In den 1980er Jahren ist verstärkt versucht worden, die schulische Berufsorientierung theoretisch neu zu bestimmen und auf eine neue curriculare Grundlage zu stellen. Die Notwendigkeit hierzu wurde in den Veränderungen der beruflichen Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Jugend und in dem Strukturwandel der Arbeitswelt gesehen (vgl. Dedering 2000, S. 338 ff.).

Ein wichtiger Bezugspunkt der theoretischen Arbeiten zur Berufsorientierung war die Realisierung von unternehmerischen Strategien zur Flexibilisierung der Berufsarbeit im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologien und Organisationsstrukturen. Diese zielten - und zielen auch heute noch - auf erweiterte Gestaltungspotenziale der Arbeitenden, über deren Einsatz in den Betrieben oft kurzfristig entschieden wird. Dabei stehen die Arbeitnehmer vor neuen Orientierungs- und Qualifizierungsproblemen, wie sie z. B. unter den Chiffren "häufiger Berufswechsel", "Vermittlung von Schlüsselqualifikationen" und "ständiges Um- und Weiterlernen" diskutiert werden.

Im Wesentlichen bezogen sich die Reflexionen und Vorschläge zur beruflichen Orientierung auf folgende, zum Teil auch empirisch untersuchte Aspekte:

  • Konzentration der Arbeitslehre auf die Kategorie des Berufs mit dem primären Ziel der Aneignung eines kompetenten [/S. 24:] Problemlösungsverhaltens (vgl. Hoppe 1980) bzw. der Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Kahsnitz 1982, S. 6 ff.),
  • Berufsvorbildung, die als komplexe Lernorganisation mit dem Ziel der Berufswahlkompetenz verstanden wird und ihren Schwerpunkt im Berufswahlunterricht im Rahmen der Arbeitslehre hat (vgl. Dibbern 1983; Dibbern 1993),
  • Orientierung an einem ganzheitlichen Berufsbegriff, der die Trennung von Kopf- und Handarbeit, dispositiver und ausführender Arbeit, Erwerbs- und Freizeitarbeit überwindet (vgl. z. B. Famulla 1985, S. 2 ff.),
  • Durchführung von Betriebspraktika als fächerübergreifende Projekte im Lernortverbund (von Schule, betrieblicher Arbeitssituation, Gemeindezentren u. a.) mit der Funktion einer allgemeinen und kritischen Berufsorientierung (vgl. Feldhoff u. a. 1985),
  • Handlungsorientierter Berufswahlunterricht mit einer Ausrichtung auf reale Handlungssituationen der Schülerinnen und Schüler (vgl. z. B. Klippert 1987, S. 49 ff.),
  • Integrative Berufswahlvorbereitung, die Berufswahlunterricht, Betriebserkundungen, Berufsberatung, Einsatz von Medien, BIZ-Besuchen und ein Betriebspraktikum kombiniert (vgl. Beinke 1987),
  • Berufs- und Studienorientierung im Gymnasium (vgl. z. B. Kramer 1988),
  • Kulturorientierte Berufswahlvorbereitung, die die sozialen Lebenszusammenhänge, in die Berufswahl und Berufsausübung eingebunden sind, berücksichtigt (vgl. Mueller 1989, S. 141 ff.) und
  • Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse im berufsorientierten Unterricht (vgl. z. B. Lemmermöhle-Thüsing u. a. 1991-1993).

Diese Ansätze sind in den Folgejahren teilweise weiterentwickelt und erprobt worden. Beispielsweise war der Vorschlag eines integrativen Berufswahlunterrichts von Lothar Beinke Grundlage eines Modellversuchs (von 1993 bis 1996) an sächsischen Mittelschulen. Gegenstand des Versuchs war der fächerübergreifende berufsorientierende Unterricht unter Einschluss von Betriebspraktika und unter Berücksichtigung der Förderung von Berufstätigkeiten für Mädchen (mit besonderer Gewichtung der technischen Berufe). Die Versuchsergebnisse - Durchführung von Betriebserkundungen und eines zweiten Betriebspraktikums, Vorschläge für Projektthemen, Einbeziehung der Berufsberatung u. a. - sind in Sachsen inzwischen in die Schulpraxis umgesetzt worden (vgl. Referate zur Abschlusstagung 1996).

Einen zukunftsträchtigen Reformansatz stellt das "Modell für eine schulformübergreifende, kooperativ gestaltete Berufsorientierung in der Sekundarstufe I" von Karl-Heinz Dammer dar (vgl. Dammer 1997, S. 47 ff.). Es [/S. 25:] handelt sich um ein (im Einvernehmen mit allgemein- und berufsbildenden Schulen entwickeltes) einheitliches Konzept für alle Schüler der 9. und 10. Klassen allgemein bildender Schulen, das unter Berufsorientierung die Vorbereitung auf die Berufswahl versteht und diese als eine "zentrale Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz" definiert. Die Berufswahlvorbereitung soll (zur Auseinandersetzung mit allgemeinen Aspekten von Arbeit und Beruf) in die Pflichtfächer der Bereiche Gesellschaftslehre und/ oder Arbeitslehre integriert werden und in besonderen berufsfeldeinführenden Wahlpflichtkursen erfolgen. Das Modell sieht folgende Arbeitsformen vor:

  • Fachunterricht,
  • Projekte,
  • Praktika,
  • Betriebserkundungen,
  • Schulhospitationen,
  • Schülerpartnerschaften und
  • Maßnahmen zur Öffnung der Schule (Einsatz von Berufsberatern, Betriebsexperten u. a.).

Ein Kernelement des Konzepts ist die räumliche und personelle Zusammenarbeit verschiedener allgemein bildender Schulformen, die auch mit berufsbildenden Schulen in Kontakt stehen. Es kann im Rahmen der bestehenden Stundentafel realisiert werden.

Parallel zu den theoretischen Bemühungen sind die Arbeitslehre-Lehrpläne überarbeitet worden. Dies geschah in den meisten Bundesländern Anfang und Mitte der 1980er Jahre; die anderen, z. B. Bremen, Hamburg und Hessen, folgten in den 1990er Jahren.

In den Neufassungen hat die Vorbereitung auf die Berufswahl gegenüber den frühen Lehrplänen der 1960er und 1970er Jahre eine Verstärkung erfahren. Der Gegenstandsbereich 'Beruf' ist in sämtlichen Lehrplänen relativ umfangreich, in mehreren Plänen hat er sogar einen zentralen Stellenwert (z. B. in den Lehrplänen der Bundesländer Bayern, Berlin und Rheinland-Pfalz). Die neueren Erkenntnisse zur Berufsorientierung haben jedoch kaum Eingang in die Lehrpläne gefunden. Insbesondere ist die zukünftige Entwicklung von Beruf, Qualifikation und Berufsausbildung vernachlässigt worden. Der vorgesehene Berufswahlunterricht ist nach wie vor stark auf Vermittlung berufskundlicher Informationen ausgerichtet, z. B. zur konkreten Berufsfindung. Dabei wird aber stärker auf außerschulische Dienstleistungsangebote zurückgegriffen, z. B. des Arbeitsamtes (in BIZ-Besuchen) und von Betrieben (in Betriebserkundungen und -praktika) (vgl. hierzu Ziefuß 1992, S. 142 ff.). [/S. 26:]

Angesichts dieser Situation in den Curricula kann der geringe Einfluss der Schule auf die Berufswahl der Jugendlichen nicht verwundern. So weisen empirische Untersuchungen darauf hin, dass die Schule als Wirkungsfaktor für die Berufswahlentscheidung in den Augen der Schüler erst nach den Eltern, dem Betriebspraktikum, der Berufsberatung und den Freunden rangiert (vgl. z. B. Kleffner u. a. 1996, S. 21). Diese Feststellung sollte für den Berufswahlunterricht Anlass sein, sich auf seine inhaltlichen Vorteile zu besinnen. Sie bestehen primär in der Vermittlung berufsorientierender Zusammenhänge, während für die konkrete Berufswahl die anderen beteiligten Institutionen und Personen bessere Voraussetzungen haben.