Die Gegenwartsbezogenheit (und Zukunftsbezogenheit) historischen und geschichtsdidaktischen Denkens – so lässt sich zusammenfassen – kann nicht als wissenschaftsfremdes und illegitim politisches Element aufgefasst werden, schon gar nicht als Ausfluss "totalitären Denkens": Sie folgt aus der inneren Logik der historischen Erkenntnis und des geschichtsdidaktischen Denkens.
Die Gegenwartsbezogenheit (und Zukunftsbezogenheit) äußert sich in konkreten Gegenwartsbezügen. Und damit kommen wir zu einem eminent wichtigen Befund, zu einem Befund, der nun einmal in jede Lehrplanplanung eingehen muss, will sie denn den Anspruch haben, zeitgemäss wissenschaftlich begründet zu sein. Es geht in der historisch-politischen Bildung politische Bildung ist keine politische Bildung, wenn sie nicht als historisch politische Bildung angelegt ist – primär immer um gegenwärtige, im weitesten Sinne ethisch politische Probleme. Im Geschichtsunterricht wird danach gefragt, wie historisches Denken im Sinne eines Ensembles von Frageweisen, Denkweisen und Ergebnissen dazu beitragen kann, gegenwärtige Probleme so vernünftig zu betrachten und betrachten zu lernen, dass daraus eine nach Maßgabe des Möglichen vernünftige Praxis sich ergibt.
Der Clou für die historisch politische Bildung besteht eben darin, dass der Geschichtsunterricht von den gleichen gegenwärtigen Problemen ausgeht oder zumindest prinzipiell ausgehen kann, die auch den Politikunterricht bestimmen. Die Gemeinsamkeit der Probleme begründet die Idee des fächerübergreifenden Unterrichts: Bei diesem Unterricht bringen die an historisch politischer Bildung beteiligten Fächer ihre je eigenen Frageweisen, Denkweisen und Kategorien ein, um das ihnen gemeinsame Problem zu betrachten, zu bedenken. Und sie kommen aus ihrer Sicht zu Ergebnissen, die dabei helfen, dass gemeinsame Problem differenzierter – aus der Sicht der Geschichtsdidaktik: erfahrungsgesättigter und mit empirisch erworbener historischer Phantasie und Alternativität – zu betrachten.
Bezogen auf den Geschichtsunterricht heißt das mitnichten, dass dabei aus der Geschichte Belegmaterial für vorgefasste Meinungen herangezogen wird – wie das die Gegner der Rahmenrichtlinien beschworen haben. Der Geschichtsunterricht ist auf die methodische Rationalität der Geschichtswissenschaft festgelegt. Er kann das gegenwärtige Problem nur dann historisch vernünftig angehen, wenn die Frage an die erkennbare menschliche und unmenschliche Vergangenheit für alle Antworten offen ist.
Einer solchen Orientierung der Geschichtsdidaktik an der Gegenwartsbezogenheit steht die traditionelle Darstellungsform des Geschichtsunterrichts – der sogenannte chronologische Durchgang – mit traditionellen Unterrichtsinhalten, dem sogenannte Kanon (Kanon ist übrigens Bildung durch Auslassung!), scheinbar entgegen. Ich spreche hier gegen die absolute Dominanz der Chronologisierung der Geschichte. Sie macht den im Diskurs der Historiker praktisch wirksamen und in ihre Forschungsleistungen je und je eingebrachten und deutlich beobachtbaren Gegenwartsbezug in der Regel fast unerkennbar. Sie widerspricht weiterhin in eklatanter Weise den Interessen, die Schülerinnen und Schüler an Geschichte haben. Und diese Interessen sind nicht gering zu schätzen, nicht so sehr, weil die Schüler ungeheuren Frustrationserfahrungen ausgesetzt sind, sondern vor allem deshalb, weil die absolute Dominanz des chronologischen Durchgangs langfristig demotiviert und gerade das verhindert, ja vernichtet, was Geschichtsunterricht anstrebt: Interesse am historischen Denken und an der Bildung eines vernünftigen, reflektierten Geschichtsbewusstseins. Ich spreche also zwar gegen die klassische Darstellungsform von Geschichte, nicht aber gegen alle traditionellen Unterrichtsinhalte. Sie bilden ein wichtiges kommunikatives Element in unserer Gesellschaft, die nur um den Preis des Kommunikationsabbruches zwischen den Generationen aus dem Geschichtsunterricht ausgeblendet werden könnten. Diese Themen haben aber ihren Wert nicht an sich, sondern nur für uns. Sie sind aus keinem anderen Grund klassische Themen des Geschichtsunterrichts, weil sie in jeder Gegenwart, aus jeder Gegenwart neu betrachtet und mit Gewinn für diese Gegenwart neu befragt werden können, immer neu im doppelten Sinne fragwürdig.
Ich spreche entschieden für die Erkennbarkeit des Gegenwartsbezugs im Geschichtsunterricht und spreche damit zugleich entschieden gegen den objektivistischen Trugschluss, die Geschichte sei einfach die Summe aller vergangenen Handlungen, ihrer Voraussetzungen, Bedingungen, Absichten und Folgen, die rein für sich, also unabhängig von den Absichten gegenwärtigen Handelns ("wertfrei"), erforscht und dargestellt werden könnten.