Sebastian Fischer, Malte Kleinschmidt, Florian Fischer, Dirk Lange
Zusammenfassung: In diesem Aufsatz werden Ergebnisse der Studie „Denkweisen der Globalisierung“ vorgestellt. Ausgehend von den empirischen Befunden werden die didaktischen Implikationen für das ökonomische und politische Lernfeld erörtert.
1. Einleitung
In der politischen Bildung und im sozialwissenschaftlichen Unterricht hat das ökonomische Lernfeld in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Diese Neugewichtung ist fachdidaktisch jedoch nicht hinreichend vorbereitet und wird bislang wissenschaftlich nur unzureichend begleitet. Die von Wirtschaftsunternehmen, Stiftungen und verschiedenen Interessensverbänden produzierten Bildungsangebote können den Kontroversitätsanforderungen der Politischen Bildung aufgrund ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und interessegeleiteten Engführungen oftmals nicht gerecht werden (vgl. Hedtke 2008). In diese Lücke stößt die von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Untersuchung „Denkweisen der Globalisierung“. Sie bietet ein empirisches Fundament, um monodisziplinären Zugängen politischen und ökonomischen Lernens eine differenziertere und am normativen Ziel der Mündigkeit orientierte Herangehensweise entgegenzusetzen. Die Erfassung der subjektiven Vorstellungen der SchülerInnen zu dem Gegenstand Globalisierung bietet die Grundlage zu einer an den Lernvoraussetzungen der SchülerInnen anknüpfenden Reformulierung von didaktischen Ansätzen und Lehrmaterialien. Der Gegenstand Globalisierung ist aus didaktischer Perspektive geeignet, verschiedene ökonomische und politische Lerngegenstände zusammenzuführen. In ihm bündeln sich zentrale Themen, wie etwa der Wandel der Arbeitswelt mit seinen vielseitigen lebensweltlichen Implikationen, die Veränderung der Kommunikationsformen, ökologische Fragen, die Aushandlung kultureller Identitäten, der Beziehung des Globalen Südens zum Globalen Norden, bis hin zu allgemeinen Fragen gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten. Im Rahmen dieses Artikels liegt der Fokus auf denjenigen Aspekten, die für die Gestaltung von sozioökonomischer Bildung besonders relevant sind. In der Studie wurde davon ausgegangen, dass Jugendliche schichtspezifisch unterschiedlich von dem Prozess der Globalisierung betroffen sind. Für die einen bedeutet Globalisierung eine Erweiterung von Möglichkeiten. Für die anderen überwiegen die bedrohlichen und einschränkenden Seiten der Globalisierung. Wir nahmen an, dass die Wahrnehmung und Bewertung von Globalisierung in einem engen Zusammenhang mit den individuellen Partizipationsmöglichkeiten in der globalisierten Welt steht. Ein schulformspezifischer Vergleich von Schülervorstellungen aus der Hauptschule und des Gymnasiums kann als adäquate Operationalisierung der zu vergleichenden Vorstellungsgruppen privilegiert mit weitgehenden Partizipationserwartungen versus sozial marginalisiert mit begrenzten Partizipationserwartungen bezeichnet werden. Um die Ausgangshypothese der soziökonomisch differierenden Wahrnehmung von Globalisierung im Untersuchungsaufbau zu verstärken, wurden auf der Grundlage kommunaler Statistiken Hauptschulen vor allem in sozial schwächeren und Gymnasien in sozial stärkeren Stadtteilen ausgewählt.
2. Untersuchungsergebnisse
Gegenstand des Forschungsvorhabens ist zum einen eine didaktisch motivierte Bestandsaufnahme der Schülervorstellungen und zum anderen ein Vergleich der Vorstellungen, die SchülerInnen der Hauptschule und des Gymnasiums in der 9. Klasse über den Prozess der Globalisierung entwickelt haben. Um ein möglichst umfassendes Bild der vorhandenen Vorstellungen gewinnen zu können, erfolgte die Datenerhebung mit einem zweistufigen Kombinationsverfahren, bestehend aus offenem Fragebogen und teilstandardisiertem Interview.
2.1 Erster Erhebungsschritt: Die Fragebogenanalyse
Im ersten Erhebungsschritt wurde mittels Fragebögen ein Überblick über die inhaltliche Bandbreite des Vorstellungsfeldes und die Verteilung von zentralen Vorstellungselementen gewonnen. Dafür füllten 101 HauptschülerInnen und 109 GymnasiastInnen an jeweils drei Schulen die Fragebögen aus. Der Fragebogen gliederte sich in drei Ebenen. Die Fragen zielten auf eine Erfassung des Verständnisses, der vermuteten Ursachen und der Bewertung der Globalisierung. Die Lehrkraft wurde vorab instruiert, im Vorfeld keinerlei themenrelevante Informationen in die Klasse zu geben, um eine möglichst unverfälschte Wiedergabe der Vorstellungen zu ermöglichen. Die SchülerInnen wurden ausdrücklich angehalten ihre eigenen Vorstellungen darzulegen. Es wurde weiter herausgestellt, dass es sich nicht um eine Art Klausur oder Test handele, und versichert, dass die Erhebung anonym ist. Das erhobene Datenmaterial wurde einer inhaltsanalytischen Auswertung unterzogen. Die dabei verwendete Methode geht auf eine Adaption des ursprünglich in der Psychologie entwickelten Verfahrens der logographischen Analyse zurück (vgl. Laucken 1987). Die kategoriengeleitete Analyse des erhobenen Materials zielt darauf ab, übergreifende Muster der Sinnbildung zu identifizieren. Die von den SchülerInnen geäußerten Vorstellungen umfassen alle erwartbaren Bereiche des Alltagsdiskurses über den Gegenstand „Globalisierung“. Viele SchülerInnen denken an Klima- oder Umweltthemen, andere verweisen in ihren Antworten auf den ökonomischen Bereich, auf den Bereich Politik, Kommunikation, Kultur oder stellen das Moment der technischen Entwicklung oder des Fortschrittes in den Vordergrund ihrer schriftlichen Darlegung.
Insgesamt zeigt sich, dass der Gegenstand „Globalisierung“ sowohl in der Hauptschule als auch im Gymnasium vor allem als ein Klima- bzw. Umweltthema gedacht wird. Jeweils über die Hälfte der befragten SchülerInnen (Hauptschule: 55,5 %; Gymnasium: 53,2 %) verbindet mit „Globalisierung“ eine Umwelt- bzw. Klimathematik. Deutlich mehr GymnasiastInnen als HauptschülerInnen sprechen die Bereiche Ökonomie, Politik und Technik-Fortschritt-Modernisierung an. Jede Hauptkategorie wurde weiter differenziert. Im Folgenden sollen zentrale Aspekte aus dem Bereich Ökonomie dargestellt werden.1 Insgesamt fällt auf, dass diejenigen SchülerInnen, die ökonomische Aspekte der Globalisierung anführen, mehrheitlich positive Entwicklungen beschreiben. Dabei reicht das Spektrum von der Nennung der durch Globalisierung entstehenden individuellen Konsumvorteile über nationale Handelsvorteile, eine sinnvolle internationale Kooperation und „Fortschritt“ bis zu „besserer Völkerverständigung“ aufgrund des internationalen Warenhandels. Deutlich weniger SchülerInnen führen dagegen negative Aspekte der ökonomischen Globalisierung wie etwa Schäden für Mensch und Natur im Zuge extensiver Produktion oder die Situation von benachteiligten Ländern im globalen Konkurrenzkampf an. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass nur drei von 210 Schülerinnen negative Folgen für ArbeitnehmerInnen ansprechen.
2.2 Zweiter Erhebungsschritt: Die Interviewstudie
Auf der Grundlage der Analyse der Fragebögen konnte eine informierte Auswahl der 44 InterviewpartnerInnen erfolgen. Während die Fragebogenanalyse insbesondere einen Überblick über die primär assoziative Ebene zu geben imstande war, sollte die Interviewanalyse einen in die Tiefe gehenden Einblick in die Denkweisen der SchülerInnen ermöglichen. Die problemzentrierten Interviews wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. Im Zuge der Auswertung wurden fünf thematische Bereiche unterschieden: Politik/Wirtschaft, Partizipation, Internationale Arbeitsteilung, Migration und Kultur. Im Folgenden werden ausschnittsweise zentrale Denkweisen der SchülerInnen vorgestellt. An dieser Stelle beschränkt sich die Ergebnisdarstellung auf die Bereiche Politik/Wirtschaft und Partizipation sowie die daraus resultierenden Schlussfolgerungen für die Gestaltung sozioökonomischer Bildung.
2.2.1 Politik/Wirtschaft: Der Markt als dominanter Denkrahmen
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Markt für die Mehrheit der GymnasiastInnen und etwa die Hälfte der HauptschülerInnen einen weitgehend unhinterfragten Denkrahmen bei der Auseinandersetzung mit der politischen und ökonomischen Dimension der Globalisierung darstellt. Der Markt und seine Gesetze werden als quasi natürlich und/oder als alternativlos vorgestellt. Oft versetzen sich die SchülerInnen hier in die Position eines Unternehmens und finden es dann beispielsweise „normal“ oder „nachvollziehbar“, wenn ArbeitnehmerInnen sehr geringe Löhne erhalten. Fast ausnahmslos stellen die SchülerInnen aber auch moralische Reflexionen über die Lebenssituation von Nicht-Privilegierten – insbesondere im Globalen Süden – an und äußern Empathie mit ArbeitnehmerInnen, die sich in schwierigen Arbeits- oder Lebenslagen befinden. Diese beiden Aspekte der Naturalisierung des marktwirtschaftlichen Rahmens und der Problematisierung humanitärer Missstände stehen in der Regel unvermittelt nebeneinander. Die große Mehrheit der SchülerInnen spricht sich für eine zurückhaltende Politik der Wirtschaftsregulation aus. Positionen wiederum, die jegliche Wirtschaftsregulation ablehnen, werden von den SchülerInnen nicht vorgebracht. Allerdings wird die Grenze wirtschaftsregulativer Politik überwiegend da gesehen, wo der „gesunde Profit“ bedroht zu sein scheint. Eine Ausnahme stellt der Waffenhandel dar, den der Staat stärker begrenzen sollte.
Vorstellungen von Politik Die meisten SchülerInnen haben von der Wirtschaftskrise gehört. Die Vorstellungen von der Wirtschaftskrise sind aber fragmentarisch und dominiert durch Versatzstücke stereotypisierender medialer Diskurse. Wenige SchülerInnen können sich die Wirtschaftskrise in schlüssiger Weise erklären. In mehr als der Hälfte der vorgebrachten Erklärungen wird die Ursache der Krise im vermeintlichen Fehlverhalten der von der Krise besonders betroffenen Ländern Südeuropas gesehen. Erklärungen, die beispielsweise das Fehlverhalten von Banken als Ursache der Wirtschaftskrise in den Blick nehmen, werden hingegen kaum vorgebracht. Wertende Vorstellungen über die „Hilfspakete“ als Symbol für die herrschende Krisenpolitik sind im Gegensatz zu dem Wissen über die Ursachen der Wirtschaftskrise sehr viel verbreiteter. Etwa die Hälfte der SchülerInnen bezieht eine dezidiert wertende Position zu dieser Politik. Während die BefürworterInnen der „Hilfspakete“ eher am Gymnasium zu finden sind, äußern sich deutlich mehr HauptschülerInnen ablehnend. Die BefürworterInnen argumentieren dabei aus einer Position, die sich mit den Regierenden identifiziert. Sie begründen die Notwendigkeit der „Hilfe“ damit, dass diese wirtschaftlich im eigenen Interesse sei. Das zentrale Argument in der von HauptschülerInnen dominierten Gruppe der SkeptikerInnen ist, dass zuerst die eigenen, nationalen Probleme gelöst werden müssten, bevor anderen Nationen Geld gegeben werde. Die Mehrheit der SkeptikerInnen argumentiert aus einer Position, die den deutschen PolitikerInnen vorwirft, das Geld, das für nationale Probleme zur Verfügung stehen sollte, wegzugeben.
2.2.2 Partizipation
Die SchülerInnen sehen kaum eigene Gestaltungsmöglichkeiten der Globalisierung. Die große Mehrheit der SchülerInnen führt zunächst ausschließlich den Staat und große privatwirtschaftliche Unternehmen als handelnde Akteure an. In der Regel kamen erst im weiteren Gesprächsverlauf des Interviews andere Akteure zur Sprache. Im Folgenden stellen wir die vier vorgefundenen Formen kurz vor.
Einflussnahme über Konsum Dominant ist hier die Vorstellung der Einflussnahme über den eigenen Konsum. Während 16 GymnasiastInnen eine mögliche Einflussnahme aus der Perspektive von KonsumentInnen denken, sind es nur vier HauptschülerInnen. Die starke Verbreitung dieser Vorstellung korreliert gewissermaßen mit der allgemeinen Orientierung, den Markt als Rahmen gesellschaftlichen Handelns zu setzen. Die große Mehrheit derjenigen, die gesellschaftliche Einflussnahme aus der Perspektive von KonsumentInnen denken, nimmt eine individuell-konsumtive Haltung ein und thematisiert beispielsweise keine politischen Boykott-Kampagnen.
Einflussnahme über Nicht-Regierungs-Organisationen Als zweiter Akteurstyp werden Nicht-Regierungs-Organisationen genannt. Diese zivilgesellschaftliche Möglichkeit, auf den Prozess der Globalisierung Einfluss zu nehmen, wird überwiegend von GymnasiastInnen angeführt. Die meisten dieser SchülerInnen denken diese Form zivilgesellschaftlicher Einflussnahme in der Logik von Wohltätigkeit oder Charity. Die Problematisierung von gesellschaftlichen Strukturen, die auf ungleicher Macht- und Reichtumsverteilung basieren, oder die Nennung verbürgter Rechte spielen für das Denken gesellschaftlicher Zusammenhänge und ihrer Veränderung hingegen keine bedeutsame Rolle. Stattdessen wird gesellschaftliche Veränderung als abhängig von der Gunst privater Initiativen vorgestellt.
Einflussnahme über Gewerkschaften Der dritte Akteurstyp, den die SchülerInnen anführen, sind Gewerkschaften. HauptschülerInnen haben insgesamt deutlich weniger Kenntnisse über Gewerkschaften im Vergleich zu den GymnasiastInnen. Acht HauptschülerInnen und drei GymnasiastInnen besitzen keinerlei Kenntnisse über Gewerkschaften. Geringe bzw. unsichere Kenntnisse haben acht HauptschülerInnen und zehn GymnasiastInnen. Vier HauptschülerInnen und neun GymnasiastInnen besitzen vergleichsweise gute Kenntnisse. Von denjenigen, die über weitergehendes Wissen verfügen, sind fast alle den Gewerkschaften gegenüber prinzipiell positiv eingestellt. Dass sich die Gewerkschaften für die Interessen von ArbeitnehmerInnen einsetzen, wird von den meisten SchülerInnen positiv bewertet. Einige GymnasiastInnen argumentieren sozialpartnerschaftlich und wiesen darauf hin, dass die Gewerkschaften nötig sind, damit Unternehmen und ArbeitnehmerInnen miteinander verhandeln können. Dabei werden die Gewerkschaften allerdings nicht in der Rolle gesehen, gesamtgesellschaftliche Fragen mitzugestalten. Vielmehr beschränkt sich ihre Funktion darin als Dienstleister für einzelne ArbeitnehmerInnen zu fungieren oder bereits bestehende Rechte durchzusetzen.
Einflussnahme über Protestbewegungen Als vierter Aktionstyp ist die gesellschaftliche Einflussnahme über Proteste oder Demonstrationen zu nennen. Während keinE SchülerIn angibt, selbst an Protesten oder Demonstrationen beteiligt gewesen zu sein, führen zehn GymnasiastInnen und fünf HauptschülerInnen dies allgemein als Möglichkeiten zur Gestaltung der Globalisierung an. Dabei fällt auf, dass nur eine Schülerin konkret stattgefundenen Protest in Deutschland erwähnt, während oft von Protesten in anderen Ländern, insbesondere der Türkei und arabischen Ländern, berichtet wird. Insgesamt werden Proteste von den SchülerInnen so gedacht, dass ihr Ziel darin bestehe, PolitikerInnen oder die Mächtigen zur Hilfe oder zur Einsicht zu bewegen. Zwar problematisieren einige SchülerInnen, dass nicht alle bei gesellschaftsrelevanten Fragen gleichberechtigt mitentscheiden können. Dennoch schlägt keinE SchülerIn eine grundlegende Veränderung von Entscheidungsstrukturen vor. Statt die vor dem Hintergrund eines weit gefassten Partizipationsbegriffs naheliegende, grundlegende Veränderung von Strukturen repräsentativer Demokratie bzw. von Macht- und Besitzverhältnissen in den Blick zu nehmen, hoffen die SchülerInnen mehrheitlich auf die Einsicht der gegenwärtigen Entscheidungsträger.
3. Implikationen der empirischen Befunde für die Gestaltung einer sozioökonomischen Bildung
Seit mehreren Jahren findet eine grundlegende Auseinandersetzung um die Ausrichtung der ökonomischen Bildung statt. Während einige VertreterInnen eine stark an der wirtschaftlichen Fachdisziplin orientierte Didaktik favorisieren, wird diese Ausrichtung von den BefürworterInnen einer weiter gefassten, sozioökonomisch ausgerichteten Bildung kritisch betrachtet (Engartner 2013; Haarmann 2014). Erstere wird dabei von einem einflussreichen Netzwerk von Wirtschaftsverbänden, unternehmernahen Stiftungen, Instituten, Initiativen und Parteien gefördert (vgl. Hedtke/Möller 2011). Demgegenüber steht das Interesse von nicht privatwirtschaftlich gebundenen Akteuren, die in einer rein wirtschaftswissenschaftlichen Ausrichtung eine Engführung und Vereinseitigung der ökonomischen Didaktik sehen. Zwar fordern die meisten bildungspolitischen Akteure eine Stärkung der ökonomischen Kompetenzen in der Schule. Insbesondere bei der Forderung von Wirtschaftsverbänden nach einem gesonderten Fach „Wirtschaft“ wird dabei jedoch die Gefahr gesehen, dass die wirtschaftliche Bildung eine Bildung der Wirtschaft wird. Während der unternehmensnahe Ansatz behauptet, das vermeintlich ‚spezifisch Ökonomische‘ in gesellschaftlichen Lebenssituationen zum Gegenstand zu machen, kann aus der Perspektive einer umfassenderen sozioökonomischen Bildung davon ausgegangen werden, dass eine isolierte Sicht auf ökonomische Zusammenhänge sowohl fachwissenschaftlich als auch didaktisch zu kurz greift.
3.1 Gegen die vereinseitigende Engführung marktaffinen Denkens
Die Gefahren einer unternehmernahen und wirtschaftswissenschaftlichen Engführung zeichnen sich auch vor dem Hintergrund der festgestellten empirischen Befunde ab. In den Denkweisen der SchülerInnen findet sich ein Bias marktaffinen Denkens. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die SchülerInnen beider hier untersuchter Schulformen es gewohnt sind, ökonomische Zusammenhänge aus der Perspektive von Unternehmen und im Hinblick auf die „Gesetze des Marktes“ zu betrachten. Die Perspektive der ArbeitnehmerInnen wird hingegen von kaum einer/m SchülerIn eingebracht. Das ist insofern bemerkenswert, als die überwiegende Mehrheit der SchülerInnen in abhängiger Beschäftigung tätig sein wird. Engartner und Balasundaram (2013) betonen, dass derzeit 36 Mio. der insgesamt 40,5 Mio. Beschäftigten ArbeitnehmerInnen seien. Dementsprechend müssten Bildungsmaßnahmen, die darauf abzielen, SchülerInnen eine Orientierung in der Arbeitswelt zu ermöglichen, insbesondere die ArbeitnehmerInnenperspektive berücksichtigen (ebd.: 249). Unabhängig davon, ob dieser Bias auf die Dominanz der privatwirtschaftlich interessierten Bildungsakteure in der Schule oder auf andere Faktoren zurückgeht, würde eine wirtschaftswissenschaftlich-monistische Engführung diesen bereits vorhandenen Bias verstärken. Der Dominanz marktaffinen Denkens muss aber vielmehr entgegengewirkt und den SchülerInnen alternative Denkweisen anheimgestellt werden. Für eine auf Partizipation, demokratische Teilhabe und Mündigkeit zielende Bildung stellt genau dies eine große Herausforderung dar.
3.2 Für die Thematisierung des Politischen statt einer Verengung auf „die Politik“
In beiden Schulformen stehen ein naturalisiertes Verständnis des Marktes und eine empathische Haltung mit ArbeiterInnen in schwierigen Lebens- und Arbeitssituationen unvermittelt nebeneinander. Hier wird deutlich, dass Wissen über soziale Missstände und Empathie mit ArbeiterInnen nicht automatisch dazu führen, dass SchülerInnen ein Verständnis für übergreifende gesellschaftliche Zusammenhänge und grundlegende gesellschaftliche Interessenskonflikte erlangen. Die Problematisierung von humanitären Missständen wird in der Regel in Appelle zu mehr Wohltätigkeit und Spendenkampagnen gewendet oder auf die Hoffnung in die Einsicht der gesellschaftlich Mächtigen reduziert. Den SchülerInnen müsste es aber ermöglicht werden, alternative Perspektiven zu entwickeln, die auch die Dimension des Politischen berücksichtigen. Das Politische wird hier in Abgrenzung von der Politik als diejenige Dimension verstanden, in der eben nicht nur die Administration des Status quo, sondern die prinzipielle Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Zusammenhänge gedacht wird. Die Annahme einer prinzipiellen Gestaltbarkeit impliziert auch, dass der Status quo sich nicht aus Sachzwängen ergibt, sondern vielmehr auf (politischen) Entscheidungen basiert. Unter Einbeziehung der Dimension des Politischen stellt sich dann die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen, mit welchen partikularen Interessen und aus welchen Gründen Entscheidungen durchgesetzt haben. Didaktisch kann an die vorgefundene empathische Haltung der SchülerInnen angeknüpft werden. Der Blick für die Situation von Nicht-Privilegierten stellt eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für die Erschließung des Politischen dar. Konkret müssten weitere Akteure und Handlungsebenen einbezogen werden. Jenseits von Unternehmen und PolitikerInnen auf der gesellschaftlichen und von der Rolle als KonsumentIn auf der individuellen Ebene sollte hier beispielsweise die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Gewerkschaften, Verbraucherschutzorganisationen und nicht zuletzt sozialen Bewegungen weitere Perspektiven für die SchülerInnen eröffnen. Die Reduktion der Akteure auf die – in einem engen, institutionalisierten Sinne verstandene – „Politik“ und marktwirtschaftlich agierende Protagonisten erscheint hingegen aus mehreren Gründen als problematisch. Indem viele SchülerInnen nur an die „Politiker“ und die Unternehmen denken, erschöpft sich die Vorstellung auf Akteure, zu denen sie selbst keinen Zugang haben und die weit von ihrer Lebensrealität entfernt sind. Da die SchülerInnen gegenwärtig und auch voraussichtlich zukünftig weder Staatschef noch Unternehmensführer sein werden, erscheint die Möglichkeit der Einflussnahme auf den Prozess der Globalisierung und auf ökonomische Vorgänge insgesamt stark begrenzt zu sein. Das Gefühl der eigenen Ohnmacht wird zwar von vielen SchülerInnen benannt, aber selten problematisiert. Die gegenwärtige Form der Globalisierung ist kaum zu verstehen, wenn man nicht berücksichtigt, dass viele Jahre eine weitreichende Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung betrieben wurde. In den Denkweisen der SchülerInnen ist allerdings ein enges Politikverständnis dominant, das „Politik“ auf administrative Praxen von Institutionen und Parteien reduziert. Wenn die Vorstellung von „Politik“ auf die Verwaltung des Bestehenden beschränkt und als quasi neutrale, nicht von widerstreitenden Interessen durchzogene Instanz vorgestellt wird, geraten wichtige Perspektiven aus dem Blick. Beispielsweise wird eine Kritik an der neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft erst dann möglich, wenn die Unterordnung der Gesellschaft unter die Anforderungen des Marktes als immanent politische und durchaus umkämpfte Entscheidung sichtbar wird. Die Entscheidungen für die neoliberale Umgestaltung wurde zwar vom großen Teil „der Politik“ getragen, erscheint jedoch unter Einbeziehung der Dimension des Politischen keinesfalls als alternativlos. Didaktisch sollte den SchülerInnen fächerübergreifend der Raum zur Verfügung stehen, einen Begriff des Politischen zu entwickeln, der beinhaltet, dass „die Politik“ eben keine neutrale Instanz ist. Politik und Ökonomie sollten vielmehr als verschränkte und umkämpfte Terrains gedacht werden können. Vor dem Hintergrund der Rückgewinnung des Politischen kann die gefühlte Ohnmacht der SchülerInnen, deren Folgen oft unter dem Stichwort „Politikverdrossenheit“ thematisiert werden, in einem anderen Licht erscheinen und neue didaktische Perspektiven eröffnen. Eine entsprechend sensibilisierte sozioökonomische Bildung würde so unter anderem aufhören, das Problem bei den SchülerInnen zu suchen. Statt diese als defizitär anzusehen, sollten ihnen vielmehr die gedanklichen Werkzeuge zur Verfügung gestellt werden, gesellschaftliche Defizite zu benennen und die eigene Erfahrung gesellschaftlicher Ohnmacht zu problematisieren.
3.3 Die Lebenswelt der SchülerInnen – ein notwendiger didaktischer Ansatzpunkt
Viele SchülerInnen verfügen über auf den Markt bezogene Denkweisen ökonomischer Prozesse – die Gesetze der Marktwirtschaft erscheinen alternativlos und unumstößlich. Gleichwohl bringen sie in der Regel auch nicht marktwirtschaftlich orientierte Aspekte und normative Bezüge, insbesondere eine prinzipielle Empathie mit ArbeiterInnen in schwierigen Arbeits- und Lebenslagen, in die Diskussion ein. Damit sind sie einigen fachdidaktischen Ansätzen im Bereich der Ökonomie voraus, die versuchen, mechanistisch-volkswirtschaftliche Ansätze als für ökonomische Zusammenhänge ausreichende Denkrahmen zu etablieren. Ein Blick in die Vielschichtigkeit der Lebenswelt der SchülerInnen zeigt aber, dass ein solcher Ansatz für die ökonomische Didaktik unzureichend ist. Die Lebenswelt der SchülerInnen beinhaltet eben keinen isolierten Bereich der Ökonomie. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Probleme der Lebensführung, des Umgangs mit knappen Ressourcen im Alltag, der Identitätsfindung, politische Partizipation, persönliche Mobilität, Vorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens, Ideen von Gerechtigkeit und der allgemeinen sowie beruflichen Zukunftsplanung eng miteinander verknüpft sind. Problemorientierung als didaktisches Prinzip – statt einseitiger Orientierung an einer Fachdisziplin – stellt hier einen erfolgversprechenden Weg für die sozioökonomische Didaktik dar. Bei der eng gefassten, vornehmlich auf bestimmte Richtungen der Volkswirtschaft bezogenen ökonomischen Bildung stellt sich die Frage, inwieweit SchülerInnen damit in die Lage versetzt werden können, zukünftige persönliche wie gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.
3.4 Die Wirtschaftskrise als beispielhafter didaktischer Ansatzpunkt
Die Wirtschaftskrise stellt einen möglichen Ansatzpunkt sozioökonomischer Didaktik dar. Vorstellungen von der Wirtschaftskrise sind bei den SchülerInnen sehr verbreitet. Während nur wenige SchülerInnen sich die Wirtschaftskrise erklären können, sind vielen Versatzstücke der Krisenpolitik bekannt. Dabei spielen insbesondere medial vermittelte Bilder bezüglich der sogenannten „Hilfspakete“ für südeuropäische Länder eine große Rolle. Gerade aufgrund der wissenschaftlich umstrittenen Ursachen der Krise und der ebenfalls umstrittenen staatlichen Krisenpolitik könnte an diesem Unterrichtsgegenstand aber die Pluralität und Heterogenität von Perspektiven in Politik und Ökonomie interdisziplinär aufgezeigt werden. Die SchülerInnen könnten über die Berichterstattung der Medien ebenso reflektieren wie über die sozialen Konflikte im Süden Europas, anhand derer ein vielschichtigeres Bild der Beziehung von Wirtschaft und Politik gewonnen werden kann. Der Widerstand seitens großer Teile der Bevölkerung der Länder im Süden Europas gegen eine rigide Austeritätspolitik und die damit einhergehende Entdemokratisierung lassen sowohl die gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Antworten auf die Wirtschaftskrise als auch das Selbstbild der EU in einem differenzierten Licht erscheinen. Am Gegenstand der Wirtschaftskrise könnten grundsätzliche, die Globalisierung betreffende Fragen bearbeitet werden, die – interdisziplinär angelegt – auch der Vereinseitigung und Verengung des Denkens des Ökonomischen entgegenwirken. Statt den Bias des Marktes als naturalisierten Denkrahmen zu stärken, könnten hier die Vielfältigkeit der Perspektiven im politischen und ökonomischen Raum aufgezeigt werden. Die verschiedenen Akteure mit ihren Interessen und die tatsächlichen Entscheidungsstrukturen des Krisenmanagements bieten einen didaktisch fruchtbaren Zugang zur Auseinandersetzung mit den pluralen und konfliktreichen Feldern des Politischen und des Ökonomischen.
4. Fazit
Mündigkeit und Partizipation sind zentrale normative Ziele der politischen und ökonomischen Bildung. Die Fähigkeit, in sozioökonomischen Zusammenhängen zu denken, stellt eine Voraussetzung zur Erreichung dieser Ziele dar. Dadurch wird den SchülerInnen ermöglicht, sich in der komplexen globalisierten Welt zurechtzufinden und an ihr als politisches Subjekt teilzuhaben. Dafür bedarf es einer Überarbeitung von Curricula, Lehrmaterialien und didaktischen Ansätzen. Eine marktaffine ökonomische Bildung kann nicht einfach durch Hinweise auf humanitäre Missstände ergänzt werden. Vielmehr muss den SchülerInnen ermöglicht werden, eine über den Markt und seine Gesetze hinausgehende, plurale Perspektive einzunehmen. Deshalb reicht es nicht, entscheidende Begriffe - wie etwa den der sozialen Gerechtigkeit ‒ allgemein einzuführen. Soziale, politische und ökologische Problembereiche müssen aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden – eine ausschließlich ökonomische bzw. betriebswirtschaftliche Sicht genügt nicht. Ziel von sozioökonomischer Bildung müsste vielmehr sein, die SchülerInnen in die Lage zu versetzen, die Pluralität der Deutungsmuster nachzuvollziehen und diese in Beziehung zueinander zu setzen. Warum werden gleiche Phänomene von Unternehmen, staatlichen Institutionen, ArbeitnehmerInnen, Privilegierten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen, Mächtigen und Entmachteten unterschiedlich wahrgenommen und bewertet? Den SchülerInnen eine multiperspektivische Sicht auf das Verhältnis von Wirtschaft und Politik in einer globalisierten Welt zu ermöglichen, ist dabei nicht in erster Linie ein Problem der Komplexität. In den Interviews wurde deutlich, dass die Mehrheit der SchülerInnen die Gesetze der Marktwirtschaft als quasi natürlich und/oder als alternativlos denkt. Obwohl die Aussagen der SchülerInnen sehr facettenreich sind und soziale sowie ökologische Problembereiche thematisiert werden, bringt sie die Engführung des Ökonomischen dazu, eine von den Menschen und ihren Entscheidungsmöglichkeiten unabhängige Sphäre anzunehmen: Der Markt – und nicht die Menschen – erscheint als Subjekt der Gesellschaft. Unterricht und Bildungsangebote sollten aber auf die Förderung selbstbestimmter Urteilsfähigkeit und eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit in gesellschaftlichen Zusammenhängen abzielen. Wenn jedoch mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Vermittlung von „ökonomischer Kompetenz“ ein impliziter Lehrplan etabliert wird, der in der Konsequenz die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft in Frage stellt, muss von einer höchst problematischen Ausrichtung der gegenwärtigen didaktischen Konzeptionen gesprochen werden. Es kommt stattdessen darauf an, sowohl die verschiedenen fachwissenschaftlichen Perspektiven als auch die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Standpunkte gezielt bei der Gestaltung von Bildungsangeboten zu berücksichtigen.
Anmerkung
- Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Ergebnissen findet sich in der Monographie „Globalisierung und Politische Bildung. Eine Untersuchung zur Wahrnehmung und Bewertung der Globalisierung durch Schüler in unterschiedlicher sozialer Lage“, die im Laufe des Jahres 2015 erscheinen wird, und in dem Artikel „Ways of Thinking Globalisation“ (Fischer et al. 2014).
Literatur
- Engartner, Tim 2013: Das Fach „Wirtschaft“ als Fach der Wirtschaft? Einige ausgewählte Aspekte vergangener und gegenwärtiger Debatten; http://www.fb03.uni-frankfurt.de/4797 9018/OeB_Fach-Wirtschaft-als-Fach-der-Wirtschaft_GWP_09_2013.pdf.
- Engartner, Tim/Balasundaram, Krisanthan 2013: Ökonomische Bildung im sozialwissenschaftlichen Kontext – oder: Aspekte eines Konzepts sozio-ökonomischer Bildung. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP) Heft 2/2013, S. 243-256.
- Fischer, Sebastian/Fischer, Florian/Kleinschmidt, Malte/Lange, Dirk 2015: Globalisierung und Politische Bildung. Eine Untersuchung zur Wahrnehmung und Bewertung der Globalisierung durch Schüler in unterschiedlicher sozialer Lage. Wiesbaden: VS-Verlag. (im Erscheinen)
- Fischer, Sebastian/Fischer, Florian/Kleinschmidt, Malte/Lange, Dirk 2014: Ways of Thinking Globalisation. Insights Into a Currently Running Investigation of Student’s Ideas of Globalisation. Journal of Social Science Education (JSSE) 3/2014, http://www.jsse.org, S. 123-133.
- Haarmann, Moritz-Peter 2014: Ökonomisches Lernen – Selbstzweck oder Teil des gesellschaftlichen Lernens? In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP) Heft 2/2014, S. 189-200.
- Hedtke, Reinhold. 2008. Wirtschaft in die Schule?! Ökonomische Bildung als politisches Projekt. In: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP). Heft 4/2008, 455-461.
- Hedtke, Reinhold/Famulla, Gerd-E./Fischer, Andreas/Weber, Birgit/Zurstrassen, Bettina 2010: Für eine bessere ökonomische Bildung! Kurzexpertise zum Gutachten „Ökonomische Bildung an allgemeinbildenden Schulen Bildungsstandards und Standards für die Lehrerbildung im Auftrag des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft“ vom November 2010, Bielefeld.
- Hedtke, Reinhold/Möller, Lucca 2011: Wem gehört die ökonomische Bildung? Notizen zur Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, IBÖB-Working Paper Nr. 1, Bielefeld, http://www.iboeb.org/moeller_hedtke_netzwerkstudie.pdf.
- Laucken, Uwe: Forschungsprogramm Subjektive Theorien versus Logographie alltäglichen Lebens. Berichte aus dem Institut zur Erforschung von Mensch-Umwelt-Beziehungen. Universität Oldenburg, Fachbereich 5 – Psychologie. Oldenburg 1987.
- Riß, Karsten/Overwien, Bernd 2010: Globalisierung und politische Bildung. In: Lösch/Thimmel: Kritische politische Bildung. Ein Handbuch. Schwalbach/Ts: Wochenschau, S. 205-216.