"Individuelles Geschichtsbewusstsein" erscheint nicht als vorwissenschaftliche Erfahrung, die im Geschichtsunterricht zu rationalisieren wäre, sondern allein als Ergebnis von "Vorurteilen, Normen und emotionalen Einstellungen", die nicht nach Wahrheit und Begründbarkeit befragt werden und also von vornherein als Negativ-Syndrom gelten. "Einstellungen" haben eine individuelle und soziale Absicherungs- und Rechtfertigungsfunktion, die "überprüft" (S. 17) - mit anderen Worten: entlarvt - werden muss. Der Unterricht G/P hat mit diesem sog. Historischen Aspekt permanent falsches Weltbewusstsein zu destruieren. "Prüfungs"-Kriterium ist ein nebuloser Praxisbegriff.

Selbstverständlich sind Geschichtserfahrung, Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht an "erkenntnisleitende Interessen" angekoppelt (Habermas). Aber die Rückkoppelung auf die Geschichte führt die "disziplinierte Wahrheitssuche" (Rothfels), woher sie auch immer ansetzen mag, in der Begegnung mit sperrigen, unbequemen Tatsachen zu Urteilskorrekturen, ggf. zur Transzendierung der aus der Gegenwart mitgebrachten Begrifflichkeit. So vermag auch der marxistische Historiker dem "bürgerlichen" die Erkenntnis von Teilwahrheiten durchaus zuzugestehen und vice versa dieser jenem. Auf den Unterschied zwischen Genese und Geltung wissenschaftlicher Aussagen hat unlängst Thomas Nipperdey eindrücklich verwiesen (15). Von der in dieser Hinsicht emanzipatorischen Funktion eines reflektierten Umgangs mit der Geschichte ist in den Ausführungen zum "Historischen Aspekt" nirgends die Rede.

Sollten die vom Diktat einer totalen Ideologieverfallenheit der Historie betroffenen Lehrer und Schüler bewegt worden sein, jegliches Zutrauen in eine wie auch immer relative Möglichkeit objektiver, wahrer, durch Geschichtswissenschaft vermittelter Einsichten aufzugeben, so werden sie einige Seiten später von den NW-Rahmenplänen (S. 20) ohne jede Begründung auf das Gegenteil verpflichtet: Im Kapitel [/S. 53:] "Voraussetzungen politischen Handelns" erscheinen plötzlich "objektive Entwicklungstendenzen", "objektive Bedingungen", die man kennen muss und auf die hin das "subjektive Handeln" auszurichten ist, weil "historische Veränderungen aus dem Einklang von subjektivem Handeln und objektiven Bedingungen bewirkt werden" (S. 20). Wie man zu dieser "Kenntnis" (so heißt es im Text statt: Erkenntnis) gelangen kann, dass es dafür fachspezifische Methoden gibt, welcher Art sie sind und wie sie in Lernzielbestimmungen umgesetzt werden können, davon ist im Rahmenlehrplan keine Rede. (In einen generellen Lernzielimperativ übertragen, würde der zweideutige Gedankengang des Rahmenplans sich so darstellen: Du sollst Dein Handeln an objektiven Bedingungen orientieren, die Du zwar nicht selbst erkennen kannst, die Dir aber zur Kenntnis gebracht werden!) Auch an dieser Stelle enthüllt sich also ein Dezisionismus, für den die Geschichte nichts weiter als ein abrufbares Sortiment von Stützmaterialien ist.

Mit der im zweiten Abschnitt der generellen Ausführungen im NW-Plan der historischen Analyse zugeschriebenen Leistung, ein "Bewusstsein der Veränderbarkeit aller gesellschaftlicher Verhältnisse" zu bewirken, ist ein richtiger Sachverhalt herausgestellt, der dann aber sofort wieder durch Verabsolutierung pervertiert wird. Die Veränderung wird zum Fetisch, die Frage nach ihrer Vernünftigkeit bzw. Unvernunft kommt nicht in den Blick. Geschichtliche Sensibilität, die in der Lage ist, die "neuen Schnittlinien progressiver und bewahrender Interessen zu erkennen", wie sie der geschichtsbewusste Bundeskanzler jüngst in seiner Regierungserklärung für die "neue Mitte" forderte, ist bei den Verfassern der Lehrpläne G/P nicht zu entdecken. Infolgedessen fehlen völlig Lernziele, die sich auf die Einsicht gründen, dass unsere Gesellschaft im Laufe langer Geschichte in Kämpfen und Leiden errungene Dinge - Freiheiten etwa - nicht wieder verlieren darf, also bewahren muss. Es fehlt eben das Bewusstsein der Dialektik von Tradition und Fortschritt, das dem modernen "bürgerlichen" Historiker ebenso selbstverständlich ist wie dem marxistischen.

Dem Defizit an wissenschaftlich begründeten Elementen, [/S. 54:] die den Aufbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zum Zwecke einer rationalen Einschätzung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse konstituieren könnten, steht eine Summe von universalen didaktischen Postulaten gegenüber, die den intellektuell redlichen Lehrer, der sie im Unterricht realisieren soll, frustrieren oder empören werden. Dafür abschließend als Beispiel folgender Schlusssatz aus dem zweiten Kapitel des "Historischen Aspekts": "An der Analyse verschiedener Situationen soll der Schüler auch die Fähigkeit entwickeln können, jede Form von Abhängigkeit auf ihre Rechtfertigung zu befragen und die Abhängigkeit, die tatsächlich besteht, von derjenigen zu unterscheiden, die notwendig ist, um auf dem jeweils erreichten Stand aller wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Möglichkeiten Existenz und Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Individuen zu sichern." In dem hier verkündeten Lernziel einer omnipotenten Kompetenz (für Schüler!) meldet sich ein Anspruch, der entweder hybrid oder läppisch zu nennen ist. Mit einer solchen Donquichotterie (16) politischer Bildung wird die notwendige Emanzipation schon im Ansatz verfehlt. Nach der Lektüre solcher Passagen ist man versucht, die Rahmenlehrpläne endgültig beiseite zu legen. Dennoch sei ihr Anspruch am unterrichtspraktischen Teil (S. 29-131) exemplarisch überprüft; vielleicht dass hier die stillschweigende Korrektur überhöhter didaktischer Programmatik erfolgt.