Es ist unbestritten, dass Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der industriellen Gesellschaft mit neu zu organisierenden Ansätzen - in Lernzielen, Lernpotential, Lernverfahren - und in Kooperation mit anderen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern eine bedeutsame Aufgabe zur Steigerung von Rationalität und Humanität als Voraussetzungen verantwortlicher Selbst- und Mitbestimmung zu leisten haben. Unbestritten ist auch, dass diese vorhandenen neuen Ansätze bislang noch nirgends in ein überzeugendes System gebracht sind. Noch fehlt eine Alternative zu den hier kritisierten Lehrplänen in gleich geschlossener Form.

Wenn diese Lehrpläne ein Verdienst haben, so dies, die Notwendigkeit der Alternative unübersehbar zu fordern. Denn sie machen das Potential, das in der Aufarbeitung der Geschichte zu dem oben genannten Ziel liegt, unwirksam.

Es ist ihnen zum Vorwurf zu machen die Eliminierung des kritischen Potentials wissenschaftlicher Reflexion zugunsten nichtdurchreflektierter Voreinstellungen und diffuser Ausgangs- und Zielpunkte hinsichtlich der Vorstellung von gegenwärtiger Gesellschaft und ihrer Veränderung. Sie lassen die Einsicht vermissen, dass es die Aufgabe der Schule in der demokratischen Gesellschaft ist, nicht die Heranwachsenden mit - wie immer begründeten - Meinungen und Sichtweisen zu umstellen und ihnen diese als die "wahre" Wirklichkeit auszugeben, sondern ihnen die Denkformen, Begriffe, Fragestellungen, Fertigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, die nötig sind, um selbst zu verantwortende Entscheidungen treffen zu können. Unterricht ist nicht Propaganda oder Agitation. Wo das vergessen oder wegdiskutiert wird, entsteht ein Unterrichtsmodell, das missbrauchbar ist von autoritären und totalitären - undemokratischen - Erziehungs- und Verfassungssystemen, mag es selbst sich auch als "demokratisch" missverstehen, Solche "demokratische" Erziehung kann Demokratie nicht erhalten oder hervorbringen. Erziehung für die Demokratie ist heute, in einer wissenschaftsgeleiteten und wissenschaftsbedürftigen Welt, nicht [/S. 67:] mehr denkbar durch Zurückdrängung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fragestellungen hinter scheinbar vorrangige didaktisch-politische Entscheidungen, durch die Priorität direkter Verhaltensschulung über die Befähigung zu selbständiger Urteilsbildung.

Es kommt vielmehr darauf an, den zweifellos schwieriger gewordenen Prozess der Gewinnung und Verarbeitung von Informationen, der Urteilsfindung und Verhaltensbegründung durch die didaktisch verantwortete und überprüfte weitere Hineinnahme des in der Wissenschaft aufgearbeiteten Erkenntnis- und Problemstandes zu ermöglichen. Diese Anstrengung durch den Rückzug auf eine politisch-didaktisch vorweggedeutete Welt zu umgehen und nur passende Teilerkenntnisse zuzulassen, führt in eine didaktische und politische Sackgasse, ist Rückschritt, Regression, mag sie auch im progressivsten Vokabular auftreten. Das irrationale Element, in den hessischen Richtlinien schon greifbar, in den nordrhein-westfälischen Rahmenlehrplänen dominierend, ist eben dieser Rückzug vor der komplizierter werdenden, wissenschaftlich verantwortbaren Deutung der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in die großen, "einfachen" Schneisen politischer Sehnsucht - Nostalgie auf didaktisch (22). Regressiv ist die Weigerung, sich und die Schüler den großen Kontroversen, auch den Aporien der Gegenwart auszusetzen; regressiv ist die Selbstgewissheit und die Ungebrochenheit des eigenen Anspruchs, ist das verhüllt, aber zugleich penetrant sich vordrängende Sendungsbewusstsein einer Gruppe von neuen Praeceptores Germaniae; Regression zeigt schließlich das mit einem solchen Anspruch kontrastierende Niveau der Ausführungen wie des wissenschaftlichen Informationsstandes.

Autoritär und gerade nicht im Sinne der selbst in Anspruch genommenen Ziele aber ist die Methode, sehr eng führende und den Unterricht weithin vorprogrammierende Richtlinien zu erlassen. Wer auch nur ein wenig aus der Geschichte der Versuche zu Schulreformen gelernt hat, müsste wissen, dass es nur einen Weg gibt, in einem Staate, der nicht ein Staat des Gesinnungszwanges sein will, Reformen in diesem verflochtenen Gebiet erfolgreich anzusetzen: den [/S. 68:] Weg der Überzeugung, der vollen Mitbeteiligung der am Erziehungsprozess Beteiligten (23), der Diskussion und des Geltenslassens von unterschiedlichen Positionen und des gewiss nicht einfachen, aber durchaus möglichen Findens eines Consensus. Aber dazu gehört neben Geduld auch die Einsicht, dass man möglicherweise mit seiner eigenen Konzeption nur eine Teilwahrheit gefasst hat, die zur Unwahrheit wird, wenn sie sich absolutsetzt.

In der didaktischen Literatur wie in der Praxis des Unterrichts und der Lehrerausbildung gibt es eine Vielzahl von Modellen, Versuchen und Anregungen, die die Schwächen des alten Geschichtsunterrichts überwunden und neue Konzeptionen entwickelt haben. Eine gut beratene Unterrichtspolitik würde nicht auserlesene, geschlossene Zirkel mit der Erarbeitung von Programmen beauftragen, die dann als Erlasse erscheinen; sie würde vielmehr die Möglichkeiten vermehren, dass die im Gang befindliche vielfältige Reform im Bereich der Fächer der Gesellschaftslehre sich selbst weiter ausbreiten und durchsetzen kann. Nicht Klausuren von genehmen brain-trusts, sondern offene Tagungen, Fortbildungs- und Versuchsmöglichkeiten für alle Lehrer und an allen Schulen müsste eine Kultusbehörde, in dem Wissen, dass sie in paedagogigicis kein Mandat, keine innere Legitimation für Programme, sondern nur die Pflicht hat, für die Möglichkeit der Entwicklung aller Potenzen zu sorgen, die - im Rahmen unserer Verfassung - an der Verbesserung des Unterrichts arbeiten. Das ist unbequemer als der Umgang mit selbstberufenen Kommissionen, aber das eben wäre - nach unserem Verständnis - demokratisch.

Sehr nachdrücklich muss man fordern, dass diesen Konzeptionen eine wissenschaftsbezogene Didaktik für eine moderne, demokratische Schule entgegengesetzt wird. Gerade wenn man der Ansicht ist - wie die Verfasser -, dass unserer Gesellschaft eine integrierte und zugleich differenzierte Gesamtschule Not tut, ist die Art, in der in einer solchen allgemeinen Schule unterrichtet wird, von höchster Bedeutung.

Diesen Richtlinien muss ein Konzept entgegengesetzt werden, das jene verstreuten und unklaren Ansätze, die in den hessischen Richtlinien immerhin zu finden sind, auf- [/S. 69:] nimmt und ausbaut, die zur Rationalität des Denkens, Urteilens und Verhaltens durch Reflexion auf Geschichte beitragen könnten; die Rahmenlehrpläne von NW führen genau in die entgegengesetzte Richtung. Eine "Vollintegration", wie sie dort propagiert wird, ist nichts anderes als die Liquidation der Möglichkeit, aus aufgearbeiteter Vergangenheit zu lernen. Vor diesen Plänen ist nicht nur aus wissenschaftlicher und didaktischer, sondern auch aus politischer Verantwortung zu warnen. "Nur im Bewusstsein und im Horizont geschichtlicher Erfahrung kann gewonnene Wahrheit, erreichte Freiheit bewahrt und behütet werden, kann erkannt werden, was zu tun sei, dass sie nicht wieder verschwänden. So sicher wir nicht so frei sind, wie wir sollten, und also fortzuschreiten haben, so sicher haben wir Freiheiten zu verlieren, also zu verteidigen, zu verspielen, also zu bewahren. Wir sind von Rückfällen bedroht, und so ist dem Fortschritt geschichtliches Bewusstsein nicht entgegengesetzt, vielmehr gehört es konstitutiv zu ihm. Wir brauchen geschichtliches Bewusstsein nicht zur Legitimation von Privilegien, sondern zur Sensibilisierung gegen Regressionen, die ja stets unter dem Schein des Fortschritts auftreten" (24).