- Im Berufsfindungsprozess werden Mädchen nicht nur mit dem Wandel der Berufe, der Qualifikationsanforderungen und beruflichen Perspektiven konfrontiert, sondern auch mit geschlechtlicher Arbeitsteilung, mit einengenden Geschlechtsstereotypen sowie mit widersprüchlichen Verhaltensanforderungen. Gerade weil traditionelle Geschlechtsrollenbilder und sie tragende kollektive Normen [/S. 126:] an Bedeutung verlieren, gerade weil Frauen heute vielfältigere Möglichkeiten haben, ihr (Arbeits-)Leben zu gestalten, gerade weil Mädchen heute "Männerberufe" angeboten werden, ohne dass andererseits die geschlechtliche Arbeitsteilung in und außerhalb der Erwerbsarbeit generell in Frage steht, ist ein didaktisches Konzept notwendig, das sie darin unterstützt, die Chancen und Risiken ihrer (Berufs-)Entscheidungen zu sehen, um den eigenen Weg zwischen Anpassung und Widerstand zu finden.
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Die ungleichen Situationen von Mädchen und Jungen, von Frauen und
Männern beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt, von
der Ausbildung in den Beruf lassen sich nur angemessen erklären,
wenn die Geschlechterverhältnisse in den theoretischen Bezugsrahmen
schulischer Berufsorientierung einbezogen werden. Die Geschlechterverhältnisse
manifestieren sich zum einen in Arbeitsteilungen: Da sind die einen, das
weibliche Geschlecht, vorrangig zuständig für den "privaten"
Bereich, für die Reproduktion der Menschen, deren Bedürfnisse,
Erziehung und Erhaltung, für all das, was nach den Marktgesetzen
als "wert"los gilt und daher nicht bezahlt wird. Und da sind
die anderen, das männliche Geschlecht, vorrangig zuständig für
die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, für Bereiche,
die gesellschaftlich als zentral gelten, die Einkommen und Profit, Macht
und Herrschaft versprechen.
Die Geschlechterverhältnisse manifestieren sich auch in den sozialen Konstrukten, in Stereotypen, über die dem jeweiligen Geschlecht - unabhängig davon, was die Einzelnen jeweils wollen oder können - bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften zugeschrieben werden. Während z. B. technische Kompetenz immer noch - ungeprüft - als männlich gilt, scheint sie mit dem vorherrschenden Weiblichkeitsbild nur schwer vereinbar. Von den Geschlechterverhältnissen auszugehen heißt für die schulische Berufsorientierung konkret, dass die Schülerinnen und Schüler bei allen Problemen, die sie erforschen, die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter stellen, nach deren Positionen im [/S. 127:] öffentlichen und privaten Bereich, nach den Bildern von Frauen und Männern und den Ideologien, mit denen ungleiche Positionen legitimiert werden, nach weiblichen und männlichen Interessen, Handlungsbedingungen und Utopien. Über ein in dieser Weise problemorientieres Vorgehen könnte sichtbar werden, dass die Zuordnung nach Geschlecht nicht biologisch determiniert ist, sondern sozial konstruiert und deshalb veränderbar. So könnten die scheinbar natürlichen Zuweisungen - z. B. zu "Frauenberufen" und "Männerberufen", zu "Technikbedienerinnen" und "Technikgestaltern", zu "Hausarbeiterinnen" und "Erwerbsarbeitern" - als soziale Konstruktionen sichtbar werden, bei denen rationalisierungsbedingte und geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen ineinander greifen. -
Die gegenwärtige Organisation der Erwerbsarbeit einerseits und
die für ein gleichberechtigtes Geschlechterverhältnis notwendigen
Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeit andererseits können
nur angemessen erkannt werden, wenn der berufsorientierende Unterricht
seine einseitige Orientierung auf die Erwerbsarbeit aufgibt und von einem
erweiterten Arbeitsbegriff ausgeht, der Haus-/ Familien- und
Erwerbsarbeit als komplementäre und zugleich widersprüchliche
Einheit erfasst. Bezogen auf die Berufsorientierung ließe sich zwar
argumentieren, dass Arbeit, deren Kennzeichen gerade die nicht berufsförmige
Organisation ist und für die keine Berufsausbildung gebraucht wird,
in der schulischen Berufsorientierung keinen Platz hat. Gegen eine solche
Argumentation sprechen jedoch mehrere Gründe:
- Ohne die Reproduktion der Arbeitskraft wäre die Arbeit in der Produktion nicht möglich. Auch wenn in den modernen Industriegesellschaften die Arbeitssituationen in Produktion und Reproduktion räumlich getrennt und von ihrer Funktion, Formbestimmtheit und Struktur her unterschiedlich sind, so sind sie eng aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Reproduktion ist auf die Einkommen aus der Erwerbsarbeit angewiesen und umgekehrt die Arbeit in der Produktion auf die [/S. 128:] Erzeugung, Versorgung und Erziehung der Arbeitskräfte.
- Die volle Konzentration auf die Erwerbsarbeit, wie sie in der männlichen Normalbiografie vorherrscht, die Anforderungen des gegenwärtigen Berufssystems, beruflicher Aufstieg und Karriere setzen die weitgehende Entlastung von Reproduktionsarbeit im privaten Bereich voraus. Umgekehrt wird die Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt über die ihnen zugewiesene Verantwortlichkeit für den privaten Bereich bestimmt und legitimiert. Die Arbeitssituationen von Frauen und Männern in der Erwerbsarbeit lassen sich ohne Kenntnis des zur Erwerbsarbeit komplementären Reproduktionsbereichs nicht angemessen erfassen.
- Ein Verschweigen des zum Überleben der Menschen notwendigen Bereichs der Reproduktion unterstützt - im Gegensatz zu der Erkenntnis der Frauenbewegung "das Private ist politisch" - den Schein des Privaten und verdeckt, dass die Trennung beider Bereiche selbst Teil der Produktionsverhältnisse ist.
Auch ohne aus der Sicht von Frauen zu argumentieren, zeigt sich, dass mit dem auf Erwerbsarbeit reduzierten Begriff von Arbeit auch berufliche Arbeitssituationen nicht angemessen erfasst werden.
Ein Vergleich der Strukturen und Funktionen beider Bereiche im berufsorientierenden Unterricht kann Einsicht in die ungleiche Verteilung und Bewertung gesellschaftlich notwendiger Arbeit vermitteln und durch eine kritische Sichtweise der Belastungen und Entfaltungsmöglichkeiten des jeweils anderen Bereichs emanzipatorische Impulse setzen und Widerstandspotenziale wecken. - Als veränderbar lassen sich die Geschlechterverhältnisse sowie die Verteilung und Bewertung gesellschaftlich notwendiger Arbeit erst durch die historische Analyse des Entwicklungsprozesses der geschlechtlichen Arbeitsteilung erkennen. Sie kann aufzeigen, dass die heute vorfindlichen Bedingungen kein natürliches oder zwangsläufiges Ergebnis historischer Gesetzmäßigkeiten sind, sondern Resultat von interessenbesetzten Entscheidungsprozessen, [/S. 129:] in denen auch Alternativen offen standen, gedacht und versucht wurden, sich aber in je spezifischen Machtkonstellationen nicht durchsetzen konnten. So kann z. B. durch die Geschichte der Erfindung der "modernen Hausfrau" die scheinbare Selbstverständlichkeit der Zuweisung der Haus- und Familienarbeit an Frauen in Frage gestellt und als Ausdruck ökonomischer und patriarchaler Interessen sichtbar werden. Ein Vergleich früherer und heutiger Lebensplanungen, Berufs- und Lebensverläufe von Frauen und Männern kann Einblick geben in Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und Differenzierungen zwischen den Geschlechtern und die Einsicht vermitteln, dass die Geschlechterverhältnisse prinzipiell gestaltbar sind.
Der in den Punkten 2, 3 und 4 benannte theoretische Bezugsrahmen betrifft die Berufsorientierung von Mädchen und Jungen gleichermaßen. Zugleich wird von diesem Erklärungszusammenhang her aber auch deutlich, dass über die vorherrschenden Geschlechterverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse Mädchen wie Jungen unterschiedliche Positionen in der Arbeits- und Lebenswelt zugewiesen werden, sie deshalb auch unterschiedliche Erfahrungen machen, die Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen, interpretieren und sich aneignen. Sie müssen deshalb auch Unterschiedliches lernen. Vor diesem Hintergrund kann auch, was ohne ein umfassendes Verständnis des Berufsfindungsprozesses als "natürlich", als traditionell und rollenspezifisch erscheint und oft abwertend als "typisch Mädchen" bezeichnet wird, angemessen interpretiert werden.
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Die widersprüchlichen Erfahrungen der Mädchen im Berufsfindungsprozess, ihre unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen ambivalenten Orientierungen auf Beruf und Familie dürfen nicht negiert, sondern müssen zum Ausgangspunkt schulischer Lernprozesse gemacht werden. In diesen widersprüchlichen Orientierungen liegen einerseits die Gefahr der Anpassung und der Zwang zum Kompromiss, wenn das Vorgefundene als unveränderbar, [/S. 130:] Widersprüche als individuell überwindbar wahrgenommen werden, Alternativen nicht sichtbar sind oder unrealisierbar erscheinen. Andererseits liegt darin aber auch die Chance, sich mit widersprüchlichen Anforderungen und eigenen Orientierungen kritisch auseinander zu setzen und dadurch neue Sichtweisen und eine erweiterte Handlungsfähigkeit zu gewinnen. (3)
Die genannten Bezugspunkte waren neben der Analyse der Orientierungsprobleme von Mädchen beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt und ihrer Sichtweisen auf Arbeit, Beruf und den Zusammenhang von Beruf und Familie maßgeblich für die Auswahl der inhaltlichen Schwerpunkte und der Anlage der Themeneinheiten im Projekt "Mädchen und Berufsfindung".
Den aufgezeigten Gefahren des Betriebspraktikums versuchen wir dadurch zu begegnen, dass wir in Anlehnung an Feldhoff u. a. (1985) Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Betriebspraktika als didaktische Einheit konzipieren. Vorbereitung und Auswertung erfolgen in Projekttagen direkt vor bzw. nach der Praxisphase durch eine Lehrperson bzw. durch ein Team, das auch die Praktikantinnen in der Praxisphase betreut. Um inhaltlich die Überprüfung der Praxiserfahrungen zu gewährleisten, schlagen wir vor, nach folgendem Erkundungskonzept vorzugehen:
Erster Schritt: Problemwahrnehmung
Über Vorinformationen, Beispiele aus der Erfahrungswelt der SchülerInnen oder anhand von Fallbeispielen wird die Arbeitswelt bzw. ein Aspekt der Arbeitswelt als Problem bewusst (z. B. Frauen und Männer arbeiten in der Regel an unterschiedlichen Arbeitsplätzen). Was als Problem wahrgenommen wird, regt auch dazu an, Fragen nach den Ursachen zu stellen.
Zweiter Schritt: Formulierung von Vermutungen/ Annahmen [/S. 131:]
Die Schülerinnen äußern ihr Vorverständnis zum Problem, z. B. Vermutungen, warum Frauen und Männer an verschiedenen Arbeitsplätzen zu finden sind. Dadurch werden ihre Vorannahmen bzw. Vorurteile bewusst und überprüfbar. Diese aus dem Vorverständnis gewonnenen Annahmen können ergänzt werden durch allgemeine Informationen über den zu erkundenden Aspekt, die zu einer weiteren Annahmenbildung im Hinblick auf die Situation im Betrieb anregen, z. B. Informationen über die unterschiedlichen Berufsbildungen und Arbeitssituationen von Frauen und Männern.
Dritter Schritt: Umsetzung in Fragestellungen und Beobachtungsaufgaben:
Nicht alle Annahmen lassen sich im Betrieb durch Beobachtung überprüfen, nicht jede Frage ist geeignet, die Annahmen wirklich zu bestätigen oder zu widerlegen. Deshalb müssen SchülerInnen genau überlegen, was beobachtet werden kann, welche Fragen gestellt werden müssen und wem sie sinnvollerweise gestellt werden.
Vierter Schritt: Überprüfung der Annahmen
Die Annahmen selbst werden bei der Erkundung im Betrieb durch Beobachtung, Kommunikation vor allem auch mit älteren Arbeitnehmerlnnen, die auch Entwicklungen miterlebt haben, durch eigene Arbeit im Praktikum und durch Zusatzinformationen überprüft. Zugleich wirft die Erkundung bzw. die Mitarbeit im Praktikum neue Fragen und Probleme auf, die wieder Anlass zur Annahmenbildung sind.
Fünfter Schritt: Auswertung und Erarbeitung verallgemeinerbarer Erkenntnisse
Die über Erkundungen und Praktika gewonnenen Antworten werden diskutiert, mit den Ergebnissen anderer Erkundungen verglichen, mit empirischen Daten und Fakten konfrontiert und/ oder mit ExpertInnen besprochen. Auch damit lässt sich nicht "die Wahrheit" über die Arbeitswelt oder die "Wirklichkeit" von Berufen [/S. 132:] erkennen, wohl aber eine realistische Einschätzung gewinnen, an der anders lautende Informationen überprüft werden können.
Derartig vorbereitete und ausgewertete Erkundungen und Praktika garantieren zwar nicht, ermöglichen aber eine angemessene Einschätzung der Arbeitswelt und eine realistischere Berufsfindung.