In diesem Kapitel wollen wir gewissermaßen die Schülerperspektive rekonstruieren. Gesellschaftsanalysen und die Ausstattung von Schulgebäuden können - wie wir im vorangegangenen Kapitel zu zeigen versuchten - durchaus Stringenz aufweisen; mit den Neigungen der Jugendlichen müssen sie nicht kompatibel sein. Die Einstellung der Schüler zur Schule wird gewiß durch das Elternhaus geprägt und zwar in der bekannten Bandbreite von Desinteresse über stereotype Leistungsappelle bis hin zu einer Bildungsbesorgnis, oft gepaart mit Schulkritik. Glaubt man den Klagen vieler Lehrer, dann sind Eltern, die eine uneigennützige und tatkräftige Anteilnahme am Schulleben praktizieren, selten geworden. Die Facetten dieser Konditionierung durch das Elternhaus interessieren uns hier weniger. Wir glauben aber, so etwas wie zeitgenössische Trends auszumachen, die kurz beschrieben werden sollen. In den Anfängen der allgemeinen Schulpflicht muß von der Schule eine Faszination schon deshalb ausgegangen sein, weil Bücher, Schaubilder, selbst gefertigte Texte im Heft usw. keineswegs zur Alltagskultur, zumindest der unteren Schichten gehörten. Diese war bestimmt durch Mithilfe der Kinder und Jugendlichen im bäuerlichen oder gewerblichen Betrieb, durch Handreichungen in der Hausarbeit. Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich dieses Verhältnis allmählich umgedreht. Die Alltagskultur ist heute "ikonisiert": Fernsehen, Videos, Druckerzeugnisse, Computersimulationen usw. beherrschen weite Teile des Erlebens in der außerschulischen Realität. Parallel dazu schwanden fast alle Möglichkeiten der Kinder, die materielle Kultur zu gestalten. Dies gilt für die Erwerbssphäre generell, für die reduzierte Hausarbeit in weiten Teilen. In der Schule wird diese mediale Repräsentanz der Wirklichkeit dupliziert, ohne daß in nennenswertem Umfange Gelegenheiten für unmittelbare Erfahrungen geschaffen würden. Es ist wohl trivial zu nennen, wenn man an das Bedürfnis der Jugendlichen erinnert, Kopf und Hand zu betätigen.

In einem programmatischen Referat hat der persönliche Berater der Berliner Schulsenatorin, TOM STRYCK, die Vokabel "Lebenswelt" (lebensweltlich) mindestens fünfmal gebraucht, ohne einen Erklärungsversuch für nötig zu erachten. (STRYCK 1996). Soviel wird deutlich: es gibt nach STRYCK außerhalb der Schule eine Lebenswelt, und eine Reformentwicklung der Schule ist auch daran meßbar, daß sie "lebensweltlicher" wird. Die Lebenswelt ist als Singular eigentlich überraschend, denn der Homo sociologicus wird zumeist als ein in verschiedenen Lebenswelten agierender beschrieben, als Rollenträger.

Unsere Schüler bewegen sich zumindest in zwei Lebenswelten: einer familiären und einer schulischen. Daß die Halbtagsschule (von den Ganztagsschulen sehen wir wegen ihrer Marginalität in Deutschland einmal ab) das Schülerleben in folgenreicher Weise beeinflußt, wird niemand bestreiten, schon gar nicht die Schüler selbst. Die nichtschulische Lebenswelt gibt es Gott sei Dank auch noch, es ist nur nicht einzusehen, daß sie die eigentliche sein soll, der die Schule nahezukommen habe.

Als Ende des vorigen Jahrhunderts die Institutionalisierung der Schule im großen und ganzen abgeschlossen war, was einer noch immer anhaltenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft entsprach, wurde die Hybris bald jedermann deutlich: Die Zahl der Analphabeten nahm ab, der allgemeine Bildungsstand wuchs. Die Jugendlichen aber wurden oft erst jenseits der Schule mit einer nicht immer freundlichen Wirklichkeit konfrontiert, was sich in nicht wenigen Fällen krisenhaft auszuwirken begann. Schlagwörter wie "pädagogische Provinz", "Elfenbeinturm Schule" usw. deuten das Dilemma an. [/S. 234:]

Wie sooft hilft es wenig, von einer Realitätsschwäche der Schule schlechthin zu sprechen. Wieder muß der Blick auf die Verfächerung der Schule gerichtet werden. Und hier erkennen wir dreierlei: Es gibt Schulfächer, denen gebricht es überhaupt nicht an Lebensweltnähe, ein klassisches Beispiel ist der Sportunterricht. Schulsport ist weder lebensfern noch lebensnah, er ist Schulsport sui generis. Zweitens gibt es Schulfächer, bei denen könnte man sich eine Annäherung an das Leben gut vorstellen. Der Biologieunterricht sollte öfter in der Natur stattfinden und der Englischunterricht öfter zusammen mit Engländern. Und drittens gibt es Fächer, die fehlen in der Schule, durch sie würde die Schule zwangsweise lebensnäher. Ein solches Fach ist Arbeitslehre. (Wenn wir "fehlen" sagen, dann beziehen wir uns auf die Gymnasien und auf die vielen Real- und Gesamtschüler, die - aus welchen Gründen auch immer - Arbeitslehre abwählen.)

Die öffentlichkeitswirksame Forderung nach mehr Nähe zur Lebenswelt der Schüler muß die Schule ziemlich ratlos machen, denn welche Lebenswelt ist gemeint? Es gibt so viele Lebenswelten, wie es Schüler gibt. Und selbst ein verhältnismäßig homogenes Mileu des Stadtteils, der Region darf nicht umstandslos als Lebenswelt deklariert werden.

Die Zunahme der Migrantenkinder, die in einigen Schulen Berlins längst keine Minderheit mehr darstellen, rechtfertigt den Begriff der multikulturellen Gesellschaft.

Der französische Philosoph ALAIN FINKIELKRAUT hat in seinem Buch "Die Niederlage des Denkens" auf einen Umstand hingewiesen, der in unserem Zusammenhang erinnert werden soll. Nach seiner Auffassung ist die Aufklärung nicht nur an ihre Grenzen gestoßen, sie hat den Zenith erreicht, von dem aus es nur noch Abstieg gibt. Die einstmals angestrebte universelle Vernunft, die Weltgeltung des Rechts, ein Toleranzgebot ohne Wenn und Aber, diese Fundamente der Aufklärung wurden vom Kulturbegriff ausgehöhlt. Jede Kultur machte im Namen der Aufklärung geltend, daß sie in ihrem Sosein respektiert werden wolle. Kulturen, die den Artenschutz ignorieren, und bestimmte Tierarten ausrotten, Kulturen, die den Frauen Rechte vorenthalten, Kulturen, die Minderheiten verfolgen, sie alle berufen sich auf Toleranz, Nichteinmischung usw. Die Kultur wird als etwas langsam Gewachsenes, als "beseelt" begriffen. Dem Kulturbegriff nahestehend ist der aus der Romantik überkommene Begriff der "Volksseele".

FINKIELKRAUT ironisiert die Position der Gegenaufklärung:

" Und dann kamen die Philosophen der Aufklärung: Unter dem Vorwand, dieselbe zu verbreiten, haben diese Denker dem kostbaren Erbe der Vorurteile hart zugesetzt. Anstatt sie in Ehren zu halten, sollten sie zerstört werden. Aber damit waren sie nicht zufrieden: nachdem sie selbst sich ihrer entledigt hatten, sollte das Volk es ihnen nachtun. ....'habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen' ohne die Hilfe des Beichtvaters oder die Stütze der Binsenwahrheiten. Resultat: sie haben die Menschen aus ihrer Kultur gerissen in eben dem Augenblick, als sie sich rühmten, sie zu kultivieren; sie haben die Geschichte davongejagt in der Annahme, den Aberglauben oder den Irrtum zu bannen; überzeugt, die Gemüter zu emanzipieren, ist es ihnen nur gelungen, sie zu entwurzeln. Diese Verleumder des Gemeinplatzes haben den Verstand nicht von seinen Ketten befreit, sie haben ihn von seinen Quellen abgeschnitten. Der einzelne, der durch sie aus seiner Unmündigkeit heraustreten sollte, hat in Wirklichkeit sein Innerstes entleert."

(FINKIELKRAUT, 1989, S. 30)

Fundamentalisten in Amerika, in der islamischen Welt, in Bayern (Kruzifixurteil) und in den Elternhäusern von türkischen Schülern mitten in Berlin müßten eigentlich in der Schule eine Bedrohung sehen. In vielen Fällen sehen sie diese auch, denn ihr dogmatisch-intolerante Weltsicht wird durch das Wirken der Schule gefährdet. Die Schule wird sich also auch gegen die Lebenswelt der Schüler stellen müssen und die Forderung nach einer "lebensweltlichen" Schule wird fragwürdig. [/S. 235:]

Die Schule im modernen Sinne ist von der Aufklärung ins Leben gerufen worden und stirbt heute an deren Infragestellung. Ein Abgrund hat sich aufgetan zwischen der allgemeinen Moral und jenem Ort, an dem die seltsame Idee vorherrscht, daß es keine Selbständigkeit ohne Denken und kein Denken ohne Arbeit an sich selbst gibt. ....Das Mißverständnis, daß diese Institution (die Schule, Anm. G.R.) von ihren Benutzern trennt, wird also immer größer: die Schule ist modern, die Schüler sind postmodern; die eine hat zum Ziel, den Geist zu bilden, die anderen begegnen ihr mit der sprunghaften Aufmerksamkeit des jungen Fernsehzuschauers;.....Wie kann man diesen Gegensatz auflösen? 'Indem man die Schule postmodernisiert', behaupten Verwalter wie Reformatoren. Letztere suchen nach Wegen, die Ausbildung dem Konsum anzugleichen......Die Verwalter sind besonnener und empfehlen die verstärkte Aufstellung von Computern in den Klassenzimmern.....Dabei ist es kaum von Bedeutung, daß die solchermaßen im Spiel mit der Maschine entwickelte Intelligenz eine Manipulation und kein Denken ist: zwischen einem immer leistungsfähigeren Know-how und einem immer reichhaltigeren Konsum gibt es für die Form der Urteilskraft, die nötig ist, um die Welt zu verstehen, keine Verwendung. Ja, wie wir gesehen haben, gibt es dafür nicht einmal mehr einen Ausdruck, da das Wort Kultur anderweitig mit Beschlag belegt ist."

(FINKIELKRAUT, a.a.O. S. 132 f)

Wir verlassen die kulturphilosophische Betrachtungsebene, die u. E. zu Unrecht in den Intoleranzverdacht geriet, die aber durch Radikalisierung des "Unversöhnlichen" zum Nachdenken anhält. Schule darf eben oft genug nicht lebensweltfixiert sein, sondern ist auch zur mühsamen Überwindung eben dieser Lebenswelt aufgerufen.

Im folgenden skizzieren wir kurz neuere Ergebnisse der Ungleichheitsforschung und deren Bedeutung für die Bildungssoziologie. Die Bildungssoziologie arbeitet immer noch mit mehr oder weniger verfeinerten Schichtenmodellen, und kommt dann zu Aussagen über die Reproduktion von Ungleichheit (Eltern hatten keinen Hauptschulabschluß, die Kinder ebenfalls nicht) oder es werden schichtüberwindende Mobilitätsraten ermittelt. Entscheidend ist, daß die Schichtzugehörigkeit des Schülers fast ausschließlich auf einem Merkmal beruht: auf dem Beruf des Familenvorstandes. Dieses monokausale Theoriekonstrukt erklärt das komplizierte Phänomen Schulerfolg nur sehr unbefriedigend. (WEISHAUPT u.a. 1988, STEINKAMP 1991, BÖTTCHER 1991)

Im Anschluß an neuere Arbeiten von LÜDERS gehen wir deshalb auf die Bedeutung von Lebensstilen und Milieus ein, deren Erklärungswert für Schulerfolg allem Anschein nach wesentlich höher zu veranschlagen ist, als grobe vertikale Stratifikationsmodelle. Den Bedeutungsverlust von Klassen- und Schichtzugehörigkeit hatte U.BECK schon 1983 vorausgesagt. Zu der sozialstrukturellen Differenzierung einer Gesellschaft ist die sozialkulturelle getreten, die das Bild um vieles detaillierter macht. (LÜDERS 1997) Im politischen System ließ sich lange Zeit eine Korrelation zwischen Links- und Rechts-Wählern einerseits und Schichtzugehörigkeit andererseits nachweisen. Mit dem Aufkommen der kleinen Parteien, namentlich der Grünen und neuerdings der PDS ist diese Typik stark ins Wanken geraten. Im ökonomischen System hat die Marketingforschung einen lange Zeit vorausgesetzten Zusammenhang zwischen Konsumgewohnheiten und Schicht verabschieden müssen. Die Ungleichheitsforschung hatte sich traditionell an der Verteilung von Geld, Prestige und Macht orientiert. Sie muß heute eine Vielzahl weiterer Indikatoren einführen, dazu gehören, Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Freizeitchancen usw.

Zum Begiff des Lebensstils bemerkt LÜDERS:

"Im einzelnen gehen Daten über Bildung, Beruf, Einkommen Wohnregion, Wohnverhältnisse, Lebensziele, Wertvorstellungen, Arbeitsmoral, Freizeitverhalten, Familiensinn, Konsumverhalten, Modeorientierung und Einstellungen zu Technik, Fortschritt, Religiosität, Staat und Politik in die Lebensstiltypologie ein."

(LÜDERS, a.a.O., S.307) [/S. 236:]

Auf der Basis dieser siebzehn Bestimmungsmerkmale lassen sich Anzeichen für eine beträchtliche horizontale Differenzierung der Gesellschaft feststellen. Die weitergehende These im Anschluß an BECK 1986 und INGLEHART 1989, daß damit die Ablösung der Klassen und Schichten eingeleitet und eine nicht aufzuhaltende Individualisierung der Gesellschaft programmiert sei, lassen wir auf sich beruhen. Für das Bildungswesen bedeutet aber das Vorhandensein wesentlich verfeinerter empirischer Methoden auch die Möglichkeit, Lebensstile von Schülern oder - wenn man so will - "Lebenswelten" diskutierbar zu machen. Diese Lebensstile können im Sinne von Erziehungszielen anknüpfenswert sein, sie können sich aber auch als hemmend und therapiebedürftig erweisen.

Der Zusammenhang zwischen Lebensstilgruppierungen und sozialen Milieus auf der einen Seite und dem dreigliedrigen Schulsystem auf der anderen ist heute noch überschattet von der Determinationskraft der Schultypen, mit der Hauptschule am unteren und dem Gymnasium am oberen Ende der Hierarchie. Diese "Drei-Klassen-Schule" ist eigentlich viel zu grob gestrickt, um der feineren sozialen Differenzierung gerecht zu werden.

"Bereits jetzt bestehen erhebliche regionale Differenzen sowohl hinsichtlich der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung als auch hinsichtlich der Schulversorgung und der Qualität der Schulen. Es ist absehbar, daß sich die Schullandschaft weiter differenzieren wird, wenn entweder die Einzelschulen beginnen, sich verstärkt auf die regionalen Gegebenheiten, insbesondere die ortsansässigen sozialen Milieus, einzustellen, oder umgekehrt bestimmte soziale Milieus mit bildungspolitisch überdurchschnittlich engagierten Mitgliedern die Initiative ergreifen, um auf die Einzelschulentwicklung einzuwirken."

(LÜDERS, a.a.O. S. 318)

Das Dilemma der Schule besteht darin, daß sie auf der einen Seite aufklärungsfeindliche soziale Milieus zu berücksichtigen hat, aber auch mit einem Elterntyp rechnen muß, dem keineswegs fundamentalistische Züge anhaften, dem vielmehr ein Selbstverwirklichungswunsch für seine Kinder am Herzen liegt. Beides ist mit dem Aufklärungsgebot von Freiheit und Brüderlichkeit nicht immer vereinbar.

Wir hatten gesehen, daß FINKIELKRAUT die Auseinandersetzung zwischen Universalismus und Provinzialismus, zwischen Aufklärung und Aberglaube zum Nachteil der Schule sich entwickeln sieht. Die Lebenswelt wird zum Synonym für die Herrschaft des Vorurteils, die Schule zum Ort, an dem die Urteilskraft allein aus dem voraussetzungslosen Denken entsteht.

Der Lebensstil- und Milieuforschung liegt es fern zu dichotomisieren. Sie will das Grobraster der Schichtmodelle durch eine realitätsangemessene Beschreibung der Herkunftsfamilien der Schüler ablösen, um besser verstehen und (kompensatorisch) erziehen zu können.

Zur Abrundung unserer Betrachtungen der Lebenswelt wenden wir uns jenem Denker zu, der den Begriff erstmals geprägt hatte. EDMUND HUSSERL benutzte ihn nachweislich zum ersten Mal 1924 in seiner Kant-Festrede. Der Doppelbegriff hatte von Anfang an die Schwierigkeit, daß "Welt" die Totalität aller möglichen Erfahrungen ist. "Leben" aber etwas sehr Begrenztes. Schon daraus folgt, daß das einzelne Leben, weil ihm die Totalität der Erfahrungen niemals zugänglich ist, auch auf der Basis bloßen Meinens geführt werden muß. Im modernen Jargon würden wir sagen: der Mensch ist gezwungen, unter den Bedingungen unvollständiger Information zu handeln.

In der Phänomenologie HUSSERLs spielt Skepsis gegenüber der Wissenschaft eine zentrale Rolle. Aller Wissenschaft voraus liegt das Vor-Urteil, die Doxa: Jenes Meinen, über das der [/S. 237:] Mensch immer schon verfügt, bevor analytische Kategorien und theoriegeleitetes Denken zum Zuge kommen. Eine vorprädikative Logik ermöglicht Handlungen und sei es nur als Entscheidung zwischen Handeln und Nichthandeln. Die Prädikate einer elaborierten Logik, die da heißen: wahr und unwahr, gut und böse, schön und häßlich haben das Vor-Urteil nicht aus der Welt geschafft, ja, sie gründen auf ihm. (HUSSERL, Werke IX 1925)

In seiner berühmten Abhandlung über "Lebenszeit und Weltzeit" hat sich HANS BLUMENBERG unter der Überschrift "Das Lebenswelt-Mißverständnis" mit dem HUSSERLschen Begriff kritisch auseinandergesetzt. (BLUMENBERG,1986)

Anknüpfend an FEUERBACH's Diktum, in der Wissenschaft sei der Mensch in der Fremde, bemerkt BLUMENBERG, es seien nicht so sehr die unbeabsichtigten Nebenfolgen des wissenschaftlichen Fortschritts, die den modernen Menschen zutiefst enttäuscht hätten, es ist die Verfehlung der beabsichtigten Hauptfolge: Die theoretische Erschließung der Welt war von der Hoffnung getragen, Sicherheit und Weltbehagen würden in einem aufsteigenden Prozeß zunehmen, dieser Erwartung entsprach die Enttäuschung an Größe und Schmerzlichkeit. "Lebenswelt" wurde deshalb auch zu einem Programmwort des Überdrusses an wissenschaftlichen Erklärungsversuchen, Chiffre für eine Abwendung von der Theorie und die Suche nach dem Einfachen. Der Irrtum liegt begründet in der falschen Analogie von Lebenswelt und Privatheit. Lebenswelt ist nicht etwas, zu dem man zurückkehren kann, wenn Erfahrungen außerhalb der Lebenswelt enttäuschen. BLUMENBERG sieht den Unterschied zur Intersubjektivität so: Einen anderen Menschen zu verstehen, bedeutet Einfühlung, deren Gelingen hat jedoch eine Voraussetzung, der um Verstehen bemühte muß bleiben, was er ist. Sich auf die Welt als ganzes einzulassen, hat aber immer ein Verlassen der Lebenswelt zur Voraussetzung, bei dem der Rückweg abgeschnitten wird. (BLUMENBERG, a.a.O., S. 61)

In einer prähistorischen Lebenswelt deckten sich Erwartungen und Erfahrungen. Der Mensch hatte niemals andere Erwartungen als solche, die aus seinem Erfahrungsbestand abgeleitet werden konnten. Lebenszeit und Weltzeit fielen noch nicht auseinander; Vergangenheit und Zukunft konnten nicht thematisiert werden. Generation und Individuation waren nicht getrennt, geschweige denn konflikthaft.

"....die Veränderungsrate aller Bedingungen und Umstände des Daseins (lagen) unterhalb der Schwelle der Wahrnehmungsfähigkeit eines individuellen Lebens"

(BLUMENBERG, a.a.O., S. 66)

Mit der Geschichtlichkeit des Menschen wurde die Lebenswelt so etwas wie ein verlorenes Paradies:

".....so bleibt eben außer Betracht, daß jenseits der Lebenswelt die Erwartungen sich von den Erfahrungen gerade deshalb ablösen, weil die Grunderfahrung der Veränderung durch 'Ereignisse' und 'Taten', also durch Geschichte, mehr und anderes erwarten zu können suggeriert, als je im Bereich der Erfahrung gelegen hatte. Geschichte ist die Trennung von Erwartung und Erfahrung."

(BLUMENBERG, a.a.O., S. 66)

Der Begriff der Lebenswelt, sowohl in historischen Dimensionen als auch in denen einer individuellen Biographie, wäre zu Unrecht mit Primitivität assoziiert. Der Mangel der Lebenswelt ist ihre Nicht-Objektivierbarkeit im Sinne moderner Wissenschaftsstandards. Aber sie ist niemals sprachlos gewesen, sie hatte immer ihre "Geschichten", die zur Nachdenklichkeit vielfältigen Anlaß geben. Auch Morallehren lassen sich aus den [/S. 238:] Geschichten ziehen, wie die Bedeutungsfülle alter Fabeln beweist. Gegen diese wirken viele modernen Verhaltenscodices lächerlich.

"Irgendwann brauchte man transportable Sätze, die die Geschichten überflüssig erscheinen ließen, und dann brauchte man zu diesen Sätzen die Fragen, auf die sie als Antwort gegeben sein konnten. Dieses Verfahren mochte kürzer sein und im Dienst der Zeitausschöpfung stehen, da Geschichten immer einen Grad von Umständlichkeit haben; aber man konnte nicht wissen, daß der Kurzschluß zwischen Frage und Antwort eine neue und gewaltigere Umständlichkeit auslöste, nämlich die, alle gegebenen Antworten auf dieselbe Frage miteinander in Konkurrenz zu setzen, gegeneinander auszuspielen, um dem fernen Ziel der Ausschließlichkeit einer einzigen gültigen Antwort näher zu kommen."

(BLUMENBERG, a.a.O. S. 68)

Wir kommen zu einem Resümee dessen, was die Lebenswelt-Verheißung für die Schule bedeuten könnte. In vielen pädagogischen Texten scheint der jeweilige Autor auf einen sehr trivialen Umstand verweisen zu wollen: Die Alltagserfahrungen des Schülers sollen mehr beachtet und zum Ausgangspunkt schulischen Lernens herangezogen werden. Historisch bedeutet dies eine maßvolle Rücknahme der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von Schule. Nicht zu verwechseln ist dieser Ansatz mit Programmen, die sich "Stadt als Schule" nennen oder "Lernortwechsel" usw. Denn hier werden dem Schüler durchaus neue Erfahrungen versprochen, solche, die er bislang nicht machen konnte, die aber auch im Schulgebäude nicht herstellbar sind.

Die philosophischen Reflexionen über Lebenswelt weisen in eine andere Richtung als in die der Überführung von unsystematischer in systematische Erfahrung. Die Lebenswelt wird als das immer schon Verlassene gesehen. Begegnungen mit der Welt, und dazu rechnet die Schule genauso wie die Medienlandschaft und die Berührung mit anderen Kulturen, lösen Teile der eigenen Lebenswelt ständig auf und setzen an ihre Stelle neue Erkenntnisse, die vom Zweifel nicht frei sind. Erwartungen stellen sich ein, gefolgt von der Erfahrung ihrer Nichterfüllbarkeit.. Weil endgültige Gewißheiten ausbleiben, und weil niemals alle Erwartungen befriedigt werden, gibt es wohl eine lebenslange Sehnsucht nach der einen Lebenswelt.

Wenn wir den Ausdruck Lebenswelt fallen lassen und uns dem Lebensstil, dem Lebensmilieu zuwenden, treffen wir auf eine Vielfalt realexistierender Formen der Lebensführung. Von den Ernährungsgewohnheiten, über die Dauer des Fernsehens bis hin zur Wohnsituation, den Urlaubsgepflogenheiten der politischen Einstellung usw. lassen sich Lebensstile identifizieren, von denen Schüler im elterlichen Haushalt geprägt werden. Eine ganze Anzahl von Indikatoren gestattet die empirische Klassifizierung dieser Lebensstile. Auf alle Fälle wird die grobschlächtige Einteilung in Unter-Ober- und Mittelschicht damit obsolet.

Die Frage ist nun aber noch nicht beantwortet, wie ein Lehrer zu den Kenntnissen über die Lebenstile seiner Schüler gelangt, und was er im Falle eines gewonnenen Kenntnisstandes für unterrichtliche Konsequenzen ziehen soll. Dem ersten Teil der Frage können wir hier nicht weiter nachgehen. Hausbesuche durch den Lehrer können Aufschluß geben, außer in Problemfällen dürften sie jedoch nicht zur Regel gehören. Die datenschutzrechtlichen Bestimmungen erschweren eine systematische Datenerhebung während der Schullaufbahn. Eine solche wäre notwendig, wollte man Lebensstil-Elemente in einen individualisierten Unterricht einbeziehen. Der zweite Teil der Frage interessiert uns aus der Arbeitslehre-Perspektive. [/S. 239:]

Unsere These lautet, daß die Kenntnis eines individuellen Lebensstils grundsätzlich drei Reaktionen seitens der Schule eröffnet.

  1. Elemente des Lebensstils sind kontrafaktisch zum Bildungsauftrag der Schule. Ein simples Beispiel wäre die Weigerung muslimischer Jungen, "Frauenarbeit" zu machen. Die Arbeitslehre müßte den häuslichen Lebensstil radikal in Frage stellen, nicht zu verwechseln mit einer Diffamierung der Kultur schlechthin.
  2. Im Lebensstil finden sich Ansätze einer ökologischen Verantwortung. Abfallvermeidung und Mülltrennung werden beispielsweise nicht abgelehnt. Unwissenheit und Bequemlichkeit erweisen sich als Schwellen im Handlungsprozeß. Die fehlenden Kenntnisse über Recyclingprozesse Verpackungsformen, Energieeinsatz usw. werden in der Arbeistlehre vermittelt. Im Ergebnis werden die bereits im Lebensstil keimzellenartig angelegten positiven Trends verstärkt, systematisiert, mehrdimensional angereichert.
  3. Im Lebensstil gibt es weiße Flecken; bestimmte Erfahrungen, die aus der Sicht der Arbeitslehre wünschenswert sind, konnten im häuslichen Milieu nicht gemacht werden.
  • Der Jugendliche kann die Eigenschaften von Werkstoffen (Festigkeit, Dichte, Elastizität, Bearbeitbarkeit usw.) nicht einschätzen.
  • Bei der Bedienung von Werkzeugen ermangelt es ihm an Geschicklichkeit, Umsicht, Sensibilität, Ausdauer und Genauigkeit.
  • Die Einschätzung von Unfallrisiken bei der Arbeit ist kaum entwickelt.
  • Ein differenziertes sensorisches Urteilsvermögen ist nicht vorhanden.
  • Die Planung eines final orientierten Prozesses nach logischen und zeitlichen Kriterien wurde ihm noch nie abverlangt.
  • Es fehlen Kriterien für die Bewertung der Gebrauchstauglichkeit technischer Geräte.
  • Die Fähigkeit, Körper räumlich darzustellen, bzw. räumliche Darstellungen zu verstehen, ist kaum vorhanden.

Die Liste ließe sich verlängern, wie jeder Arbeitslehre-Lehrer weiß. Die fehlenden Erfahrungen können im Schulfach Arbeitslehre gemacht und reflektierend verarbeitet werden. (Die Voraussetzung in Gestalt von Fachräumen hatten wir schon erwähnt.)

Nun gilt natürlich für andere schulische Bildungsangebote, etwa für den Lateinunterricht und für große Teile der Mathematik, daß die Begegnung mit den Inhalten des Faches die Erstbegegnung für den Schüler ist. Eine irgendwie geartete Anknüpfung an Milieuerfahrungen ist auch hier schwierig.

Unabhängig von den drei empirischen Ausgangslagen des Schule-Lebensstil-Verhältnisses, die wir skizziert hatten (der Konträrlage, der Offenlage und der Niemandsland-Lage), können häusliche Lebensstile in zweifacher Hinsicht mit schulischen Lernprozessen in Verbindung gebracht werden: Die Schule knüpft an unsystematische Vorerfahrungen der Jugendlichen an, hofft, daß rudimentäre Kenntnisse motivationsfördernd genug sind, um [/S. 240:] unterrichtlich darauf aufzubauen. Die andere Chance besteht im Wissenstransfer des in der Schule Gelernten auf häusliche Bedingungen. Eine größere Menge des in der Schule vermittelten Wissens kann weder an Milieuerfahrungen anknüpfen, noch hat es Konsequenzen für den außerschulischen Alltag. Das Gelernte ist gewissermaßen voraussetzungslos und (vorerst) folgenlos. Die Arbeitslehre kann auf zwei Begünstigungen verweisen, die im Laufe der relativ kurzen Geschichte des Faches sichtbar wurden. Sehr viele Inhalte der Arbeitslehre werden von Schülern als im außerschulischen Leben unmittelbar verwendbar erlebt. Eine weitere Erfahrung ist die, daß Eltern über latent vorhandene, im häuslichen Milieu aber nicht thematisierte Kenntnisse verfügen, die durch arbeitslehreangeregte Kinder zur Sprache kommen.. Verschiedentlich wurde schon nachgewiesen, daß Jugendliche nur sehr diffuse Vorstellungen von der Erwerbstätigkeit ihrer Eltern haben oder gar von den erlernten Berufsbildern. Berufstätige Mütter z.B. aktualisieren verschüttete hauswirtschaftliche Kenntnisse, wenn sie von den Kindern provoziert werden. Mühsame elterliche Nachhilfeversuche bei der Lösung mathematischer Aufgaben, die vergeblich die eigene Schulmathematik wiederzubeleben suchen, verbessern nicht immer die Dreiecksbeziehung Eltern - Schüler - Schule. Wenn aber die berufliche Tätigkeit der Eltern, Ausbildungserfahrungen, betriebliche Zwänge usw. von den Jugendlichen direkt angesprochen werden, gibt es kaum Eltern, die nicht engagiert Stellung beziehen. Und nicht ungewöhnlich ist die Konstellation, daß die subjektive Sichtweise der Eltern den Widerspruch der Kinder herausfordert. Wir deuteten es schon an: auch die den jeweiligen Lebensstil prägenden Formen der Haushaltsführung werden - angestiftet von der Arbeitslehre - in Frage gestellt.

Kommen wir zum Schluß.

  • In der Arbeitslehre bieten sich viele Gelegenheiten, Konträrlagen zwar nicht aufzulösen, aber zu bearbeiten. Vor allem sind hier die weiblichen und männlichen Rollenmuster zu nennen, die Hausarbeit und Erwerbsarbeit durchziehen. Durch die multikulturelle Zusammensetzung unserer Schulklassen hat sich diese Konträrlage verschärft.
  • Die Offenlage bestimmt in der Arbeitslehre häufig die Situation: Wir hatten schon das Beispiel erwähnt, daß Umweltschutz nicht abgelehnt wird, aber strukturierte Handlungsentwürfe fehlen. Ähnlich ist es bei den Essensgewohnheiten, die oft gesundheitlichen und kulinarischen Ansprüchen in keiner Weise genügen, jedoch Experimentierfreudigkeit nicht ausschließen.
  • Die Niemandsland- Lage wird in der Arbeitslehre von der ersten Stunde an abgebaut. Die Schüler machen vielfältige Erfahrungen mit Werkstoffen und technischen Verfahren.
  • Von der Arbeitslehre geht offenbar mehr als von anderen Fächern eine Provokation des häuslichen Milieus aus. Unbefragte Selbstverständlichkeiten, etwa Haushaltsroutinen und als abgeschlossen betrachtete Berufsbiographien kommen zur Sprache.

Schule und "Lebenswelt", eine heute oft bemühte Phrase! Hierbei wird selten genau unterschieden zwischen der Ergänzung der Schule durch weitere Lernorte und der Funktion des häuslichen Lebensstils. In beiden Fällen kann die Arbeitslehre etwas vorweisen. Weite Teile der Arbeitslehre sind durch Lernortwechsel gekennzeichnet. Betriebspraktika und Erkundungen, Lernen im Berufsinformationszentrum und im Museum für Verkehr und Technik, Verpflegungsangebote bei Veranstaltungen und der Verkauf von selbstgefertigten [/S. 241:] Produkten, dies alles zwingt zum Verlassen des Klassenzimmers. Unabhängig davon besitzt Arbeitslehre die Potenz, "leichtere Beben" im häuslichen Milieu zu erzeugen; welches Schulfach schafft das mit inhaltlichen Argumenten, nicht mit Zensurengebung?

[/S. 242:]