Eine den Fächern Deutsch und Mathematik vergleichbare, niemals strittige Kanon-Zugehörigkeit kann das Schulfach Wirtschaft nicht vorweisen. Wir hatten jedoch weiter vorn darauf verwiesen, daß eine einflußreiche Gruppierung seit Jahrzehnten Wirtschaft als Schulfach der allgemeinbildenden Schulen fordert.

"In zahlreichen Stellungnahmen hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände seit den fünfziger Jahren wiederholt die Forderung nach einer wirtschaftlichen Grundbildung für alle Schüler bekräftigt. Unverändert gültig blieb bis heute der Begründungszusammenhang für die Forderung , die Hinführung der Schüler zur Wirtschafts-, Arbeits- und Berufswelt als einen maßgeblichen Schwerpunkt im Bildungskanon des Allgemeinbildenden Schulwesens zu verankern."

(Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1980, S.10)

Daß Wirtschaftslehre längst nicht in allen Schulen zum Kanon gehört, hängt u.a. mit einer distanzierten Haltung der Gewerkschaften zusammen. Diese sehen, nicht ganz zu Unrecht, in einem Schulfach Wirtschaft Wettbewerbsvorteile für die Unternehmer. Angebote der Unternehmen sind für Lehrer und Schüler oft attraktiver als Gewerkschaftsbroschüren. Die pädagogische Fachwelt ist gespalten. Unter den allgemeinbildenden Schulen ist es die Realschule, die traditionell eine gewisse Affinität zum Fach Wirtschaft hat. Noch bis in die Jahre nach dem zweiten Weltkrieg überwog in Realschulen deutlich der Mädchenanteil. Für diese aufstiegsorientierte Klientel waren technische Berufe keine ernsthafte Alternative, die prestigearmen "Frauenberufe" Verkäuferin usw. aber auch nicht. Berufskarrieren als "mittlere wirtschaftliche Führungskraft" schienen attraktiv. Es liegen uns keine überprüfbaren Angaben darüber vor, wieviele Realschulabsolventinnen in kaufmännische Berufe einmündeten, die über Verkäuferin-Niveau lagen.

FAUSER, ein entschiedener Vertreter des praktischen Lernens in der Schule, hat Probleme mit der Wirtschaftslehre:

"Auf Grenzen stößt das praktische Lernen auch bei Feldern der Kultur, die in sich selbst abstrakt sind und kaum anschaulich gemacht werden können. Zu denken ist nicht nur an Wissenschaft, sondern auch an Fragen der Weltwirtschaft oder der Währungspolitik u.ä., die zwar durch Modellbildung erschlossen werden können, in ihren Funktionsabläufen und Zusammenhängen aber abstrakter Zugänge bedürfen."

(FAUSER, 1991, S.125)

Wer heute einem Sonderschullehrer oder einem Hauptschullehrer in Berlin zumutet, mit seinen Schülern wirtschaftliche Modelle zu diskutieren, wird Hohn und Spott ernten, gleiches gilt für viele Gesamtschullehrer. Die Klientel dieser Lehrer steht z.T. unter starkem ökonomischen Druck, insofern wäre Aufklärung über Zusammenhänge scheinbar funktional. Aber eingedenk der BRECHTchen Weisheit "Erst kommt das Fressen und dann die Moral" geht der Lehrer mit seinem Schüler zur Schuldnerberatung, zum Polizeirevier um einen Ladendiebstahl abzuwiegeln, zum Supermarkt, um Käuferfallen zu zeigen usw.

Anders stellt sich die Situation am Gymnasium und teilweise an Realschulen dar. Man kann davon ausgehen, daß in Mittelschicht-Elternhäusern "Wirtschaft" positiv besetzt ist. Die Unternehmerpersönlichkeit, der White-Collar-Job, die Eigentumsbildung, all das sind bürgerliche Wertassoziationen, die auch Bildungsvorstellungen beeinflussen.

FLITNER hat sich mit der Frage auseinandergesetzt "warum lernen Kinder?" Eine unter mehreren Antworten lautet, weil das zu Lernende Geltung in der Gesellschaft hat. [/S. 209:]

"schließlich nennen wir die soziale Anerkennung des zu Lernenden, die Geltung der Bildung in der Gesellschaft. Was hohe Anerkennung genießt, das teilt sich auch den Kindern, den Schülern mit; nicht nur Autofahren, Konsumieren, Rauchen, Musikhören, Kleidermoden und ähnliches sondern auch - nach Lebenswelten unterschieden - ein bestimmtes Wissen und der Umgang damit. Eine hohe soziale Geltung hatte und hat auch heute noch das, was man 'Bildung' nennt. Der Begriff ist zwar unscharf geworden, und es gibt keinen Konsens mehr darüber, welche Inhalte heute die Bildung ausmachen sollen......In dem Maße, wie die Gesellschaft demokratisch und plural geworden ist und die Geltung des Lateins oder der Religion ......diskutiert, haben sich auch die Schüler mit dieser offenen Situation des Lernens auseinanderzusetzen."

(A. FLITNER 1986, S.9f)

"Nach Lebenswelten unterschieden" ist die Parenthese, auf die es uns ankommt. Ein Fach Wirtschaft wird in (westdeutschen) Gymnasien und möglicherweise in Realschulen nicht um Geltung ringen müssen. Für große Teile unserer Jugend ist die Sache aber komplizierter. Das Milieu, aus dem diese Jugendlichen stammen, ist nicht gekennzeichnet durch eine wertpositive Auseinandersetzung mit Wirtschaftsfragen. Ja, wir haben sogar die historisch einmalige Situation zu würdigen, die durch den Export der sozialen Marktwirtschaft in die neuen Bundesländer entstand. Im dortigen Bildungswesen hatten tatsächlich Lehrbücher über Wirtschaft Konjunktur. In dem Maße aber, in dem die reale wirtschaftliche Situation durch Pleiten, Arbeitslosigkeit, Rückgabe von Immobilien usw. belastet war, schwand auch der Glaube an die Bildungsbedeutsamkeit der Wirtschaftslehre.

Eine empirische Untersuchung an Berliner Jugendlichen (Ost u. West, alle Schularten, Klassen 7 bis 10) zwischen 1991 und 1994 zur Frage: "Auswirkungen von ökonomischem Druck auf die psychosoziale Befindlichkeit von Jugendlichen" fand den bereits früher festgestellten Zusammenhang nicht widerlegt, wonach Eltern aufgrund ökonomischer Deprivation ihre schlechte Befindlichkeit massiv in das Familienklima einbringen.

(BUTZ/BOEHNKE 1997)

FLITNER hat natürlich recht wenn er sagt, daß alle Schüler eine mehr oder weniger manifeste Wertorientierung haben. Nicht nur die materiellen Kultgegenstände sind es, die ihr Leben prägen, sie möchten Anerkennung in der Arbeit, wollen ökologisch helfen, sind sogar zur Konsumeinschränkung bereit, wenn sinnvolle Tätigkeiten offenstehen. Die Frage, ob Wirtschaftslehre in der heute weithin anzutreffenden Ausprägung einen Bildungsbedarf trifft, muß sehr zurückhaltend beantwortet werden. Die gesellschaftliche Anerkennung ist auf keinen Fall ungebrochen, sie ist sogar dort, wo sie scheinbar vorhanden ist, mit der Alternative Arbeitslehre konfrontiert.

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