Reflexive Wirtschaftsdidaktik: Ökonomische Handlungskompetenz, wirtschaftliches Sinn-Verstehen und moralische Urteile

Nils Goldschmidt, Yvette Keipke, Alexander Lenger, Klaas Macha

Zusammenfassung Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Erweiterung der traditionellen funktionalistischen Kompetenzperspektive um die Analyse wirtschaftlicher Verstehensprozesse. Das Interesse richtet sich dabei explizit nicht auf das statische Ergebnis wirtschaftlicher Kompetenzen, sondern fragt danach, wie wirtschaftliches Verständnis in modernen Marktgesellschaften ausgebildet werden kann. In unserem Verständnis weist ökonomisches Sinn-Verstehen in Ergänzung zum Begriff der ökonomischen Kompetenz auf das Wechselspiel zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen und deren Beurteilung ab. Daher bedarf es neben einer analytischen Trennung zwischen ökonomischer Kompetenz und wirtschaftlichem Verstehen einer Definition ökonomischen Sinn-Verstehens, um den Begriff für die weitere Forschung fruchtbar zu machen. Da moderne Gesellschaften marktwirtschaftliche, funktional differenzierte Gesellschaften sind, bedarf es eines Sinn-Verstehens ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse. Entsprechend wird im vorliegenden Beitrag dem Begriff der ökonomischen Kompetenz das Konzept des wirtschaftlichen Verstehens an die Seite gestellt, das auf die reflexive Gestaltung der wirtschaftlichen Ordnung ausgerichtet ist. Es wird gezeigt, dass es einer reflexiven Wirtschaftsdidaktik bedarf, um ein ökonomisches Sinn-Verstehen und eine reflexive Urteilsbildung zu fördern. In einem Folgebeitrag in der kommenden Ausgabe von GWP werden die praktischen Konsequenzen unserer Überlegungen diskutiert. Dort wird insbesondere auf die fachdidaktischen und fachwissenschaftlichen Konsequenzen unserer Überlegungen für Schule und Lehramtsausbildung eingegangen.

1. Einleitung

Das primäre Ziel ökonomischer Bildung ist es, Schüler*innen zu informierten und reflexiven Mitgliedern einer aktiven Bürgergesellschaft auszubilden, die über ein möglichst hohes Maß an ökonomischer Entscheidungs-, Handlungs- und Beurteilungsfähigkeit verfügen. Dafür braucht es nicht nur eine kompetenzorientierte, sondern auch eine auf reflexives Sinn-Verstehen ausgerichtete ökonomische Bildung an (Hoch-) Schulen, um einen nachhaltigen Diskurs über ökonomische Sachverhalte in der Gesellschaft zu befördern. Die Aufgabe der ökonomischen Bildung ist es, Schüler*innen zu befähigen mündige Bürger moderner Marktgesellschaften zu sein und informiert sowie reflektiert an gesamtgesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen. Hierzu müssen sie aber nicht nur wirtschaftliche Kompetenzen ausbilden, sondern auch in der Lage sein, ökonomische Prozesse in ihrer Einbettung in gesellschaftliche Kontexte grundlegend zu verstehen und beurteilen zu können. Ein solch ganzheitliches ökonomisches Sinn-Verstehen – so unsere zentrale These – unterscheidet sich signifikant von der in der Literatur üblicherweise verwendeten Kategorie der ökonomischen Kompetenz. Für viele Ansätze der ökonomischen Bildung gilt, dass Personen, die in der Lage sind, situationsadäquat zu handeln, als kompetent gelten. Ein solches Verständnis stellt unseres Erachtens eine ökonomische Bildung funktionalistischer Prägung dar. Prominent geworden ist die Kompetenzdefinition nach Franz Weinert, nach der Schüler*innen funktionale Handlungsfähigkeiten ausbilden sollen, um in ökonomisch geprägten Problemsituationen adäquat handeln zu können. So definiert er Kompetenz als „funktional bestimmte, auf bestimmte Klassen von Situationen und Anforderungen bezogene kognitive Leistungsdispositionen, die sich psychologisch als Kenntnisse, Fertigkeiten, Strategien, Routinen oder auch bereichsspezifische Fähigkeiten beschreiben lassen“ (Weinert 2001). In der Literatur lassen sich aber auch andere funktionale Kompetenzdefinitionen finden, wie die von Hermann May, die darauf abzielen, „Individuen mit Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Verhaltensbereitschaften und Einstellungen“ auszustatten, um wirtschaftlich geprägten Lebenssituationen kompetent zu begegnen (May 2011: 3-4). Schließlich lässt sich im Lebenssituationsansatz nach Ochs und Steinmann (1978) das Ziel wiederfinden, Lernende für ökonomisch geprägte Lebenssituationen funktional zu qualifizieren, im Sinne der Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen, d.h. das eigene Leben kompetent zu gestalten, Gefahren zu vermeiden und individuelle Verbesserungen zu realisieren. Zu den gesellschaftlich und politisch geprägten wirtschaftlichen Lebenssituationen zählen Ochs und Steinmann beispielsweise die Berufswahl, das Einkommen oder das materielle Vorsorgen.

Ein solch funktionalistisches Verständnis ist zwar ein wesentlicher Baustein ökonomischer Bildung, greift aber unserer Meinung nach zu kurz. Vielmehr bedarf es eines über die Kompetenzorientierung hinausgehenden wirtschaftlichen Sinn-Verstehens, dessen Ziel die Ausbildung eines sinnhaft, systemischen Verständnisses ökonomischer Phänomene ist, um auf den Gesamtzusammenhang einer modernen Marktgesellschaft schließen und diesen Zusammenhang auch kritisch reflektieren zu können. Um sich einem solchen weiten Ansatz ökonomischer Bildung zu nähern, ist es hilfreich, zwischen ökonomischer Kompetenz und wirtschaftlichem Verstehen zu unterscheiden. Während wir ökonomische Kompetenzen als Fähigkeiten bezeichnen wollen, um in wirtschaftlichen Situationen funktional, situationsadäquat und im Idealfall auch verantwortlich handeln zu können, meinen wir mit ökonomischem SinnVerstehen das inhaltliche Nachvollziehen, die Reflexion und die Beurteilung von allgemeinen wirtschaftlichen Sachverhalten und gesellschaftlichen Prozessen. Unser Verstehensbegriff schließt dabei an das Sinn-Verstehen in der Tradition der verstehenden Soziologie (Weber 1990 [1922]; Schütz 2004 [1932]) an, bei dem es um einen hermeneutischen Erkenntnisprozess geht, in dem subjektive Sinnzusammenhänge, Deutungsmuster und Handlungsorientierungen konstruiert und hierdurch handlungsleitend für soziale Akteure werden. Reflektieren wird dabei als ein bewusstes Überlegen bzw. Nachdenken vor, während oder nach einer bestimmten Situation oder Handlung verstanden. Der zentrale Unterschied zwischen ökonomischer Kompetenz und ökonomischem Verstehen liegt folglich darin begründet, dass eine Person mit ökonomischen Kompetenzen in verschiedenen wirtschaftlich geprägten Situationen zwar angemessen handeln kann, diese Situation sowie die dahinterliegenden Strukturen und Dynamiken aber nicht notwendigerweise verstanden und reflektiert haben muss. Die für sich stehende gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch relevante ökonomische Befähigung im Sinne eines umfassenden ökonomischen Verständnisses wird in den gängigen Kompetenzmessungsmodellen hingegen nicht erfasst. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Erweiterung der traditionellen funktionalistischen Kompetenzperspektive um die Analyse wirtschaftlicher Verstehensprozesse. Hierbei steht insbesondere die Frage im Vordergrund, wie ein wirtschaftliches Verständnis in modernen Marktgesellschaften ausgebildet werden kann. Der Beitrag ist daher wie folgt aufgebaut: In einem ersten Schritt wird eine kurze historische Rekonstruktion der gängigen Kompetenzmessungsmodelle in der ökonomischen Bildung vorgelegt und der gegenwärtige Forschungsstand beleuchtet (Abschnitt 2). Daran anknüpfend werden die Anforderungen an eine umfassende ökonomische Bildung skizziert. Da moderne Gesellschaften marktwirtschaftliche, funktional differenzierte Gesellschaften sind, bedarf es hierzu eines Sinn-Verstehens ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse. In einem weiteren Schritt wird daher dem Begriff der ökonomischen Kompetenz das Konzept des wirtschaftlichen Verstehens an die Seite gestellt, das auf die reflexive Gestaltung der wirtschaftlichen Ordnung ausgerichtet ist (Abschnitt 3). Daran schließen sich Ausführungen zu einer reflexiven Wirtschaftsdidaktik an, um ein ökonomisches Sinn-Verstehen und eine reflexive Urteilsbildung zu befördern (Abschnitt 4). Der Beitrag schließt mit einem kurzen Fazit (Abschnitt 5). In einem Folgebeitrag, der in der kommenden Ausgabe erscheinen wird, werden die praktischen Konsequenzen unserer Überlegungen diskutiert, insbesondere werden dort die fachdidaktischen- und fachwissenschaftlichen Konsequenzen für Schule und Lehramtsausbildung betrachtet.

2. Forschungsstand zum ökonomischem Verstehen und ähnlichen Konstrukten

Der Begriff des ökonomischen Verstehens hat in der angloamerikanischen Forschung eine recht lange Tradition. Unter dem Terminus des „Test of Understanding of College Economics (TUCE)“ wurden seit dem Jahr 1967 Paper and Pencil-Tests konzipiert, die sich an die Zielgruppe der Studierenden richten (Walstad et al. 2013). Der Test hat vor allem zwei Ziele: Erstens die Entwicklung eines zuverlässigen Instruments zur Bewertung von Studierenden in wirtschaftswissenschaftlichen Kursen und zweitens die Bereitstellung normierter Daten, die Dozent*innen einen Leistungsvergleich in den Grundlagenfächern zwischen ihren Studierenden mit den Leistungen anderer Studierenden erlaubt. Der Begriff des economic understanding steht nicht im Analysefokus, sondern fungiert lediglich als ein nicht weiter hinterfragter Sammelbegriff für ökonomisches Wissen.

Ähnlich wie im TUCE haben Würth und Klein (2001) für Deutschland einen Test entwickelt, bei dem die komparative Messung von ökonomischen Kompetenzen im Vordergrund steht. Die Frage, woher dieses Wissen kommt und in welchem subjektiven Sinnzusammenhang es steht, wird nicht adressiert. Ähnliches gilt für andere Projekte: Für die USA ist hier der „Basic Economic Test“ für das Grundschulniveau und der „Test of Economic Knowledge“ für das Junior High School-Niveau des Council of Economic Education zu nennen sowie die im Rahmen der landesweiten Lernstandsmessung an amerikanischen Schulen stattfindende Überprüfung ökonomischen Wissens (National Assessment Governing Board 2006).

Differenzierter ist die Debatte um das Konstrukt der „financial literacy“ zu bewerten, das derzeit in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Debatte gerückt ist (Lusardi/Mitchell 2014; Aprea et al. 2016). Hier werden üblicherweise zwei Dimensionen ökonomischer Bildung unterschieden: das Wissen (knowledge) und die Anwendung (application). Anders als in großen Teilen der deutschen Literatur zur ökonomischen Kompetenzmessung wird der ökonomische Kompetenzbegriff im angelsächsischen Sprachraum nicht nur operativ verwendet, um verschiedene situative Fähigkeiten zu messen, sondern vor allem auch konzeptionell. Nur wenn ökonomische Konzepte grundlegend verstanden werden, können eigene ökonomische Entscheidungen getroffen und kritisch beurteilt werden. Ein so verstandener konzeptioneller Kompetenzbegriff würde dann weitgehend unserem hier vorgestellten Verständnis einer Erweiterung des Kompetenzbegriffes um wirtschaftliches Sinn-Verstehen entsprechen. Allerdings lässt sich der Testbereich von „financial literacy“ nur schwer von „economic literacy“ abgrenzen. Zudem ist bislang weder erforscht, wie sich financial literacy und economic literacy zueinander verhalten, noch inwieweit ein eigenständiges Konstrukt financial literacy theoretisch und empirisch bestätigt werden kann.

Zusammengefasst kann konstatiert werden: Ökonomische Kompetenztests richten ihr Augenmerk auf einen relationalen Vergleich der Testpersonen untereinander und setzen diese Leistungen in Bezug zu einem Normsample. Ein solches Vorgehen liefert Befunde über den Wissensstand der Testpersonen und ermöglicht eine Vergleichbarkeit der Leistungen, birgt aber zugleich die Gefahr einer Normierung des Denkens. Letzteres aber – so unser Argument – ist wenig geeignet junge Erwachsene zu reflexiven Mitgliedern einer Gesellschaft auszubilden.

3. Die Genese des Subjekts als Gesellschaftsmitglied

Um einem funktionalistisch-statischen Verständnis ökonomischer Bildung einen ganzheitlich-dynamischen Ansatz wirtschaftlichen Verstehens zur Seite zu stellen, müssen unserer Meinung nach individuelle Sozialisationsprozesse in die Analyse ökonomischer Bildung integriert und die Konstruktionsprozesse menschlicher Entwicklung berücksichtigt werden. Denn ökonomische Kompetenz bzw. ökonomisches Verständnis ist keine anthropologische Konstante in der menschlichen Entwicklung, sondern bildet sich im Laufe der Sozialisation aus. Der Soziologe Günther Dux (2003) hat darauf hingewiesen, dass menschliches Lernen immer Kultur-Lernen ist. Anschließend an diese Überlegungen plädieren wir dafür „Kultur“ als nicht-intendiertes bzw. kontingentes Ergebnis von Sozialisationsprozessen zu verstehen, wie es in der Entwicklungsgeschichte einer jeden Gesellschaft zu beobachten ist. Die damit verbundenen kulturellen Vorgaben und funktionalen Bedingungen müssen von den Mitglieder*innen moderner Marktgesellschaften notwendigerweise im individuellen Sozialisationsprozess immer wieder neu erworben werden, denn der „Mensch erfährt die Wirklichkeit durch die in der Ontogenese ausgebildeten Erkenntnisstrukturen“ (Reusser/Reusser-Weyeneth 1994: 17). Der Prozess der „Enkulturation“ meint dann aber eben nicht eine strukturalistische „Programmierung“ in existierende Strukturen, sondern den konstruktiven Umgang mit den jeweiligen Erfahrungen und Lernprozessen sowie die Offenheit, durch Erfassung von Sinnzusammenhängen letztlich auch reflexiv Neues zu generieren.

Um Schüler*innen zu kompetenten und reflexiven Mitgliedern einer Gesellschaft auszubilden, müssen sie gesamtgesellschaftliche Prozesse verstehen und kritisch reflektieren können. Eine solche Befähigung setzt voraus, dass Schüler*innen die Logik von modernen Gesellschaften verstehen, die wesentlich in der systemischen Verfassung und funktionalen Differenzierung von Gesellschaften liegt. Mit anderen Worten: Damit Schüler*innen reflexiv-moralische Urteile über die gesellschaftliche Ordnung formulieren und konstruktiv an der Gestaltung dieser Ordnung mitwirken können, müssen sie verstehen, dass wirtschaftliche Prozesse stets in einer politischen und rechtlich gestalteten Rahmenordnung stattfinden und durch politische Setzungen des Staates beeinflusst werden, zugleich die Wirtschaft über die Ressourcenerzeugung aber auch den Rahmen für politische Gestaltungsmöglichkeiten erzeugen kann (Eucken 1989 [1940]; Buchanan 1984 [1975]). Ein solch systemisches Verstehen berücksichtigt, dass Schüler*innen in spezifisch politische, rechtliche und wirtschaftliche Bedingungsfelder sozialisiert sind und auf deren Ausgestaltung Einfluss haben (Lenger 2016).

Aus diesen Vorüberlegungen resultiert, dass Schüler*innen aus dem Verstehen einzelner (ökonomischer) Aspekte den Gesamtzusammenhang einer funktional differenzierten Gesellschaft erschließen und in der Folge auch kritisch reflektieren sollten und können. Jedoch darf es der ökonomischen Bildung nicht einfach nur darum gehen, verschiedene ökonomische Informationen an Schüler*innen zu vermitteln (z.B. welche Kreditformen es gibt oder wie man einen Hartz-IV-Antrag ausfüllt), sondern es geht um ein vertieftes ökonomisches Verstehen, z.B. welche soziale bzw. strukturelle Funktion Kredite in modernen Gesellschaften erfüllen (Investitionsfunktion etc.). Demnach kann sich eine sozialwissenschaftliche Didaktik nur dann legitimieren, wenn es gelingt, den Lernenden ein ganzheitliches wirtschaftliches und gesellschaftliches SinnVerstehen und damit einhergehend ein Problembewusstsein über die Verfassung moderner Gesellschaften zu vermitteln (vgl. auch Famulla et al. 2011; Fischer/Zurstrassen 2014). Folglich reicht es nicht aus, dass man Schüler*innen nur Kompetenzen vermittelt, um in modernen marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaften zu funktionieren, sondern es muss das Ziel der ökonomischen Bildung sein, Schüler*innen zu befähigen, Wirtschaft und Gesellschaft lebensweltlich zu verstehen und zu gestalten.

Folgt man dieser Annahme, dann ist ökonomische Bildung Teil eines Gesamtwissens über soziale Interaktionen und gesellschaftliche Prozesse und setzt an einem Verstehen gesellschaftlicher Zusammenhänge an (vgl. Tafner 2015). Mit dieser Einsicht geht eine Weiterentwicklung des Rollenmodells der kategorialen Wirtschaftsdidaktik einher und die Hinwendung zu ganzheitlichen Erklärungsansätzen verschiedener Lern- und Handlungskontexten. So muss berücksichtigt werden, dass Schüler*innen nicht nur entsprechend ihren sozialen Rollen (Wirtschaftsbürger, Konsumenten, Produzenten etc.) handeln, sondern sie stets über verschiedener Kontexte hinweg ein konsistentes und kohärentes Handlungsmuster zeigen. Aus der Soziologie ist bekannt, dass die Einheitlichkeit des Subjekts im Handeln durch den sogenannten Habitus gewährleistet wird. Das Habituskonzept erklärt, wie sich Schüler*innen zu ihren verschiedenen Rollen situationsübergreifend und Sinn-verstehend verhalten und in welcher Weise reflexives Verhalten quer zu sozialen Erwartungen liegen kann. Insbesondere Bourdieus Habituskonzept betrachtet die Einheitlichkeit einer Person, die letztlich für die Analyse von ganzheitlichen und habitualisierten wirtschaftlichen SinnVerstehen nach unserem Erachten unverzichtbar ist (Bourdieu 1982 [1979]; Lenger et al. 2013).

4. Wirtschaftliches Sinn-Verstehen und reflexive Wirtschaftsdidaktik

In den wenigen bisherigen Arbeiten zum wirtschaftlichen Verstehen wird Verstehen definiert als „eine kognitive Fähigkeit, die außer der Erfassung und Konstruktion von Sinn ebenfalls Erklärungen für ein Phänomen hinzuzieht“ (Kricks et al. 2013: 19). Allgemein gesprochen bezeichnet Verstehen eine Erkenntnisleistung, die auf Erfassung von Sinn bezogen ist (Zwenger 2003: 655) und als „verstehendes Wissen“ (Rehm 2006: 27-30) bezeichnet werden kann. Ein wesentliches Merkmal von Verstehensprozessen ist somit das Erkennen von Zusammenhängen und Beziehungen und deren semantische Ordnung zueinander. Demnach gelingt ein Verstehensprozess besonders gut, wenn ein subjektives Erkenntnisinteresse besteht und das Erkennen an erfahrungsbasierte Vorstellungen anknüpft. Aus der Pädagogischen Psychologie ist bekannt, dass auf der ersten Abstraktionsebene Sinn- und Bedeutungszusammenhänge an das Vorwissen anknüpfen und sich dadurch verdichten, dass sich Analogien erkennen lassen (Renkl 2008). Daraus ergibt sich, dass Lernende ein metakognitives Empfinden für die eigenen Verstehensprozesse entwickeln müssen, das wiederum nur möglich ist, wenn Schüler*innen Verstehensmomente als Momente des Nachvollziehens erfahren haben (vgl. Reusser/Reusser-Weyeneth 1994: 26). Entsprechend gilt es die Vermittlung ökonomischer Prozesse an das Vorwissen und die Lebenswelt von Schüler*innen anzuknüpfen, ohne dabei den Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher Einbettung aus dem Blick zu verlieren.

Ein solches Konstrukt ökonomischen Verstehens schließt an die Befunde der Entwicklungspsychologie an. In Anlehnung an die moralischen Stufentheorien von Piaget (1973 [1932]) und Kohlberg (1974) bildet sich die kognitive Entwicklung stufenförmig aus. Ein solcher strukturgenetischer Entwicklungsprozess wird auch in der ökonomischen Bildung antizipiert, wenn eine stufenförmige Entwicklung ökonomischer Kompetenzen von Schüler*innen angenommen wird (Land et al. 2005; Davies/Mangan 2007). Empirische Befunde zeigen eindeutig, dass es Entwicklungsstufen gibt. Uneinigkeit besteht in der Literatur darüber, welche Faktoren die moralische Urteilsbildung beeinflussen, wie viele Stufen es gibt oder wo die Transformationspunkte liegen (Furnham/Lewis 1986: 44). So bewerten Kinder im Alter von 4-5 Jahren den Preis eines Gutes in Abhängigkeit von seiner physischen Größe, wonach ein winziger Diamant keinen großen monetären Wert haben kann. Erst im Alter von 7-8 Jahren beginnen Kinder eine Konsumentenperspektive einzunehmen, so dass der Wert über die Nützlichkeit eines Gutes bestimmt wird. Schließlich erweitern die Kinder im Alter von 10- 12 Jahren ihre Perspektive hin zur Produzentenperspektive und der Herstellungsaufwand wird zum entscheidenden Faktor für den Preis (Lea et al. 1987: 375). Hierbei handelt es sich aber nicht notwendigerweise um eine sinnverstehende Einsicht in die ökonomischen Prozesse, sondern es kann sich gleichermaßen um eine Adaption praktischer Erfahrung handeln. Wenn ökonomisches Sinn-Verstehen also ein strukturgenetischer Verstehensprozess ist, dann müssen Schüler*innen ein Gesamtwissen über soziale Interaktionen und strukturelle Verknüpfungen vermittelt bekommen. Ökonomisches Sinn-Verstehen entwickelt sich im Prozess des Heranwachsens und zwar in Abhängigkeit vom kognitiven Entwicklungsstand, der wiederum parallel zur Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit gesehen werden kann. Diese Vermittlungsleistung ist umso wichtiger, da neueste Studien zeigen, dass sich moralisches Denken bei 6 bis 9-Jährigen unabhängig von der Intelligenz entwickelt und dass Kinder entsprechend unabhängig ihrer Intelligenz Unterstützung in ihrer Moralentwicklung benötigen (Beissert/Hasselhorn 2016). Will man Schüler*innen eine ganzheitliche Durchdringung ökonomischer Zusammenhänge nahebringen, um nicht nur kompetent handeln, sondern auch um reflexive Urteile über die Ausgestaltung der eigenen Gesellschaft formulieren zu können, so muss die Erforschung dieses strukturgenetischen Verstehensprozesses das Ziel zukünftiger ökonomischer Bildungsforschung sein.

Ein wirtschaftliches Sinn-Verstehen vollzieht sich unserer Auffassung nach, indem wirtschaftliche Zusammenhänge durchdrungen werden, wenn sie durch bekannte Sinnstrukturen, wie die grundlegenden Prinzipien ökonomischen Denkens, entschlüsselt und mit Hilfe von Kategorien eingeordnet werden (Top-Down Analyseprozess) und durch das Erschließen von Zusammenhängen sowie die Synthese alter und neuer Sinnstrukturen (Bottom-Up Syntheseprozess) reflexiv beurteilt werden (vgl. Abb. 1).

Demnach lassen sich wirtschaftliche Zusammenhänge nur vermitteln, wenn marktgesellschaftliche Prozesse aus verschiedenen Perspektiven analysiert und kritisch reflektiert worden sind. Dabei sollte die Reflexion stärker aus einer gesellschaftlichen Perspektive heraus vollzogen werden, d.h. ein ökonomisches Phänomen in seiner Komplexität zu verstehen ist nur möglich, wenn verschiedene sozialwissenschaftliche Perspektiven, Methoden und Theorien herangezogen werden. Um beispielsweise zu verstehen, weshalb die Mietpreisbremse möglicherweise ihre Wirkung verfehlt, bedarf es neben einer rational-ökonomischen Erklärung (Nachfragedruck, hohe Zahlungsbereitschaft aufgrund knappen Wohnraums), gesellschaftstheoretischer Ansätze wie sie die Soziologie, Politikwissenschaft oder Psychologie bietet. Nur so können weitere Faktoren wie Gewöhnungseffekte, Machtasymmetrien, Vorlieben für bestimmte Mietergruppen etc. in der Erklärung aufgenommen werden.

Hier kann ein Rückgriff auf die kategoriale Wirtschaftsdidaktik hilfreich sein. Das große Verdienst der kategorialen Wirtschaftsdidaktik besteht darin, dass ökonomische Bildungskategorien definiert werden, die ein ökonomisches Denken fördern und eine Verzahnung aus Fachwissenschaft und Fachdidaktik darstellen. Damit die kategoriale Wirtschaftsdidaktik aber nicht Gefahr läuft, auf eine Abbilddidaktik reduziert zu werden (Schlösser 2001), sollte das eigentliche Ziel des Ansatzes nicht aus dem Blick geraten. Es geht darum, ökonomische und soziale Phänomene durch Denkinstrumente und Wirkungszusammenhänge zu erschließen. Denkinstrumente sind ökonomische Grundstrukturen, Prinzipien, Kategorien u.ä., die dabei helfen Lehrinhalte zu erschließen, zu verstehen und gesellschaftlich einzubetten (Keipke/Lenger 2018). Eine reflexive Wirtschaftsdidaktik würde sich nun von der gegenwärtigen Wirtschaftsdidaktik dadurch abgrenzen, dass sie ökonomische Prozesse nicht auf Stoffkategorien verkürzt, sondern die Idee der Stoffkategorien als Denkinstrumente stärker ausschöpft.

5. (Zwischen-)Fazit

Im vorliegenden Beitrag plädieren wir dafür, dem Begriff der ökonomischen Kompetenz das Konzept des wirtschaftlichen Verstehens an die Seite zu stellen, das auf reflexives Begreifen der wirtschaftlichen Ordnung ausgerichtet ist. Weil moderne Marktgesellschaften zugleich funktional differenzierte Gesellschaften sind, bedarf es eines Sinn-Verstehens ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse, um mündiges Mitglied einer solchen Gesellschaft werden zu können. Entsprechend haben wir im vorliegenden Beitrag herausgearbeitet, wieso es einer reflexiven Wirtschaftsdidaktik bedarf, um ein ökonomisches Sinn-Verstehen und eine reflexive Urteilsbildung zu fördern. Um diese Überlegungen zu konkretisieren, werden wir in der kommenden Ausgabe der GWP die praktischen Konsequenzen einer reflexiven Wirtschaftsdidaktik vorstellen. Wir werden zeigen, dass es einer vermittelnden Position zwischen den Befürworter*innen des Schulfaches Wirtschaft und des Schulfaches Sozialwissenschaften bedarf und dass hierzu eine Reform der Lehramtsausbildung in Richtung einer pluralen Ökonomik der richtige Weg ist.

Literatur

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