a. Die Funktion geschichtlicher Themen

Da die moderne Industriegesellschaft die geschichtlichste von allen Gesellschaften ist, kann sie nicht ohne geschichtliche Strukturvergleiche und ohne Hilfe langfristiger Konstellationsanalysen begriffen werden; in soziologischer Beschreibung allein ist sie keineswegs erfassbar. Daraus folgt, [/S. 60:] dass die Befähigung zur Beteiligung an der permanenten Aufgabe der Humanisierung dieser Industriegesellschaft ohne ein historisch fundiertes Problembewusstsein nicht möglich ist.

Beim Versuch der didaktischen Strukturierung des Arbeitsbereichs Wirtschaft haben denn auch die Rahmenrichtlinien (Hessen) und Rahmenlehrpläne (NW) geschichtliche Teilstücke eingebaut - so etwa: "Stände im Mittelalter" (H. S. 150, 5./6. Jahrgangsstufe), "Klassen und Schichten im 19. Jahrhundert" (H. S. 150, 5./6. JgSt.) "Grundherrschaft" (H. S. 157 f., 7./8. JgSt.), "Entwicklung des städtischen Gewerbes" (H. S. 159 f., 7./8. JgSt.), "Industrielle Revolution" (H. S. 162-165, 7./8. JgSt.), "Aufbauphase der Wirtschaft nach 1945" (H. S. 181 f., 9./10. JgSt.). Die NW-Rahmenlehrpläne enthalten in der Übersicht über die Jahrgänge 5-10 (S. 92-94) vergleichbare Themenstichworte; eine Ausfaltung in "Lernzielzusammenhänge" liegt vorerst nur für den 5./6. Jg. vor (NW-Plan, S. 95-103).

Bei näherem Zusehen zeigt sich freilich, dass die Lernziele im vorhinein geschichtsfern festgelegt wurden. Erst nachträglich wird dann das jeweils als passend erscheinende historische Material abgerufen, so daß es nur eine Demonstrations-, aber keine Korrektivfunktion mehr erfüllt. Im Grunde stehen also auch hier wieder alle Ergebnisse des Unterrichts bereits von vornherein fest, die Lernziele sind die Leitschienen eines "statischen" Lernablaufs. Um einen dynamischen Lernprozess in Gang zu bringen, bedürfte es einer historisch-politischen Didaktik, die sich in einer gemeinsamen Anstrengung von Lehrenden und Lernenden um die Aufhellung von Fragen bemüht, so dass Resultate nicht durch Lernzieldiktate, sondern durch Verschränkung soziologischer und historischer Arbeitsmethoden zustande kommen. "Aspekte", die nichts anderes sind als zu politisch-didaktischen Zwecken vorfabrizierte Sehschlitze, eröffnen keinen Blick auf den Horizont der Geschichte - sie bringen nur noch isolierte, unverbindliche und unverbindbare Stücke zu Gesicht. [/S. 61:]

b. Lernziele und "Lernziele"

Über diese allgemeinen Feststellungen hinaus ist nunmehr nach der Realisierung des obersten Lernziels im konkreten Lernfeld/Arbeitsbereich Wirtschaft zu fragen. Der hessische Plan bemüht sich auch in diesem Fall um eine differenziertere Bestandsaufnahme der komplexen Lernzielzusammenhänge. Mit Recht wird bei der Problemausfaltung die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik Deutschland ausführlich erörtert. Ihre kritische Betrachtung - hier "übrigens einmal in enger Verschränkung mit der historischen Genese" - schließt wesentliche Kategorien auf, Reformen und Alternativen werden anvisiert, ohne dass den Schülern etwa eine "Systemüberwindung" suggeriert würde - das Leitziel der Befähigung zur Selbst- und Mitbestimmung wird hier ernstgenommen.

Ganz anders verhält es sich bei der Planungsgruppe NW. Hier wird massiv indoktriniert. Ein milderes Urteil würde den Sachverhalt beschönigen. An dieser Stelle kann man auch nicht mehr von einem von Hessen nach NW laufenden Erosionsprozess sprechen, hier ist das hessische Modell schlechthin verfälscht worden. Die behauptete "Übereinstimmung mit den Grundzügen der Vorlage", die Behauptung einer lediglich "sektoriell bzw. punktuell modifizierte(n) Fassung" (NW, Vorbemerkungen, S. III) kann danach nicht mehr aufrechterhalten werden.

Während die hessischen Planer die Marktwirtschaft durchaus ernsthaft zur Debatte stellen, haben die Verfasser der NW-Pläne sie bereits - sozial hin, sozial her - in aller Stille hingerichtet und beerdigt. Nicht dass sie keine Freunde dieser Wirtschaftsverfassung sind, ist ihnen vorzuwerfen, sondern dass sie der Axiomatik des Lernbereichs G/P entgegen dem Gegner - um im Bilde zu bleiben - nicht öffentlich (d. h. im Unterricht) einen fairen Prozess machen, wozu außer Anklägern auch Verteidiger gehören. Mit der Verfahrensweise der NW-Rahmenpläne ist eine Grenze überschritten, jenseits derer eine wissenschaftliche Auseinandersetzung kaum noch möglich ist.

In den hessischen Rahmenrichtlinien wird im Lernfeld [/S. 62:] Wirtschaft bei der Beschreibung des "Lernzielzusammenhangs 1: Voraussetzungen und Bedingungen der Produktion" die Frage der Bedürfnisbefriedigung und im Zusammenhang damit die der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erörtert und folgende Aufgabe gestellt: "Bezogen auf die Wirtschaftsverfassung der BRD müsste dabei auch geprüft werden, inwieweit die soziale Marktwirtschaft in Theorie und Praxis gewährleistet, dass die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse (z. B. im Infrastrukturbereich; Schulbau, Krankenhäuser, Kindergärten; Arbeitszeitverkürzung) zum Maßstab von Produktions- und Investitionsentscheidungen wird" (H. S. 134).

Dieser Satz wurde in den Rahmenlehrplänen von NW wie folgt geändert: "Bezogen auf die Wirtschaftsverfassung der BRD müsste dabei auch geprüft werden, inwieweit das Prinzip der Gewinnoptimierung in einer erwerbswirtschaftlich bestimmten Wirtschaftsordnung erschwert bzw. verhindert, dass die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse (z. B. Schulbau, Krankenhäuser, Kindergärten) zum [als?] Maßstab bei Produktions- und Investitionsentscheidungen im notwendigen Umfange berücksichtigt wird (LZ. 1-14)" (NW. S. 81).

Die hier vorgenommene Umpolung bedarf keines weiteren Kommentars. Ihr Sinn ist eindeutig. Folgerichtig ist dann auch die völlige Eliminierung des im Hessen-Plan ausführlich erörterten Spannungsfeldes "Soziale Marktwirtschaft". Denn auf die Konkretisierung der oben geforderten "Prüfung" käme es nun an - gemäß der Selbstbestimmungsnorm, gemäß dem Gebot der Wissenschaftlichkeit, gemäß der Fundamentalforderung jeder rationalen Didaktik. Anstelle der in den hessischen Richtlinien auf zwei Druckseiten skizzierten historischen und ökonomischen Probleme der Marktwirtschaft (S. 136 und 137) enthält der NW-Rahmenplan nur noch acht Zeilen darüber, in denen der konkrete Gegenstand in leeren Redensarten verflüchtigt ist. Warum diese merkwürdige Zurückhaltung? Es gibt nur zwei mögliche Antworten: entweder weil die Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik nicht einmal mehr einer Debatte für wertgehalten wird oder aus Tarnungsgründen. [/S. 63:]

Die Prämissen und die Konsequenzen der Umpolung werden in Einschüben versteckt, die sich erst bei einem sorgfältigen Vergleich der Lehrpläne erkennen lassen. Dafür einige hervorstechende Beispiele:

Die hessischen Rahmenrichtlinien formulieren unter der Überschrift "Konflikte und Krisen" (Lernzielzusammenhang 3): "Die Beschreibung wirtschaftlicher Abläufe wird erst lernrelevant, wenn die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen miteinbezogen werden, durch welche die jetzige und spätere Stellung des Schülers im Wirtschaftsprozess bestimmt wird (Arbeit - Konsum - Freizeit). Da dieser Zusammenhang auf ein zentrales Moment gesellschaftlicher Interessenauseinandersetzung verweist, müssen Erklärungsmodelle für wirtschaftliche Vorgänge daraufhin untersucht werden, welche Vorstellungen sie über deren Voraussetzungen, Abläufe und Auswirkungen vermitteln" (H. S. 130).

Dieser Absatz ist in den NW-Plänen durch mehrere Einschübe (hier zwecks Kenntlichmachung kursiv gesetzt) in einen anderen Aggregatzustand gebracht worden. Der NW-Text lautet: "Die Beschreibung wirtschaftlicher Abläufe und ihrer widersprüchlichen Entwicklung wird erst lernrelevant, wenn... Da dieser Zusammenhang auf ein zentrales Moment gesellschaftlicher Interessenauseinandersetzung (Kapital - Arbeit) verweist, müssen die Erklärungsmodelle, die in diesem Bereich auftreten, auf ihren Rechtfertigungscharakter hin untersucht werden" (NW. S. 82).

Im Anschluss an den oben zitierten Hessen-Text werden dort Untersuchungsaufgaben formuliert, u. a. sollen untersucht werden: "monokausale Erklärungen sozioökonomischer Zusammenhänge (z. B. Schuld an inflationären Tendenzen ist allein die Währungspolitik der Regierung, Lohn-Preisspirale...)." Die NW-Planer formulieren die Untersuchungsaufgabe in folgender Weise um: "Erklärungsversuche; die sozioökonomische Zusammenhänge in voneinander isolierte Teilbereiche auflösen", um dann in einer in den hessischen Richtlinien nicht enthaltenen längeren Darstellung die Wettbewerbsthese ad absurdum zu führen und den Manipulationscharakter von Erklärungen aufzuweisen, durch [/S. 64:] welche "der Gegensatz zwischen Unternehmerinteressen und den Interessen der Arbeitnehmer ... verdeckt" wird (NW. S. 82 und S. 83).

Eingeschoben in die hessische Vorlage haben die NW-Planer weiterhin die folgenden Lernziele 5 und 6: "5. lernen, dass Geld und Sachvermögen nur durch Arbeit im Produktionsprozess entsteht und sich vermehrt; 6. lernen, dass ein untrennbarer Zusammenhang besteht zwischen den Formen der Produktion und der Verteilung bzw. Aneignung der wirtschaftlichen Güter."

Neben den Einschüben finden sich im NW-Plan charakteristische Auslassungen wie z. B. folgende: Das erste Lernziel in Hessen lautet: "erkennen, dass die Grundstrukturen gesellschaftlicher Wirklichkeit ökonomisch mitbedingt sind (auch unter Berücksichtigung der Mobilität sozialer Gruppen)" (H. S. 134). Im NW-Plan heißt es stattdessen: "erkennen, dass . . . ökonomisch bedingt sind" (NW. S. 85). Mit einem Federstrich ist die in Hessen vertretene Interdependenz der gesellschaftlichen Bereiche aus der Welt geschafft und an ihrer Stelle die Priorität der ökonomischen Faktoren gesetzt worden.

Die hessischen Richtlinien wollen im Lernzielzusammenhang 3 u. a. ausdrücklich untersucht wissen "die Behauptung, bei einer Sozialisierung der Verfügungsgewalt würde die Wirtschaft krisenfrei funktionieren" (H. S. 139). Diese Aufgabe fehlt im NW-Plan ebenso wie der im Lernfeld 3 des Hessen-Plans (Öffentliche Aufgaben) skizzierte kritische Ansatz, der nicht nur die gesellschaftlichen Binnenverhältnisse (BRD), sondern auch die gesellschaftlichen Gegenbilder unter die Lupe genommen haben und den Schülern bewusst machen will, was es bedeutet, "wenn in einer Gesellschaft die für die Schüler meist selbstverständlichen institutionellen und verfassungsrechtlichen Sicherungen zur Wahrnehmung unterschiedlicher Interessen fehlen (Pressefreiheit; Mehrparteiensystem; Gewerkschaften; unabhängige Rechtsprechung u. a.)" (H. S. 196).

Ausgelassen sind in den NW-Rahmenplänen. schließlich die hessischen Lernziele 17 und 18:

"17. lernen, die wirtschaftliche Entwicklung der BRD im [/S. 65:] Zusammenhang mit den binnen- und außenwirtschaftlichen Bedingungen nach 1945 zu sehen,

18. die besonderen Bedingungen der Aufbauphase unter Berücksichtigung der politischen Verhältnisse entwickeln zu können" (H. S. 138).

Die Aussparung dieser Lernziele in den NW-Plänen ist gemäß der unverkennbaren dogmatischen Intention logisch durchaus folgerichtig: wo das Urteil für Lehrer und Schüler von vornherein festzustehen hat, da bedarf es keiner differenzierten Erörterung des historischen Kontextes der sozialen Marktwirtschaft mehr; Geschichte als potentielle Ideologiekritik ist unerwünscht.

Die "Soziale Marktwirtschaft" ist sicherlich nicht sakrosankt, sie muss am Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes gemessen werden. Man kann als Bürger dieses Staates Verfechter eines demokratischen Sozialismus sein und braucht als Lehrer keinen Hehl aus einer solchen Überzeugung zu machen. Unerträglich ist aber jede Art von Indoktrinierung, erst recht einer unterschwellig pädagogischen, wie sie der NW-Rahmenlehrplan Gesellschaft/Politik vornimmt.

Was wollen die NW-Planer an die Stelle der schlechten Wirklichkeit setzen? Wie sieht die bessere Gesellschaft, wie sieht der bessere Staat aus? Darüber ist nichts Genaues ausgesagt. Manche Indizien sprechen dafür, dass die NW-Lehrplaner eine klassen- und schichtenlose, konfliktfreie Gruppengesellschaft als Ziel im Auge haben, in der partikulare Interessenvertretungen nicht mehr möglich und notwendig sind. Mit dieser vagen Alternative stehen die NW-Rahmenpläne in der Linie einer traditionellen politischen Pädagogik in Deutschland, die in der Sehnsucht nach Harmonie der Idee der "gemeinschaftlichen Vergesellschaftung" verfallen bleibt (21) - mit einem spezifischen Qualitätsunterschied: sie ist anderswo bereits klarer und deutlicher vertreten worden. Wohin diese irrationale Doktrin der "Systemüberwindung" uns führen könnte, haben die Verfasser der Lehrpläne geradezu klassisch vorgeführt: zur Unterdrückung anderer Anschauungen, zur pädagogischen Annullierung des Rechts auf Autonomie. [/S. 66:]