Die zweite Grundorientierung besteht darin, Personen und Handlungen die Prädikate "real" und "imaginär" zuzusprechen (Prentice 1978). Dass es Personen und Handlungen (in der Sprache) gibt, die erfunden (fiktiv) sind (Rotkäppchen, Asterix etc.), muss das Kind erst lernen. Vermutlich geht das Kind zuerst von der Existenz von (sprachlich verfügbar gemachten) Personen und Handlungen aus und lernt erst dann mühsam, Existenzvorbehalte zu machen. Wenn es schon mit Existenzvorbehalten umgehen kann, muss es sich öfter der Existenz von Personen und Sachverhalten fragend versichern. So einfach ist es mit historischen Personen nicht. Sie lassen sich nicht nach der Dimension "gibt es" und "gibt es nicht" differenzieren. Historische Ereignisse (Personen, Dinge, Sachverhalte) sind nicht "nicht-existierende", sondern nur gegenwärtig "nicht mehr" existierende Ereignisse.
Diese Ausdifferenzierung von gegenwärtigen, imaginären und historischen Personen und Ereignissen vollzieht sich im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung von Zeit in den Zeitdimensionen Vergangenheit und Gegenwart.
Lebensgeschichtlich muss die Nicht-Existenz imaginärer Personen (Weihnachtsmann, Rotkäppchen, Asterix, Eisenherz) gelernt werden. Es ist ganz sicher eine Fehlinterpretation, wenn man annimmt, die Unterscheidung von historischen und imaginären Personen wäre eine Denkleistung, die in der frühen Jugend abgeschlossen würde. Sicher ist dieser Aspekt des Geschichtsbewusstseins für die frühen lebensgeschichtlichen Phasen ein größeres Problem als für spätere. Es ist aber lediglich ein graduelles.
Eine Befragung bei Osnabrücker Studenten nach Personen wie Rasputin, Siegfried, Robin Hood, Romulus und Remus zeigte, dass die Imaginarität von Personen durchaus nicht eindeutig geklärt ist (5). (Beispiel: Prinz Eisenherz wurde von 11,1% der befragten Studenten als historisch, 73,5% als imaginär eingeordnet. 13,2% wussten sich nicht zu entscheiden.)
Aber auch bei historischen Situationen treffen wir die gleiche Problematik. Traum und Fiktion müssen vom Geschichtsbewusstsein einen Ort angewiesen bekommen. Das Geschichtsbewusstsein ordnet den imaginären Bestandteilen immer bestimmte (zeitliche und räumliche) Bereiche zu und nimmt ihnen dadurch zwar ihre Imaginarität, rückt sie aber gleichzeitig in räumliche und zeitliche Distanz: Das goldene Zeitalter wird in der Vergangenheit angesiedelt, die humanitär befriedete Welt in der Zukunft verortet. Die "gute alte Zeit" gab es in der vorindustriellen Periode, das Matriarchat als erste Vergesellschaftungsform wird in die Frühgeschichte verlegt. Das friedliche Miteinander ohne Normen und Zwänge findet sich in der Südsee, und die bäuerlich-kleinhandwerkliche Kommune ohne Arbeitsteilung geht auf das Land (bzw. nach Griechenland oder Kalifornien).
Das historische Denken ordnet seine Imaginationen, Träume und Utopien in den verschieden akzentuierten Zeitdimensionen an. Dem Geschichtsbewusstsein fällt somit die Funktion zu, unsere Wunschträume in der Zeit zu verorten (6).
Wirklichkeitsbewusstsein ist jener Aspekt von Geschichtsbewusstsein, der die Grenze zwischen real und fiktiv zieht. Das bedeutet zunächst nur, dass eine solche Grenze im Bewusstsein gezogen wird, noch nicht, wo sie gezogen wird. In den verschiedenen Kulturen erfolgt die Grenzziehung unterschiedlich. Aber dass solche Grenzen gezogen werden, ist die Voraussetzung für Geschichtsbewusstsein und gleichzeitig ein strukturierendes Strukturmoment selbst. Die jeweils konkret individuellen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein, die als Bedingung ihrer Existenz diese Grenze gezogen haben, weisen Personen und Ereignissen ihren Platz diesseits und jenseits dieser Grenze zu: das jeweils konkret individuelle Geschichtsbewusstsein nimmt eine exakte Einordnung in einen dieser beiden Bereiche vor. Die Grenzziehung ist im individuellen Bewusstsein scharf und bewusst. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist diese Grenze keineswegs eindeutig gezogen. Davon zeugen die verschiedenen Mythen: Barbarossa, Friedrich der Große, Dolchstoßlegende, Hitlers "Wunder"-Waffen, "Stunde Null" etc.
Wollte man annehmen, dass die individuellen Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein nur diesseits der Grenze real-historisch ausgebildet seien, würde Geschichtsbewusstsein auf eine rein rationalistische Form festgelegt werden. Mythen, Legenden, Affabulationen würden als nicht zum Geschichtsbewusstsein gehörig betrachtet werden. Dass aber solche Mythen zum Geschichtsbewusstsein gehören, wissen wir aus der alltäglichen Erfahrung und kennen auch die ideologischen Bindewirkungen kollektiver Mythen. Aus dieser Tatsache resultiert eine wichtige Funktion von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik: historische Legenden und Mythen aufzulösen und das Wirklichkeitsbewusstsein zu schärfen.