Probleme müssen in Fragen umgesetzt werden. Die Frage ist offen für alternative Antworten, sonst wäre sie keine Frage mehr. Sie leitet den Prozeß der Erkenntnisgewinnung ein, ohne das Ergebnis zu präjudizieren. Wenn auch die Frage selbst auf keine spezielle Antwort festgelegt ist, so richtet sie sich doch auf eine bestimmte Klasse von Antworten, in deren Rahmen eine sinnvolle Antwort möglich ist. Wenn die Beziehung zwischen Frage und Antwort in diesem Sinne offen ist, können Fragen weder wahr noch falsch sein. Diese Prädikate kommen nur den Voraussetzungen der Fragen zu; sie selbst können nur sinnvoll oder sinnlos sein. Der Zusammenhang von Fragerichtung und jener Klasse von Antworten, innerhalb deren eine sinnvolle Antwort gefunden werden kann, gibt das Begründungsprinzip einer Disziplin ab. Eine prinzipiell gleichbleibende Fragerichtung, die [/S. 373:] sich bestimmter Methoden bedient, institutionalisiert sich als Wissenschaft. Die Fragerichtung ist deshalb als die "kognitive Ausdrucksform unseres jeweiligen Interesses an der Welt" (42) anzusehen. Die Frage ist ihrer Struktur nach durch Offenheit und Informationsbedürfnis gekennzeichnet. Ihr Wesen ist "das Offenlegen und Offenhalten von Möglichkeiten" (43). Linguistisch gewendet heißt das: "Die Frage ist gegenüber der Antwort, die auf sie folgt, ein Weniger an Information, nicht etwa ein Nichts an Information" (44). Um eine Frage stellen zu können, muß man folglich immer schon etwas wissen. Diese hermeneutische Implikation erfordert als Bedingung der Möglichkeit, Fragen zu stellen, empirisches Vorwissen. Wir wissen weder alles, noch sind wir unseres Wissens gewiß. Wir stellen Fragen, wenn wir uns eines Sachverhalts nicht sicher sind. Insofern ist eine Frage immer auch Zeichen mangelnder Gewißheit. Die Fähigkeit, Fragen zu stellen, ist nicht vorgegeben, sondern muß gelernt werden. Entsprechend den unterschiedlichen Fragerichtungen und den verschiedenen Fragestellungen sind es jeweils andere Sozialisationskontexte, in denen die Fähigkeit, Fragen zu stellen, erworben wird. Die sozialisationstheoretisch fundierte Fachdidaktik wird hier ansetzen müssen, um den Zusammenhang von Lebenspraxis und Erkenntnisweisen in einem organisierten Lernprozeß herzustellen. In den einzelnen erlernbaren Fragen sind formale und inhaltliche Kategorien enthalten (45). Die fundamentalsten wie "Zeit", "Raum" und "Quantität" (wann? wo? wieviel?) ebenso, wie die spezialisiertesten: "Gewordenheit", "Verstehbarkeit", "Rechtfertigung", "Identität" usw. Fachspezifische Fragen implizieren fachspezifische Kategorien. Eine Wissenschaft lernen heißt, ihre grundlegenden Kategorien in Form von Fragen auf die Realität anzuwenden, um sich der Aussageintention dieser Disziplin zu vergewissern. Beim Erlernen einer Wissenschaft ist es nicht von Interesse, daß der Fragende überhaupt eine Antwort erhält, sondern daß er eine Antwort auf seine spezifische Frage erhält. "Zu fragen verstehen heißt verstehen lernen, was zugehörige von unzugehörigen Antworten unterscheidet" (46). [/S. 374:] Die hier vorgenommene Betonung des Fragecharakters von Wissenschaft und Alltagswissen ist nicht allein für eine Theorie der Didaktik der politischen Bildung von Interesse, sondern hat eminente praktische Konsequenzen für die Unterrichtspraxis wie für die Konzeption von Schulbüchern: Das Erlernen von kategoriengesättigten Fragen ist die Voraussetzung für prozeßorientierten und schülerzentrierten Unterricht. Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, die unterschiedlichen Frageweisen anzuwenden: Was bedeutet die quantifizierend-statistische Argumentationsweise bei der Untersuchung des Problems "Kernenergie"? Welchen Aussagewert haben mit statistischen Methoden errechnete Sicherheitsrisikos und statistische Prognosen? Welche Erfahrungen machte man in der Vergangenheit mit der Einführung neuer Technologien? Welche Motive und Interessen begleiteten sie? Welche neuen Arbeitsplatze schufen und welche vernichteten sie? Läßt sich dieser Vorgang quantifizieren? Wie legt man eine empirische Befragung an, und wie aussagekräftig ist sie? Ist eine Antwort immer eindeutig richtig oder vielleicht auch ihr Gegenteil? Wie muß man nach standortrelevanten Faktoren fragen? ... Die dieser Unterrichtskonzeption entsprechenden Schulbücher müßten konsequent von explizit ausgewiesenen - auch im grammatikalischen und linguistischen Sinne - Fragestellungen ausgehen, um beim Schüler einen Frage-, Denk- und Untersuchungsprozeß in Gang zu bringen, an dessen Ende ein stets revisionsbedürftiger Entscheidungsakt steht. Einer solchen Konzeption widersprechen diejenigen Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, die sich nur formal und rhetorisch der Frage bedienen. Ihr folgt dann stets die "richtige" Antwort in Form eines "Merke". Die subtilere Variante dieser entmündigenden und affirmativen Konzeption versteckt den Merksatz im Lehrerbegleitheft. Alternativ dazu steht der um Erkenntnisweisen zentrierte Ansatz: Im selbstbestimmten und selbstbewußten Umgehen mit fachspezifischen Frageweisen und Methoden können Schüler ungefächerte gesellschaftlich-praktische Probleme in ein je eigenes Problembewußtsein umsetzen. [/S. 375:]