Es ist den Verfassern wohl bewusst, dass Erziehung und Schule nur aus dem Kontext der gesellschaftlichen Gesamtverhältnisse verstehbar sind. Wenn dennoch unter dem Lernziel der Einsicht in die Veränderbarkeit heutiger Sozialisationsformen die Erziehung für sich thematisiert wird - und zwar in kleinen Querschnitten von der griechischen Antike bis ins 19. Jahrhundert -, so geschieht das, was im grundsätzlichen Teil abgelehnt wird: eine Isolierung von nur noch als kurios erscheinenden vergangenen Erziehungsformen. Zwar soll - das wird sogar durch eine Graphik (H. S. 29) verdeutlicht - irgendwann in den beiden Schuljahren 5/6 durch Aufarbeitung der anderen Lernfelder doch ein Gesamtzusammenhang hergestellt werden: aber das Auseinanderreißen des Themas "antike Gesellschaftsformen" lässt genau das nicht zu, was die Verfasser als vielschichtige historische Analyse fordern (17). Es gilt für dieses Vorgehen das gleiche, was sie dem chronologischen Durchgang vorwerfen: der Stoff, den man später braucht, ist längst vergessen (H. S. 22).

Dieser Einwand gilt nun nicht etwa nur für dieses Beispiel; er trifft die Anlage des Unterrichts überhaupt. Sie verhindert eine Gesamtanalyse und erschwert gerade den wichtigsten Lerneffekt des Geschichtsunterrichts: die Erkenntnis der Interdependenz von politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen Faktoren. Die vorweg entschiedene Vierteilung der Aspekte lässt das eigentliche Lernpotential der Geschichte nicht oder nur sehr gebrochen zur Geltung kommen. Das im allgemeinen Teil proklamierte Strukturprinzip als Kern von Gegenwartsbezug wird damit wieder in Frage gestellt, um so mehr, als es ausdrücklich heißt, dass die Beispiele nicht in den Zusammenhang ihrer Zeit gerückt werden sollen (H. S. 61 f.). Damit wird Geschichte zum großen Raritätenkasten; weder Struktur noch Prozess werden erfahrbar. Das wird im vierten Lernfeld am krassesten deutlich: dort ist z. B. unter dem Aspekt "Krieg" nur noch abrufbares [/S. 56:] Beispielmaterial aufgeführt. Die großen Revolutionen sind nur noch "Beispiele", die sich "anbieten", die Rolle des Militärs zu erkennen (H. S. 297).

Dieser erste grundsätzliche Einwand wird noch verstärkt durch die Diktatur der Lernziele, die hier nicht in Wechselwirkung mit dem historischen Potential und seiner Aussagekraft einerseits, mit den Methoden rationaler Befragung des Materials andererseits entwickelt werden, sondern die vorweg verordnet sind. Auf diese Weise ist "lernzielorientierter Unterricht" denaturiert.

Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum die hier vorgelegten Konstruktionen einem Geschichtsunterricht vorzuziehen sein sollen, der in sozial- und strukturgeschichtlichem Zugriff z. B. "die Ablösung der ersten Demokratie in Deutschland durch den Faschismus" (H. S. 237) (18) als ein Thema aufgreift und es in seinen wichtigsten Aspekten zusammenhängend erarbeitet: Dann erst gewinnen z. B. besondere Erziehungsformen in Bünden und Schule, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die politischen Institutionen und die politische Psychologie der verschiedenen Gruppen sowie die institutionellen Regelungen miteinander Aussagekraft für die Erkenntnis eines Prozesses regressiver Veränderung von Gesellschaft. Nur in diesem Kontext sind die Problematisierungen möglich, von denen man sich den Transfer historischer Einsichten in politische Reflexionsfähigkeit erhoffen kann.

Zerschlagung der bedeutenden historischen Themen und der sie konstituierenden Zusammenhänge in Manipelformation öffnet die Tür zur Manipulation. Man könnte einwenden, dass dies durchaus nicht der Fall sein müsste; dass eine Unterrichtsorganisation möglich sei, die doch durch Zusammenschiebung der historischen Themenstichworte zur Strukturanalyse vorstößt. Wenn das so ist, dann liegt es jedenfalls nicht im Ansatz der Richtlinien. Dass es nicht so sein soll, zeigt die sorgfältige Aufsplitterung von Aspekten; die gelegentlichen Hinweise auf Rückgriffe haben Alibifunktion. Dass es nicht so sein kann, zeigen nun die zitierten Materialien, die "als Grundlage für die Arbeit der Gruppen" gedacht sind (H. S. 5). [/S. 57:]

Damit ist ein Punkt berührt, der in doppelter Weise die Diskrepanz zwischen Grundsatzformulierungen und praktischer Ausführung betrifft. Richtlinien müssen ja nicht Literaturhinweise, Verweise auf Arbeitsmaterialien geben. Wenn sie es trotzdem tun, dann zeigen diese Hinweise besser als die Erörterungen über Grundlegung oder Ausführung des Unterrichts, welcher Bewusstseinsstand und welche Tendenz eigentlich hinter solchen Richtlinien stehen. Die Hinweise zu den einzelnen Themenstichworten sind ein Sammelsurium von Titeln, die, ungenau und unterschiedlich zitiert, Konzeptlosigkeit und mangelnden Informationsstand offenbaren; für wissenschaftlich ausgebildete Lehrer sind sie, an so anspruchsvoller Stelle veröffentlicht, ein Skandalon. Nicht nur fehlt die wichtigste wissenschaftliche Literatur zu den Abschnitten; es wird am keiner Stelle der Angaben zu geschichtlichen Themen die Literatur für die unterschiedlichen Zwecke (Lehrervorbereitung, Schülerreferate usw.) gewichtet. Wenn auf dieser Basis - die die Verfasser ausdrücklich als ihren Informationsstand bezeichnen (H. S. 5) - Unterricht gegeben wird, kann von "vielschichtiger historischer Analyse", wie sie gefordert wird, nicht die Rede sein. Wir ersparen uns, die Defizite anzuführen. Nur als Beispiel sei hingewiesen auf die Materialien zum Themenstichwort "Schule als Institution in historischer Sicht". Die Verfasser kommen zu der seltsamen Bemerkung, dass "konkrete Materialhinweise schwer zugänglich" seien. Nur Bungerts Buch, "Die Odyssee der Lehrerschaft" fällt ihnen neben Wilhelm Buschs "Lehrer Lämpel" ein (H. S. 67). Nun ist offenkundig, dass gerade zur Erziehungsgeschichte eine Vielzahl von leicht zugänglichen Quellensammlungen und neuerer Literatur vorliegt (19). Man darf gespannt sein, welches Material in "Auszügen" vorgelegt werden wird.

Dies ist ein weiteres Zeichen der Wissenschaftsfremdheit und der Unterordnung historischen Materials unter politisch fixierte Ziele. Mit gleichem Ergebnis kann man alle Hinweise zu Themen durchgehen - und es ist schon fast zu harmlos anzunehmen, dass sich in den Materialangaben wirklich der Informationsstand der Bearbeiter spiegelt (H. S. 5). Es ist nicht auszudenken, welche Manipulationsmöglichkei- [/S. 58:] ten über festgelegte Lernziele und selektierte Information, durch Lieferung von Unterrichtsmaterial und durch wissenschaftlich nicht mehr reflektierte, trotz verhüllender Sprache sehr massive "Parteilichkeit" in Richtlinienformulierungen sich anbieten, wenn das wissenschaftliche Studium der Lehrer allgemein auf sechs Semester beschränkt werden würde.

Die aufgeführten Materialien zeigen aber noch ein anderes Charakteristikum, das den Widerspruch zwischen allgemeinen Ausführungen und unterrichtspraktischem Teil deutlich macht. Als Materialien werden z. B. Lykurg für die Erziehung in Sparta, Parzival für ritterliche Erziehung angegeben und Heinrich Manns Roman "Der Untertan" (nach der Häufigkeit der Zitierung wohl die Standardlektüre der Verfasser über das 2. Kaiserreich) für bürgerliche Erziehung. Da man nun nicht annehmen kann, dass in den Klassen 5/6 Plutarchs Kunstform, seine "Interessen" und sein Aussagewille über eine Zeit, die für ihn mehr als ein halbes Jahrtausend zurücklag, erarbeitet werden kann und soll, bleibt der Schluss, dass die Verfasser dem "objektivistischen Irrtum" erliegen und die jeweiligen Bedingungen der Aussage, sobald sie nicht mehr allgemein reden können, vergessen. Es soll doch wohl die "Erziehung" Dietrich Heßlings, wie sie im Roman H. Manns "Der Untertan" beschrieben wird, als Material für die Wirklichkeit ausgegeben werden - sonst wäre ja der Hinweis auf das erste Kapitel unsinnig. Diese bewusst und mit bestimmter politischer Absicht kunstvoll stilisierte Biographie naiv als Quelle zu nehmen für die Erziehung am Ende der Bismarckzeit - das zeugt nicht von einem reflektierten Geschichtsverständnis. Nach dem eigenen Anspruch müssten die Schüler in der Jahrgangsstufe 5/6 diesen Roman in seiner politischen Tendenz im Jahre 1918 vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des monarchischen Staates als eine politische Satire und Kampfschrift begreifen; selbst hochfliegender pädagogischer Optimismus wird ihnen das nicht zutrauen. Es ist nun zu ahnen, warum man auf die didaktische Aufbereitung fachwissenschaftlicher Methoden verzichtet: man kennt sie entweder nicht oder will sie nicht verbreiten, weil es dann nicht mehr möglich ist, Dichtung [/S. 59:] für Wahrheit auszugeben, anders ausgedrückt: vorgesetzte Lernziele zu erreichen. So fällt man hinter die vergangenen zweihundert Jahre der Wissenschaftsgeschichte zurück. Aber es war ja eine "politische" Entscheidung, Fachverbände und Hochschulen nicht zu beteiligen (20).

Wie eine solche Entscheidung sich in Unterrichtssteuerung umsetzen kann, die den Rückbezug auf die Fachwissenschaft durchkreuzt, soll durch einen letzten Hinweis noch einmal verdeutlicht werden. Die Materialhinweise zum Themenstichwort "Militär und Innenpolitik" wissen an Literatur außer der von Wehler herausgegebenen Aufsatzsammlung Kehrs nichts anzugeben, soweit es die innenpolitische Rolle des Militärs in Deutschland vor 1914 betrifft. Aber den bekannten Passus aus der Rede Oldenburg-Januschaus, den weiß man wohl und zitiert ihn wörtlich - das einzige Quellenzitat überhaupt -, bringt ihn als Unterrichtsmaterial handlich an den Lehrer heran: ohne Zitatnachweis (man könnte ja weiterlesen!), ohne Hinweis auf die kritische Reflexion dieser extremen Aussage im Verfassungskontext. Sie wird zum repräsentativen Zeugnis der inneren Struktur des zweiten Reiches verfälscht.

So sieht der Beitrag der Geschichte zum politischen Ziel dieses didaktischen Entwurfs aus, wenn man auf die praktischen Anweisungen sieht. Allerdings - das alles wird ja nur zur "Diskussion" gestellt (H. S. 298). Wie die Rahmenlehrpläne in NW ihr Muster in dieser Hinsicht noch übertreffen, soll am Lernfeld II gezeigt werden.