In allen Schulfächern wird heute angeblich "handlungsorientiert" unterrichtet. Wer dies nicht so recht glaubhaft machen kann, gibt es zumindest als Desiderat an. Selbst Religionslehrer machen keine Ausnahme: sie erbauen mit eifrigen Grundschülern die Gotteshäuser der Weltreligionen aus Klebstoff und Papier. Moscheen, Synagogen und christliche Kirchen stehen zum Schluß einträchtig auf den Schultischen. Die noch fehlende Versöhnung des Geistes bedarf allerdings weiterer Anstrengungen.
Verblüffend ist die halbherzige Formulierung "handlungsorientiert"! Entweder wird gehandelt, oder die Handlungen Dritter werden "betrachtet", eine sehr schultypische Form des Pseudohandelns. Es würde zur semantischen Präzision beitragen, wenn der Unterricht nicht "handlungsorientiert" hieße, sondern "auf einer Handlungsgrundlage", sofern er so genannt zu werden verdient.
Der Handlungsbegriff ist in alteuropäischer Tradition positiv besetzt. Daran konnte wohl auch die mittelalterliche Glaubenslehre nichts ändern, die einen fatalistischen Grundzug hatte. Wie immer der Christenmensch handelnd auf die Welt einwirkt, Gottes Wille entscheidet allein über den Handlungsausgang. Das Nicht-Handeln, im Wertesystem der Buddhisten sehr hoch angesiedelt, findet hierzulande erst Ende dieses Jahrhunderts und dann auch nur in Sektenkreisen Anhänger. Mit dem Protestantismus wurde das innerweltliche Handeln, wie MAX WEBER zeigen konnte, enorm aufgewertet. Ideengeschichtlich ist also von einer Hochschätzung der Tatgesinnung auszugehen.
Auf eine andere Bedeutung des Handlungsbegriffs soll kurz eingegangen werden: In den meisten Kognitionstheorien wird "Denken" als internalisiertes Handeln umschrieben. Diese Metapher ist natürlich in elaborierter Form entfaltet worden, und wir erinnern nur deshalb daran, weil im Kontext von Schultheorien Denken und Handeln häufig als Gegensatzpaar auftreten.
Ein unrühmliches Beispiel ist der zähe Vorbehalt der KMK gegen eine Gleichwertigkeit von gymnasialer und beruflicher Bildung. Auf dem sogenannten Loccum-Gespräch 1994 in Tutzing haben die Kultusminister zwar erneut Absichtserklärungen verlauten lassen; sie empfehlen: "auch die gymnasiale Oberstufe muß sich für handlungsorientiertes Wissen öffnen"! Gleichzeitig machen sie die Studierfähigkeit von Absolventen des beruflichen Bildungswesens von ominösen "Schlüsselqualifikationen" abhängig. Ein junger Facharbeiter, der Verfahrens- und Werkstoffkenntnisse erworben hat, der komplexere Aufgaben von der Planung bis zur Fertigstellung bewältigte, der räumliches Denken und angewandte Mathematik täglich benötigt, ist damit noch nicht studierfähig. Er muß etwas Zusätzliches "nachweisen". Grotesker Weise erwirbt man dieses Zusätzliche nur im Kontext von Arbeitsprozessen, die immer arbeitsteilig, mithin kommunikationsangewiesen sind. Eher unwahrscheinlich ist, daß man sie in der gymnasialen Oberstufe erwirbt, wo isolierte Leistungen und eine Punkte-Arithmetik vorherrschen.
Wenn jemand, bevor er einen neuen Gartenzaun baut, alle Handlungsfolgen gedanklich antizipiert, ist die Metapher vom internalisierten Handeln recht plausibel. Wenn in einem philosophischen Seminar über den Begriff des "Prinzipiellen" nachgedacht wird, dann sind Formen des internalisierten Handelns nur als innere Sprechakte vorstellbar, als (noch) nicht vernehmbare Auslegung der Begriffe durch Begriffe. ODO MARQUARD, dem wir dieses kleine Beispiel verdanken, hat allerdings folgendes bemerkt: [/S. 243:]
"....daß Erfahrung - Lebenserfahrung - unersetzlich ist für die Philosophie. Erfahrung ohne Philosophie ist blind; Philosophie ohne Erfahrung ist leer: man kann keine Philosophie wirklich haben, ohne die Erfahrung zu haben, auf die sie die Antwort ist."
(O. MARQUARD, 1987, S. 8)
Diese Sicht würde das Denken auch im philosophischen Seminar als internalisiertes Handeln rehabilitieren, wenn auch als Erinnerung an die Handlungsgeschichte des eigenen Lebens.
In der Pragmalinguistik ist die Sprechhandlung ein "Bewirken von Wirkungen". Mit Sätzen kann ich jemand einschüchtern, wütend machen, veranlassen, Bestimmtes zu tun oder zu lassen. Insofern ist die Handlungsfolge beobachtbar, anders als bei reinen Denkprozessen, die, wenn man so will, auch im Medium von Sprache "handeln". In der Schule treffen wir massenhaft Sprechhandlungen an: Der Lehrer appelliert an die Leistungs- und Verhaltensmöglichkeiten der Schüler, diese versuchen den Lehrer in Fällen der Leistungsbeurteilung umzustimmen usw. Diese Ebene durchzieht jedweden halbwegs demokratischen Unterricht. Daneben aber gibt es Sprechakte, die keine Sprechhandlungen sind. Wenn der Schüler sich abmüht, die Lehrerfrage nach den Voraussetzungen der Französischen Revolution recht und schlecht zu beantworten, trifft er eine Denkschablone des Lehrers oder nicht. Nur in sehr seltenen Fällen wird der Schüler eine eigenwillige Interpretation so überzeugend vortragen, daß der Lehrer die Revision eigener Vorstellungen erwägt. Im Vorgriff auf die Arbeitslehre erwähnen wir dieses Beispiel, denn was im Geschichtsunterricht eher selten sein dürfte, ist in der Arbeitslehre viel häufiger anzutreffen.
Wenden wir uns einen Moment jenen Handlungen zu, die es im Schulalltag auch gibt, deren Handlungsqualität überhaupt nicht strittig ist und die in vielen Fällen Werkzeuggebrauch und materielle Veränderungen als Begleiterscheinung haben. Die Handlungen treffen wir vor allem in den Fächern Bildende Kunst, Musik, Darstellendes Spiel und experimentelle Naturwissenschaft an. Es entstehen Produkte mit einer ästhetischen Qualität und / oder mit einem (wiederholbaren) Ursache-Wirkung-Nachweis.
Die Handlungsdimension dieser Fächer ist einerseits traditionell zu nennen, andererseits wird sie einer ganzen Reihe von Zwängen geopfert, von denen der gravierendste vielleicht die Gruppengröße ist. Der Unterricht kann sich dann auch in diesen Fächern extrem handlungsarm entwickeln.
Wir wollen auch nicht verschweigen, daß in Fächern wie Gesellschaftskunde/Politik, auch Geographie unter dem Postulat der "Handlungsorientierung" tatsächlich gehandelt wird: Parlamentssitzungen und Gerichtsverhandlungen werden besucht, die gewonnenen Eindrücke führen zu schriftlichen Anfragen an Abgeordnete oder Justizvollzugsbehörden. Landschaftspflege-Projekte werden beschlossen u.a.m. Jeder Kenner der Schulwirklichkeit weiß, daß solche Beispiele Ausnahmestatus haben.
Bevor wir uns jetzt dem Handlungsbegriff der Arbeitslehre zuwenden, sei noch einmal an die Theorie HANNAH AHRENDT s erinnert. Wenn die Arbeitslehre sich entschließen könnte, ihre Begriffstrias zu übernehmen, wäre für saubere Verhältnisse gesorgt. Arbeiten, Herstellen und Handeln sind die drei Existenzebenen. Arbeiten müssen wir, Sysiphos vergleichbar, denn die Überwindung des banalen Mangels wird uns täglich aufs neue abverlangt. Das Herstellen (vielleicht sollte man ergänzen: das ganzheitliche Herstellen) ist immer weniger Menschen vergönnt. Zum Handeln sind wir gezwungen solange wir soziale Wesen sind, im Diskurs erfolgt gewissermaßen zivilisatorisch gebändigt der Streit der Meinungen. Eine solche Differenzierung konnte sich, bezogen auf Schule, nicht durchsetzen. [/S. 244:] Hier wird mit einem groben Handlungsbegriff gearbeitet, der mal die eine, mal die andere Bedeutung favorisiert.
Auch der HABERMAS sche Handlungsbegriff könnte der Pädagogik zu mehr Klarheit verhelfen: Bekanntlich unterscheidet HABERMAS zwischen instrumentellem Handeln (arbeiten) und Interaktion. (HABERMAS 1968 und passim) Eine Unterscheidung des instrumentellen Handelns im Sinne HANNAH ARENDTs in Arbeit mit Wiederholungszwang und Herstellen trifft HABERMAS u. W. nicht. Dem instrumentellen Handeln mit seiner Sachlogik wird Interaktion als Daueraufgabe menschlicher Verständigung gegenübergestellt. Nebenbei bemerkt: Auch alles Herstellen könnte sich als endloses Wiederholen erweisen. In einem Gedicht von Gottfried BENN heißt es....
"und bauten sie Dome, 800 Jahre ein Stück, wissend im Zeitenstrome bröckelt der Stein zurück."
Der schulische Handlungsbegriff ist deshalb nach Meinung von DUNCKER über eine Suchbewegung noch nicht hinausgekommen.
"Mit der Handlungsorientierung des Lehrens und Lernens trat die schulpädagogische Profession an gegen die Vorherrschaft des intellektuellen, wissenschaftspropädeutischen und memorierenden Lernens in der Schule. In zahlreichen Suchbewegungen wird dabei erkundet, wie sich ein 'praktisches' Standbein für die Schule errichten läßt, das nicht nur im kompensatorischen Sinne Mängel eines auf Abstraktion zielenden Schulsystems ausgleichen soll, sondern gleichzeitig Hinweise für die Gestalt einer modernen pädagogischen Schulkultur enthält."
(DUNCKER, 1988, S.43)
DUNCKER hat außerdem emphatisch vor dem Auseinanderfallen der Zeithorizonte gewarnt: Die Schule soll beides leisten: eine sinnvolle Gestaltung der Gegenwart der Jugendlichen und eine Zurüstung für künftige Anforderungen durch Gemeinschaft und Arbeitsleben. Zu beobachten ist eine Gegenwartsorientierung vieler Jugendlicher, die leider mangels besserer Alternativen in richtungslosem Aktionismus, austauschbarem "Feeling" und leider oft in Ablehnung der Schule sich äußerst. Die Schule hingegen driftet zur anderen Seite ab, sie wird nicht müde, das Leben nach der Schule anzumahnen, sie behauptet eine Zukunftsorientierung bieten zu können und setzt dabei die bekannten Selektionsmechanismen ein. Ein Riß zieht sich durch die Zeitverhältnisse: Schüler optieren für eine Gegenwart ohne Zukunft und die Schule für eine Zukunft ohne Gegenwart.
Wenn Zukunftsprognosen sich als richtig erwiesen, die abstrakte Verkehrsverhältnisse, vorwiegend symbolisches Handeln, ein Verschwinden der materiellen Produktion und die Zunahme industrieller Dienste von der Ernährung bis zum Rundum-Service voraussagen, wird für die Schule ein nicht nur trotziges Dennoch um so wichtiger. In einer 10 bis 13jährigen Schulzeit gibt es massenhaft Anlässe, zu arbeiten, etwas herzustellen und kommunikativ zu handeln - also nicht memorierend etwas vorzutragen.
Bevor wir den Handlungsbegriff der Arbeitslehre definitorisch genauer fassen, wenden wir uns kurz Forschungsarbeiten zu, die unter dem Stichwort "Beiträge zur psychologischen Arbeitsanalyse" schon Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre veröffentlicht wurden, heute jedoch keineswegs überholt sind. Einschränkend muß gesagt werden, daß diese Arbeiten sich überwiegend auf erwerbstätige Erwachsene beziehen. Wir glauben aber, im Arbeitslehre-Unterricht Situationen nachweisen zu können, in denen psychische Reaktionen ähnlicher Art auftreten. Um der bekannten Abwehrgeste zuvorzukommen, erklären wir ausdrücklich, daß der Arbeitslehre die Dimensionen der Kündigungsangst, der [/S. 245:] Lohnabhängigkeit, der betrieblichen Über- und Unterordnung und der Zeitzwänge fehlen, und daß wir auch nicht glauben, sie simulativ herstellen zu können. (VOLPERT 1981, ULICH 1981, HACKER 1978, v. CRANACH u.a. 1980)
Nach HACKER ist der entscheidende Erkenntnisfortschritt der Arbeitspsychologie gegenüber der passiv-kontemplativen Bewußtseinspsychologie darin zu sehen, daß erstere Psyche und Handlung als nicht trennbare Wechselwirkung versteht, letztere den psychischen Zustand gewissermaßen als Voraussetzung für mehr oder weniger gelingende Handlungsregulierung. In der Tradition der sowjetischen Psychologie unterscheidet HACKER zwischen Tätigkeiten allgemein und Handlungen, denen ein inneres Modell, ein Plan zugrunde liegt. (HACKER 1978, S. 57 ff)
"Ganz besonders die hier interessierende Arbeitstätigkeit ist der Prototyp der von Affekthandlungen wohlunterschiedenen, willensmäßig gesteuerten, mit überindividuellem (gesellschaftlichem), konkreten Sinngehalt ausgestatteten und auf Zweckmäßigkeit der Ausführung angelegten Handlungen. Diese willentlich gesteuerten Handlungen sind bei aller sonstigen Verschiedenheit durch einige Merkmale von den anderen, den 'antriebsunmittelbaren Handlungen' ausgezeichnet: Grundlage ist ein bewußtes Ziel, dessen Verwirklichung als Vorsatz angestrebt wird. Durch den Entschluß zum Handeln erfolgt der Übergang vom bloßen Wünschen zum Wollen."
(HACKER, a.a.O. S. 62)
Der Bewegungsphänomenalismus, der auch heute noch in ergonomischen Studien eine Rolle spielt, ist nach HACKER nur die Oberfläche eines inneren Handlungsmodells. Unterschieden wird in der Arbeitspsychologie nach Antriebsregulation und Ausführungsregulation. Die Antriebsregulation entsteht im Gefolge der Übernahme einer Aufgabe, deren Zielbeschreibung natürlich für die handelnde Person vorstellbar und antizipierbar sein muß. Von großer Bedeutung für die Antriebsregulation ist die Herausbildung von Sinn. Diese erfolgt vor dem Hintergrund sozialer Anerkennung. Gänzlich asoziale Sinnbildung, also eine Art "monadischer" Sinn ist schwer vorstellbar. Die Übernahme einer Aufgabe einzig vor dem Hintergrund der "Entlohnung" durch Geld oder Zensuren ist bekanntlich verbreitet; der Sinn muß dann in abgeleiteten Funktionen gesucht werden, z.B. in Konsum- und Karrierechancen.
Die Ausführungsregulation geht immer mit der Zielanalyse einher. Das Ermitteln, Einsetzen und fortlaufende Anpassen zieladäquater Mittel gehört zur Ausführungsregulation.
"Jede Handlung ist notwendigerweise ein psychischer Akt, weil sie bewußt, d.h. zielgerichtet ist. Jede Handlung schließt über die Komponenten der Antriebsregulation hinaus wesensmäßig kognitive Prozesse ein, sie ist mindestens eine sensumotorische Einheit, in der Regel aber eine Einheit von Wahrnehmen, Verarbeiten (Urteilen, Behalten, Reproduzieren) und seinerseits wiederum sinnlich und logisch erfaßtem motorischen Verrichten."
(HACKER, a.a.O. S.63)
Was HACKER idealtypisch für erwachsene Handlungsträger analysiert, bedarf der Modifikation für Handlungen in der Arbeitslehre. Wir greifen hier nur ein Problem heraus: Die Antriebsregulation bei Erwachsenen bedingt oft eine mehr oder weniger lange Phase des Innehaltens zwischen Zielanalyse und motorischen Verrichtungen. Die starke Affizierung der Schüler, die immer dann zu beobachten ist, wenn sie überhaupt handeln dürfen, führt zu den von HACKER gerade ausgeschlossenen "antriebsunmittelbaren Handlungen". Im Klartext heißt das, die Sinnfindung im Zusammmenhang mit Handlungszielen, die damit verbundene [/S. 246:] Zielanalyse und eine Abschätzung der Handlungs-Nebenfolgen strapaziert die wenig entwickelte Geduld der Schüler, rückgestauter Handlungswille entlädt sich am liebsten in unmittelbarem Aktionismus.
VOLPERT hat darauf hingewiesen, daß in modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften Arbeitshandeln immer eine überindividuelle Sinnzuschreibung besitzt. Sie existiert unabhängig vom konkreten Individuum. Von daher erst wird definiert, welchen Handlungsbeitrag der einzelne zu leisten habe. Das Individuum funktioniert nun keineswegs im Maße dieser Aufgabenzuweisung sondern redefiniert die Aufgabe. Ersichtlich bezieht sich VOLPERT auf Erwerbsarbeit, denn Hausarbeit, namentlich in den zahlreicher werdenden Einpersonen-Haushalten, bedarf eines modifizierten Analyseschemas.
Die Kenntnis der vom Individuum vorgenommenen subjektiven Ausdeutung der
Arbeitsaufgabe kann dazu genutzt werden, diese den Bedürfnisssen des Individuums besser anzupassen. Der Hintergrund der überinviduellen, als objektiv bezeichneten Arbeitsaufgabe darf jedoch nicht aus dem Blick verschwinden, weil alles andere nach VOLPERT in die "Sackgasse des Subjektivismus" führt. (VOLPERT 1981) Auf Arbeitslehre ist dieses Modell insofern transferierbar, als die Handlungsstruktur in schulischen Fachräumen unter dem Anspruch einer überindividuellen Arbeitsaufgabe steht. Im Unterschied zur Werkpädagogik und auch zum künstlerischen Gestalten ist die Arbeitsaufgabe viel klarer definiert. Selbstverständlich gibt es in den erwähnten Unterrichtsbereichen auch "Themen", aber die individuelle Handlungsstrategie, die zur Lösungsfindung eingeschlagen wird, ist oft sehr unterschiedlich, ja, die Unterschiedlichkeit ist erwünscht. Auch gibt es nicht die Lösung. In der Arbeitslehre ist von einer strengeren Objektivierung des Lösungszustandes auszugehen. Damit sind Grenzen für den Subjektivismus des einzelnen Schülers gezogen. Die Redefinition der Arbeitsaufgabe durch den Schüler findet gleichwohl immer statt. Es ist nicht auzuschließen, daß der Schüler nun unter dem allgemeinen Diktat des Unterrichts am Handlungsprozess mitwirkt, aber weder die gewünschte Antriebsregulation entwickelt und bei der Ausführungsregulation sich auf andere verläßt. Deshalb ist es gut, sich an das 9-Stufen-Modell von VOLPERT zu erinnern, in der die Lernrelevanz von Handlungsprozessen hierarchisch geordnet wird. Nach VOLPERT ist der Problemzustand identisch mit der Distanz zwischen dem Ausgangszustand der Handlung und dem Lösungszustand. Die Anzahl und Struktur der Zwischenzustände kann stark variieren. Der Problemraum (auch Suchraum) ist die Gesamtheit der Objekte, Zustände und Verfahren, innerhalb derer die Lösung zu finden ist. Der Suchprozess ist das Auffinden von logischen Verknüpfungen zwischen den Operationen und Objekten. Daß es logische Verknüpfungen gibt, wird vorausgesetzt. In der Praxis mag oft der zweite Schritt vor dem ersten getan werden, gleichwohl merkt der Handelnde bald, daß eine Umkehrung logischer gewesen wäre. Der Lösungsprozeß ist die Transformation aller relevanten Merkmale des Problemraums.
Diese verhältnismäßig abstrakte Beschreibung der Problemstruktur besagt zunächst nur, daß alle Handlungen innerhalb einer solchen Struktur verlaufen.
"Ein Stufenmodell der Problemhaltigkeit nimmt nun an, daß es Konstellationen dieser Komponenten gibt, die in aufsteigender Reihe insofern voneinander unterscheidbar sind, als zur bisherigen Problemstruktur ein neuer komplizierender Faktor hinzutritt, der diese Struktur verändert. Das im folgenden vorzustellende Modell umfaßt neun Stufen, die jeweils durch die Aufgabenart, die zugehörige Handlungsforderung und die daraus resultierenden Lernerfordernisse umschrieben sind."
(VOLPERT, a.a.O. S. 215)
[/S. 247:]
Die unterste Stufe geht von stereotypen Handlungsfolgen aus, die, einmal beherrscht, nur in einem engen Bereich an veränderte Situationen adaptiert werden müssen.
Die beiden obersten Stufen (8 und 9) des Handlungsmodells sind nach VOLPERT für industrielle Handlungsprozesse irrelevant, und wegen des offenen Anfangs- und Endzustandes vorwiegend in wissenschaftlichen Forschungsprojekten anzutreffen. Wir zitieren noch einmal VOLPERT mit der Beschreibung der Stufe 5, weil diese u.E. als die höchste in der Arbeitslehre erreichbare Stufe gelten kann.
"Die Stufe 5 ist dadurch gekennzeichnet, daß ein noch nicht bekannter Lösungsweg bei geschlossenem Anfangs- und Endzustand gefunden werden muß. Hier müssen flexible Handlungspläne auf der Grundlage von Wissen über allgemeine Funktions- und Wirkprinzipien der Handlungsobjekte und -bedingungen entwickelt werden. Im Problemraum sind äquivalente, aber nicht lösungsoptimale Operatoren bzw. Eigenschaften durch Suchraumeinengung unter Einsatz von heuristischen Regeln auszuschalten. Die Elemente des Problemraums sind hier als Begriffe eines Wissenssystems zu verstehen. Die Lernanforderung besteht in der Entwicklung von Entscheidungsregeln auf der Grundlage von Fachwissen."
(VOLPERT a.a.O. S. 216 f)
Wir hatten weiter oben bereits die Redefinition der Arbeitsaufgabe durch die handelnden Subjekte erwähnt. Für den Arbeitslehre-Lehrer bedeutet dies zunächst die Ungewißheit über die zu erwartende Antriebs- und Ausführungsregulation der Schüler. ULICH hat die "subjektive Tätigkeitsanalyse" als eine wichtiges Verfahren zur besseren Handlungsinvolviertheit der beteiligten Personen genannt.
"Subjektive Tätigkeitsanalyse (STA) wird als ein Mittel verstanden, mit dessen Hilfe die Subjektposition der Arbeitenden zur Geltung gebracht, Qualifizierungsbarrieren abgebaut und Qualifizierungsbereitschaften entwickelt werden können. Mit der subjektiven Tätigkeitsanalyse sollen zugleich Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß objektive Handlungsspielräume nicht nur erkannt und genutzt, sondern auch Möglichkeiten ihrer Erweiterung wahrgenommen und realisiert werden."
(ULICH; 1981, S. 333)
Selbst bei erwachsenen Erwerbspersonen läßt sich eine Tendenz zum "problemlosen Feld" feststellen, d.h. über längere Zeiträume werden Arbeiten verrichtet, ohne daß Mängel im technischen und organisatorischen Bereich bewußt werden. Am Anfang jeder STA steht deshalb die Einsicht in die Problemhaltigkeit einer Situation. Die Arbeitspsychologie bedient sich bestimmter angeleiteter gruppendynamischer Prozesse, bei denen jedes Gruppenmitglied seine subjektive Sichtweise offenlegt. Die Mehrperspektivität läßt das Problem zu allererst sichtbar werden; es folgen Veränderungspläne usw. (vergl. ULICH, a.a.O. S. 334 ff)
Anscheinend werden in der Arbeitslehre aus zeitlichen Gründen gar keine längerfristigen Arbeitsroutinen aufgebaut, die dann durch arbeitspsychologische Intervention zu optimieren wären. In Wirklichkeit läßt sich aber eine STA an vielen Stellen des Unterrichts einbauen. Diese hat nicht den systematischen Anspruch der von ULICH u.a. beschriebenen Vorgehensweise.
Arbeitslehre-Lehrer klagen über Mängel bei der Durchführung der Arbeitsaufgabe: Schüler handeln erst und denken hinterher über einen Mißerfolg nach, sie vernachlässigen getroffene Organisationsabsprachen und sie weisen gerne anderen Schuld zu. Viele Lehrer versuchen nun ständig durch rechtzeitiges Belehren das Schlimmste zu verhindern. Kurze, zur Gewohnheit werdende STA würden manche Lehrerintervention überflüssig machen. Weil die Schüler in der Arbeitslehre im allgemeinen an einer gemeinsamen Aufgabe tätig sind, [/S. 248:] kann jeder seine momentane subjektive Wahrnehmung des ganzen Prozesses äußern. Dabei wird sich fast immer herausstellen, daß das Problembewußtsein der Lerngruppe wächst.
Ähnlich wie in betrieblichen Arbeitsprozessen gibt es auch in der Arbeitslehre eine objektive Arbeitsanalyse und eine subjektive. In Betrieben hat die Arbeit von Refa-Experten eine lange Tradition. Das soziotechnische System wird beobachtet, gemessen und optimiert. Daß dies nicht ausreicht, beweisen Erfolge der subjektiven Tätigkeitsanalyse durch die Arbeitenden selbst. In der Schule ist die Unterrichtsplanung durch den Arbeitslehre-Lehrer gewissermaßen die objektive Arbeitsanalyse, sie sollte nach Möglichkeit Expertenniveau haben. Das alleine reicht jedoch fast nie. Die subjektive Tätigkeitsanalyse durch die Schüler muß hinzutreten, damit würde so manchem Arbeitslehre-Lehrer, der sich optimal vorbereitet hatte, eine herbe Enttäuschung erspart.
v. CRANACH u.a. haben eine Theorie "konkreter Handlungen" entwickelt, die nicht primär an betrieblichen Arbeitsprozessen orientiert ist, und vielleicht deshalb Vertretern der Allgemeinbildung nähersteht. Auf die neun Bestimmungsstücke dieser Theorie wollen wir kurz eingehen und Bezüge zur Arbeitslehre aufspüren. (v. CRANACH u.a., 1980,S. 83ff) Die Autoren unterscheiden:
- Handlungsverlauf (Start und Endpunkt einer Handlung, Handlungsschritte, Wegkreuzungen.)
- Organisationsebenen (Hierarchisierung der Handlungsziele, kognitive Steuerung der Strategie, insbesondere die Festlegung von Zwischenzielen und schließlich die operationale Ebene, die eine Fülle von Details im Wege der Selbstregulierung löst.)
- Aufmerksamkeitsprozesse (Diese richten sich im Handlungsverlauf immer dort hin, wo sie gebraucht werden, vergl. die o. g. Organisationsebenen.)
- Zielbestimmung (Hier geht es um das Verhältnis von Ober- und Teilzielen, um konkurrierende Ziele und die mögliche Zielaufgabe.)
- Kognitive Steuerung (Aufstellung von Handlungsplänen, Wahrnehmung einer Wegkreuzung, Entscheidungen als bewußter Wahlakt.)
- Unterbewußte Selbstregulierung (Anpassung der Handlungsschritte an innere Zustände des Handelnden.)
- Soziale Kontrolle (Steuerung der Handlung durch Konventionen, Regeln und Normen, hemmender oder fördernder Einfluß, je nach Übereinstimmung mit den Handlungszielen.)
- Werte und Attitüden (Handlungen können der Verwirklichung von Werten oder der Vermeidung von Unwerten dienen.)
- Handlungsrelevantes Wissen (Dieses kann die kognitive Steuerung -s. o. -beeinflussen, es kann aber im Verlauf der Handlung als notwendig zu erwerbendes auftauchen.)
- Interaktive Handlung (Einwirken auf Kommunikationspartner im Sinne eines geteilten Verständnisses von Handlungszielen.)
Zunächst stellen wir fest, daß viele Aktivitäten in der Schule einen solchermaßen entfalteten Handlungsbegriff nicht einlösen. Einen Deutschaufsatz schreiben, eine Mathematikaufgabe lösen, einen englischen Text übersetzen, bedarf einer Zieldefinition. Die teleologische Kraft des Ziels ist gering, ja, Ziele werden häufig nur als Durchgangszustände erlebt. Im Mathematikunterricht ist es verbreitet, den Schülern zu sagen, wer die "Pflichtaufgaben" gelöst hat, kann noch Zusatzaufgaben bearbeiten. Die Zielbeschreibung verliert an Bedeutung und wird sekundär gegenüber dem Weg zum Ziel. Die Verständigung über Zwischenziele und deren Hierarchisierung fehlt meistens. Wertediskussionen sind dann [/S. 249:] entbehrlich, wenn die Ziele durch Rahmenpläne als legitimiert gelten. Handlungswissen wird nicht vom Handlungsziel her bestimmbar, oft ist es umgekehrt: auf Vorrat erlerntes Wissen soll durch einen gesuchten Handlungsanlaß aktualisiert werden. Kommunikationsprozesse, die der Erreichung eines gemeinsamen Handlungsziels dienen, werden oft nicht gewünscht.
Kommen wir zum Schluß. Der Handlungsbegriff der Arbeitslehre umschließt die drei Dimensionen: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln.
- In den Arbeitslehre-Fachräumen müssen wiederkehrende Aufräumungs- und Wartungsarbeiten von Schülern übernommen werden.
- Es werden Produkte hergestellt, die eine klare Zieldefinition erzwingen. Die Strukturierung aller Handlungsschritte zwischen Anfang und Ende des Prozesses erweist sich als notwendig.
- Kommunikatives Handeln unter Schülern ist angesichts einer gemeinsamen Zielabsprache und knapper Produktionsmittel unausweichlich.
Handeln in der Arbeitslehre bedeutet zuvörderst Handeln in der materiellen Welt: ein Kleidungsstück nähen, ein Essen kochen, Lautsprecherboxen bauen. Ein Verbot, auch in der nichtmateriellen Welt zu handeln, ist damit freilich nicht ausgesprochen. Aber da dies die anderen Schulfächer zur genüge tun, müßte die Arbeitslehre die materielle Kultur zu ihrer eigentlichen Domäne erklären.
"Worum es nämlich wirklich geht, das ist die Überwindung jenes Kulturdefizits, an dem die allgemeinbildende Schule, und ganz besonders auch das Gymnasium, bis heute leidet. Die überwältigende Mehrzahl der Unterrichtsgegenstände betreffen die ideelle Kultur, die Mathematik, die Sprache, die Literatur, die Kunst, die Weltanschauung. Schon die soziale Kultur wird von dem einen, oft genug randständigen Fach Sozialkunde nur sehr stiefmütterlich behandelt. Doch was bis in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts in der Schule völlig fehlte, das ist die materielle Kultur. Brechts berühmte Rehabilitierung der materiellen Kultur 'Erst kommt das Fressen, dann die Moral' darf zwar inzwischen im Deutschunterricht hermeneutisch interpretiert werden, doch im Kanon der Bildungsfächer wird diese Einsicht von den Philologen immer noch verdrängt."
(GÜNTER ROPOHL, 1997, S.285)
ROPOHL hat das Leiden am Partikularismus des Fächerspektrums (Technik, Wirtschaft, Haushalt, Arbeitslehre) dadurch zu beenden versucht, daß er ein Fach "Materielle Kultur" vorschlägt. Dem folgt jedoch der Zweifel auf dem Fuße, ob die Bezeichnung jedermann verstünde. (ROPOHL, a.a.O. S. 285)
Wir versuchten, den Handlungsbegriff der Arbeitslehre zu konturieren (und ihn gegen einen inflationär gebrauchten abzugrenzen). Unvermeidlich ist es, auf immer wiederkehrende Störungen des idealtypischen Handlungsablaufs in der Arbeitslehre einzugehen.
Zuletzt hat BÖNSCH die kritischen Stellen in einem Projektverlauf noch einmal genannt. Diese zu erinnern ist vielleicht deshalb notwendig, weil in zahllosen Arbeitslehre-Publikationen die Projektphasen: Entscheidung-Planung-Durchführung-Kontrolle als scheinbar unproblematische genannt werden. (BÖNSCH 1996, S. 133)
- In der Entscheidungs- und Zielfindungsphase ist es nahezu unmöglich, eine Lerngruppe soweit zu homogenisieren, daß alle das Ziel bejahen.
- In der Planungs- und Strukturierungsphase wird die fehlende Kompetenz der Schüler nicht immer diesen selbst, wohl aber dem Lehrer deutlich. Um unerwünschte Spätfolgen [/S. 250:] zu verhindern, greift der Lehrer viel stärker steuernd ein, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Die Zeitzwänge, die vom Stundenplan und vom Lehrplan ausgehen, müssen oft gegen die Begeisterung der Schüler durchgesetzt werden.
- Bei der Durchführung kommt es zu Ermüdungen, zu einer Ungleichverteilung der Arbeitslast, zu konsensuell unlösbaren Trivialproblemen.
- Die Kontroll- oder Reflexionsphase leidet unter der didaktischen Unbeholfenheit der Sprecher, die Ergebnisse erscheinen auch in den Augen der Schüler als nicht ganz gelungen, die Resonanz in der "Öffentlichkeit" ist demzufolge begrenzt.
Dies bedeutet nicht, die die Arbeitslehre bestimmende Handlungsmaxime zu verabschieden. Erfahrungen zeigen, daß die Störungen in einem Projektverlauf geringer werden, wenn die Schüler wiederholt Projekterfahrung sammeln konnten. Die o. g. Subjektive Tätigkeitsanalyse, aber auch das auf VOLPERT zurückgehende Stufenmodell der Handlung werden noch zuwenig berücksichtigt.
Ein nicht unerheblicher Teil der Schwierigkeiten, die im Handlungsfeld "Arbeitslehre" auftauchen, läßt sich auf mangelnde fachliche Kompetenz der Lehrer zurückführen. Wir wenden uns deshalb im nächsten Kapitel den praktischen Fragen einer gelingenden produktiven Schülerarbeit zu.
[/S. 251:] [4. Schulische Produktionsarbeit]