Das anfangs bereits konstatierte Gefälle von den Rahmenrichtlinien Hessens zu den das hessische Vorbild kopierenden Rahmenlehrplänen NW's hat, wie sich beim Detail-Vergleich zeigt, zu einer Erosion der differenzierten und auf die fachwissenschaftliche Diskussion wenigstens noch hinweisenden Aussagen des Hessen-Plans geführt. In diesem Erosionsprozess sind dabei mehr als nur Facetten abgeschliffen, Nuancen eingeebnet worden; an entscheidend wichtigen Stellen sind nicht nur Vergröberungen und Simplifikationen, sondern auch substantielle Veränderungen festzustellen. Freilich hat nicht allein die Widersprüchlichkeit der Hessen-Richtlinien sich einem radikalen Zugriff nur zu leicht dargeboten; es liegen außerdem Tendenzen in ihnen selbst, die im Maximalsinn auszuziehen geradezu provozieren mussten.

Wenn schon der "Differenzierung der allgemeinen Lern- [/S. 50:] ziele unter fachspezifischen Aspekten" im Hessen-Plan in der Hauptsache nur eine negative Funktion zugewiesen wird, nämlich dies, zu verhindern, "dass bei Unterricht in Einzelfächern die angestrebten Erkenntniszusammenhänge getrennt werden... .", dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die gröberen Planer in NW die fachspezifischen "Arbeitsschwerpunkte" Hessens überhaupt aufgeben und stattdessen nur noch "fachspezifische Aspekte" auf die soziologische Leitschiene projizieren. Die hessischen Aussagen zur Differenzierung verschärfend fügen sie hinzu: "die in den einzelnen fachspezifischen Aspekten formulierten, an der obersten Zielsetzung orientierten Ziele dürfen nicht als unterrichtsbezogene Lernziele missverstanden werden" (NW. S. 11). Was sind sie dann - versehentlich stehen gebliebene Reste eines Denkens, das sich erst auf dem Wege der Emanzipation von Wissenschaft befindet?

Die Minderung der spezifischen historischen Gewichte wird bereits an der im Vergleich mit dem hessischen Vorbild sofort ins Auge fallenden beträchtlichen Verkürzung der grundlegenden Ausführungen zum "Historischen Aspekt" erkennbar (NW S. 15-20, H., S. 18-30).

Dass die Geschichtswissenschaft im allgemeinen, ihr inzwischen fortgeschrittener wissenschaftstheoretischer Diskussionsstand im besonderen im Bewusstsein der NW-Planer keine Rolle spielen, wäre weniger auffallend, hätten sie sich bei der Beschreibung des "Historischen Aspekts" wenigstens in den Hauptzügen an das Hessische Modell gehalten. Die Defizienz eines eigenen reflektiert-geschichtlichen Bewusstseins hat sie bei ihrem Willen zur Verselbständigung, zur Originalität, zur "Verbesserung" der Vorlage dazu gebracht, die im hessischen Grundsatzteil wenigstens intentional proklamierte Grundfunktion geschichtlicher Unterweisung, den Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins (14), gänzlich aus dem Auge zu verlieren.

Auf die im Hessenplan erst am Ende eines langen Gedankenganges deklarierte "Funktion" der Geschichte läuft man in NW gleich am Anfang schnurstracks zu. Das Omelett wird serviert, ohne dass man zuvor die Eier zerschlagen und umgerührt hätte: "Die in der obersten Zielsetzung erhobe- [/S. 51:] ne Forderung nach Verwirklichung von Selbst- und Mitbestimmung muss in Beziehung gesetzt werden zum Bewusstsein der Betroffenen, d. h. wie sie ihre Möglichkeiten, diese Forderung zu realisieren, einschätzen." "Zur angemessenen Einschätzung dieser Möglichkeiten muss ein G/P-Unterricht unter historischem Aspekt anstreben:

  1. das individuelle Geschichtsbewusstsein wesentlich als Ergebnis vor- und außerschulischer und schichtenspezifischer Einflüsse erkennbar zu machen,
  2. gegenwärtige wirtschaftliche, politische und kulturelle Verhältnisse in ihrer historischen Entstehung und Entwicklung und damit als veränderbar zu zeigen und
  3. Voraussetzungen und Folgen politischen Handelns zu klären" (NW. S. 15).

So einfach ist das: Es werde Licht, und es ward Licht. Entweder haben wir es hier mit dem Selbstbewusstsein von Demiurgen oder mit den Schöpfern von Plänen zu tun, die die Sache nicht ernst nehmen bzw. nicht ernst nehmen können, weil ihnen selbst ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein abgeht. Dass sie ohne Kontakt mit der modernen Geschichtswissenschaft, ohne eine Ahnung davon, dass sie es hier mit einer historisch-kritischen Sozialwissenschaft zu tun haben würden, nicht in der Lage waren, Kategorien zu entwickeln, zeigt sich in den folgenden Detailausführungen zum "Individuelle(n) Geschichtsbewusstsein" (NW. S.15-17), zur "Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse" (NW. S. 17-19) und zu den "Voraussetzungen politischen Handelns" (NW. S. 19-20) auf eine makabre Weise: Es finden sich keine argumentativen Bemühungen wie noch im Hessen-Plan, sondern nur noch Setzungen. Die Instrumentalisierung der Geschichte hat sich gegenüber den hessischen Richtlinien noch verschärft - hier im allgemeinen Teil im Dienste vage bezeichneter gesellschaftlicher Zwecke; im unterrichtspraktischen Teil, wie noch zu zeigen ist, im Dienste einer eindimensionalen, Alternativen ausblendenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Das politisch-pädagogische Überzeugungsmodell wird zur Katechismusdidaktik. [/S. 52:]