 

Anmerkungen

1) Vgl. hierzu ausführlicher: Lemmermöhle-Thüsing, Doris (1990): "Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben, aber das ist fast unmöglich." Über die Notwendigkeit, die Geschlechterverhältnisse in der Schule zu thematisieren: das Beispiel Berufsorientierung. In Rabe-Kleberg, U. (Hg.): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft. Bielefeld 1990.

2) Vgl. hierzu ausführlicher: Lemmermöhle-Thüsing, Doris (1990): "Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben, aber das ist fast unmöglich." Über die Notwendigkeit, die Geschlechterverhältnisse in der Schule zu thematisieren: das Beispiel Berufsorientierung. In Rabe-Kleberg, U. (Hg.): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft. Bielefeld 1990.

3) Zu Ambivalenzen als kritisches Lernpotenzial siehe Becker-Schmidt/ Knapp 1987, S. 8 und 68 ff.

 

Literatur

Ahlheit, P./ Körber, K. / Rabe-Kleberg, U. (Hrsg.) (1990): Abschied von der Lohnarbeit? Diskussionsbeiträge zu einem erweiterten Arbeitsbegriff, Bremen.

Becker-Schmidt, R./ Knapp, G.-A. (1987): Geschlechtertrennung - Geschlechterdifferenz. Suchbewegungen sozialen Lernens, Bonn.

Feldhoff, J./ Otto, K. A. u. a. (1985): Projekt Betriebspraktikum. Berufsorientierung im Problemzusammenhang von Rationalisierung und Humanisierung der Arbeit, Düsseldorf.

Lemmermöhle-Thüsing, D. (1990): "Meine Zukunft? Naja, heiraten, Kinder haben und trotzdem berufstätig bleiben, aber das ist ja fast unmöglich." Über die Notwendigkeit, die Geschlechterverhältnisse in der Schule zu thematisieren: das Beispiel Berufsorientierung. In: Rabe-Kleberg, U. (Hrsg.): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft, Bielefeld.

Lemmermöhle-Thüsing, D. (1993): "Wir werden, was wir wollen". Schulische Berufsorientierung (nicht nur) für Mädchen. Schriftenreihe des Ministeriums für die Gleichstellung von Frau und Mann Nordrhein-Westfalen, 6 Bde., Düsseldorf.

Rabe-Kleberg, U. (Hrsg.) (1990): Besser gebildet und doch nicht gleich! Frauen und Bildung in der Arbeitsgesellschaft, Bielefeld.

 
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