Während wir bei den Schulfächern Technik und Haushalt ziemlich gut sehen konnten, daß eine die Wahrheitskriterien liefernde Bezugswissenschaft fehlt und damit auch die Gefahr der Abbilddidaktik entschärft ist, liegt der Fall bei einem Fach Wirtschaft anscheinend anders. Immerhin gibt es die beiden etablierten Wirtschaftswissenschaften, die Volkswirtschaftslehre und die Betriebswirtschaftslehre. Nun hatte KAMINSKI, der ein Verfechter der Wirtschaftslehre pur ist, einräumen müssen, daß die wirtschaftswissenschaftlichen Universitätsdisziplinen nur eine Orientierungs- keine Ableitungsfunktion für das Schulfach haben könnten (Vergl. S. 183 dieser Abhandlung).
Die Betriebswirtschaftslehre kann u. E. eine Orientierungsfunktion (für Schüler) nur in einem sehr vermittelten Sinne haben. Daß die Betriebswirtschaftslehre im Kern eine Gewinnmaximierungs-Lehre ist, läßt sich kaum bestreiten. Ihre modernen Theoriebestandteile, die oft mathematische Kalküle sind, müßten dem Schüler eigentlich als Bedrohung entgegentreten. Die Marketingstrategien etwa, haben deutlich manipulative Bestandteile, die nicht immer die Wohlfahrt des Konsumenten sondern dessen Verfügbarkeit zum Ziel haben. Substitutionsrechnungen von der Art, daß eine drei Millionen DM teure Maschine drei Arbeiter "freisetzen" könnte, sind zunächst mal nicht schülerfreundlich. Nun kann man aus den genannten Gründen nicht betriebswirtschaftliche Erkenntnisse aus der Schule verbannen. Wenn z.B. junge Menschen vor dem Verlassen der allgemeinbildenden Schule sich auch mit der Chance - vielleicht sollte man besser sagen: dem Risko - der Existenzgründung beschäftigen, werden betriebswirtschaftliche Basisinformationen nicht schaden können. Eine andere didaktische Argumentation hebt ab auf das Studium der gegnerischen Taktik. Als Verbraucher müßte man die Strategien der Unternehmen kennen, um ihnen wirkungsvoll begegnen zu können.
Betriebswirtschaftliche Qualifikationen, die man für die Führung eines Kleingewerbes benötigt, haben in der Regel keinen Wissenschaftsstatus; es handelt sich um kaufmännisches Regelwissen, um arbeitsorganisatorische Fähigkeiten usw. (Vergl. z.B. Fischer/Hartwig/Reuel: Das Lernbüro im Rahmen der Arbeitslehre, Berlin 1994). Was die Aufklärung der jungen Verbraucher angeht, sind, ganz unabhängig von betriebswirtschaftlichen Lehrmeinungen, teilweise in Auseinandersetzung mit ihnen, didaktische Konzepte entstanden. (Vergl.: STEFFENS 1983, Urbatzka 1992) Insofern ist zumindest für die allgemeinbildende Schule die Bezugswissenschaft "Betriebswirtschaftslehre" irrelevant.
Der Fall ist , was die Volkswirtschaftslehre betrifft, etwas komplizierter gelagert. GUNNAR MYRDAL
hat den ideologischen Gehalt der Volkswirtschaftslehren bis zur Mitte dieses Jahrhunderts aufgedeckt. Bereits der Ahnherr der modernen Nationalökonomie, ADAM SMITH, ignorierte eine Grenzziehung zwischen Politik und Ökonomie. Seinen "Reichtum der Nationen" verstand er als eine Sollensforderung an die Politik. MYRDAL bescheinigt der Nationalökonomie bis in dieses Jahrhundert ein Verwischen der Grenzen zwischen wissenschaftlicher Forschung und den daraus (unzulässig) abgeleiteten Folgerungen für eine Wohlfahrt der Menschheit. Auf die Wertfreiheit der Wissenschaft wird in der Nationalökonomie bereits durch den Sprachgebrauch ein Schatten geworfen: ständig ist vom Nutzen die Rede, von Werten, vom Gleichgewicht, vom Sowieso-Optimum usw. [/S. 211:]
"So läßt sich bildlich sagen, daß der Preis die 'Aufgabe' erfüllt, die Nachfrage zu beschränken und das Angebot zu stimulieren, so daß Gleichgewicht entsteht. Solche Ausdrucksweise kann sich aus dem rein stilistischen Grund empfehlen, um damit der Darstellung größere Leichtigkeit zu geben. Aber vergißt man nur einen Augenblick, daß es sich dabei lediglich um eine Metapher handelt, so fügt sich dem Hauptsatz leicht ein äußerst gefährlicher Nebensatz an: wobei der Gleichgewichtspreis 'richtig' ist und die Produktionsfaktoren ihrer wirtschaftlichsten Verwendung zugeführt werden. Wir befinden uns dann wieder in einer normativ-teleologischen Denkweise. Ist man bis zu dieser nicht nur falschen, sondern strenggenommen sinnlosen Formulierung gekommen, so wird die Sache nicht dadurch besser, daß man weiterhin postuliert, das Gesagte gelte nur 'vom Standpunkt der auf dem Markte oder in der Gesellschaft herrschenden Wertung'. Es existiert auf dem Markte oder in der Gesellschaft keine 'Wertung' - im Singular - sondern es gibt ebenso viele 'Wertungen' wie tauschende Personen. Die 'Wertungen' sind bedingt von der ökonomischen Lage, in der sich jeder einzelne befindet, und diese ist u.a. ihrerseits wieder mitbestimmt vom gesamten Preisbildungsprozeß, wie er gerade als Resultat dieser Wertungen abläuft. Außerdem sind Wertungen als solche wissenschaftlich inkommensurabel. Es ist nicht zulässig, eine einheitliche gesellschaftliche Wertsetzung in die wissenschaftliche Erklärung der wirtschaftlichen Erscheinungen auf diese Weise einzuschmuggeln."
(MYRDAL 1963, S.17)
Aber nicht nur MYRDAL, auch die renommierte KEYNES-Schülerin JOAN ROBINSON hat sich mit den "Doktrinen der Wirtschaftswissenschaft" auseinandergesetzt. Sie kommt zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Eine der Hauptschwierigkeiten der Volkswirtschaftslehre sieht sie darin,
"daß die Nationalökonomen - in Ermangelung experimenteller Methoden - nicht streng genug genötigt sind, metaphysische Begriffe auf widerlegbare Sätze zu reduzieren und daß sie sich nicht zu einer Übereinkunft darüber durchringen können, was sich als falsch erwiesen hat. Am einen Bein ungeprüfte Hypothesen, am anderen unprüfbare Slogans - so humpelt die Nationalökonomie daher. Unsere Aufgabe liegt darin, diese Mischung von Ideologie und Wissenschaft so gut es geht auseinanderzusortieren."
(ROBINSON 1965, S. 35)
Nimmt man eine klassische "Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen" zur Hand, etwa die von SCHACHTSCHNABEL, wundert man sich über Theorien, die trotz offensichtlicher Widersprüchlichkeit fortgeschrieben werden. (Siehe auch die Bemerkung ROBINSONS, wonach endgültige Falsifizierungen volkswirtschaftlicher Doktrinen eher selten sind.) Auf JOHN STUART MILL geht die Theorie des "neutralen Geldes" zurück. Nach ihm gibt es..
"für die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft nichts Unwesentlicheres als das Geld."
(zitiert nach SCHACHTSCHNABEL 1971, S.238)
Der Begriff des "Geldschleiers" soll ausdrücken, daß über der realen Wirtschaftstätigkeit und diese nicht beeinflussend, ein Schleier von Geld liegt, der elastisch genug ist, um alle Änderungen z.B. der Austauschbeziehungen mitzumachen. Diese Theorie ist nicht obsolet, sie lebt in veränderter Gestalt fort. Man halte sich nur das derzeitige Sparvolumen der Deutschen vor Augen und stelle sich eine drastische Geldentwertung vor, welchen Eindruck würde bei den betroffenen Sparern die Theorie des neutralen Geldes machen?
In "Geschichte und Ökonomie" fragt HANS-ULRICH-WEHLER:
"Was z.B. wird vom heuristischen Wert - von der theoretischen Erklärungskraft ganz zu schweigen - der Theorien des Equilibriums, des vollständigen Wettbewerbs, von Angebot und Nachfrage übrigbleiben, wenn [/S. 212:] der Historiker bzw. der historische Sozialwissenschaftler es unablässig mit Ungleichgewicht und Ungleichmäßigkeit, also nie mit Gleichgewicht zu tun hat, wenn er statt der Fata Morgana des vollständigen Wettbewerbs sehr konkrete oligopolistische Konkurrenz, mithin Macht statt Marktgesetze feststellt, wenn er soziale Kriterien der Verteilung und Herrschaft Angebot und Nachfrage dominieren sieht? Weshalb dann nicht gleich eine historisch adäquate Theorie, die von der gleichsam prinzipiellen Disproportionalität des kapitalistischen Wachstumprozesses ausgeht, auf die fragwürdig regulative Idee des vollständigen Wettbewerbs verzichtet, gesellschaftliche Machtkonstellationen und Werte voll mit einbezieht?"
(H.-U. WEHLER, 1973, S.23 f)
Wenn man die Ideologieanfälligkeit der verschiedenen volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen einmal beiseite läßt kommt man früher oder später zu der erkenntnistheoretischen Schlüsselfrage: ist unser Bewußtsein bestimmt durch die wirtschaftlichen Verhältnisse oder ist die historische Ausprägung des Wirtschaftssystems Ausfluss einer Idee. Personalisiert wird dieser Gegensatz in MARX und WEBER. (vergl. insbesondere: KOCKA: Karl Marx und Max Weber im Vergleich, in: H.-U.WEHLER 1973, S.54 ff) Eine Sowohl-als-auch-Antwort kann hier nicht mehr entfaltet werden. Unsere knappe Ideologiekritik an volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen hatte nur einen Zweck: Nachdenklichkeit unter Pädagogen darüber anzustoßen, ob die behauptete "wissenschaftliche" Überlegenheit einer schulischen Wirtschaftslehre (gegenüber der Arbeitslehre) haltbar ist.
[/S. 213:]