Einleitung zu Reader „Sozioökonomische Bildung“

Tim Engartner/Reinhold Hedtke/Julia Mayer

Trotz intensiver Debatten um die thematische, method(olog)ische und paradigmatische Ausgestaltung der Wirtschaftswissenschaften entkoppeln viele (Hoch-)Schulcurricula den Gegenstandsbereich Wirtschaft von seinen gesellschaftlichen, politischen, historischen und kulturellen Kontexten. Dem steht der Ansatz einer auf Pluralität, Interdisziplinarität, Multiparadigmatizität und (kritische) Reflexion angelegten sozioökonomischen Bildung entgegen. Sozioökonomische Bildung meint „die Anwendung sozialwissenschaftlicher Bildung auf den Gegenstandsbereich Wirtschaft“ (Hedtke 2018, S. 11).

Ihrem Selbstverständnis nach stellt sich sozioökonomische Bildung somit als eine multiparadigmatische Sozialwissenschaft dar. Sozioökonomische Bildung trägt dem Umstand Rechnung, dass formalisierte mathematische Modelle und Methoden, denen in der neoklassischen Standardökonomie lange Zeit eine geradezu naturgesetzliche Allgemeingültigkeit bescheinigt wurde, zunehmend hinterfragt werden. Sie verpflichtet sich den Prinzipien der Interdisziplinarität, Pluralität und Kontroversität ebenso wie der permanenten ethischen Reflexion, um einen Beitrag zur paradigmatischen Öffnung der ökonomischen Bildung zu leisten.

Wirtschaft und Wirtschaften werden demzufolge in dem vorliegenden Reader aus unterschiedlichen (disziplinären) Blickwinkeln betrachtet. Gemeinsam ist den meisten Beiträgen, dass sie den ökonomischen Aspekt in einen sozialen, ethischen, historischen, kulturellen, politischen und/oder räumlichen Kontext einbetten. Zugleich orientiert sich der Reader an den Grundprinzipien eines kritisch-reflexiven Bildungsverständnisses. Unter Verweis auf die Notwendigkeit fachdidaktischer Kontextualisierung im Sinne der Subjekt-, Situations-, Problem- und Erfahrungsorientierung werden verschiedenen Perspektiven sozioökonomischer Bildung in den Blick genommen.

Wirtschaft wird demnach bewusst nicht dekontextualisiert, sondern als ein Bereich verstanden, für den nicht nur die wirtschaftswissenschaftlichen Erklärungsansätze relevant sind. Neben den Wirtschaftswissenschaften sind die Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaften, die Wirtschaftspädagogik, die Sozioökonomiedidaktik, die Soziologie, die Politikwissenschaft, die Geschichtswissenschaft, die Geographie sowie die Philosophie und Ethik vertreten. Bei der systematischen Bearbeitung von Frage- und Problemstellungen kommen disziplinäre, interdisziplinäre und transdisziplinäre Herangehensweisen zur Anwendung, was die Anerkennung der Pluralität von Methodologien und der Vielfalt von Methoden impliziert. Wissenschaftliche Multiperspektivität wird somit zum inhaltlichen, methodischen und didaktischen Programm.

Aufgrund des vorrangigen Bezugs auf die Wirtschaftswissenschaften, mit dem die konventionelle ökonomische Bildung ihre Wissenschaftlichkeit begründet, ist die Frage, ob – und wenn ja, inwieweit – wechselseitige Bezüge zwischen den sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit ihren bisweilen komplementären, teils widersprüchlichen Logiken erstrebenswert sind, von weitreichender Bedeutung für die fachdidaktische, curriculare und bildungspolitische Debatte. Soll ökonomische Bildung auf Lehr- und Lerninhalte zielen, die eine Klammerbildung zwischen Politik, Gesellschaft, Geschichte, Geografie und Wirtschaft ermöglicht, verbietet sich eine Orientierung an den wirtschaftsdidaktischen Konzeptionen, die auf Separation statt Integration setzen.

Die meisten der im Reader versammelten Beiträge akzentuieren die wechselseitigen Bezüge zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wie auch ihre bisweilen unterschiedlichen Logiken. Die paradigmatische und thematische Pluralität ökonomischer Sichtweisen wird hervorgehoben, um der viel zitierten Mündigkeit in Verbindung mit Handlungsfähigkeit und Problemlösefähigkeit als höchstem Ziel sozialwissenschaftlicher Bildung gerecht zu werden. Lehr- und Lernprozesse können schließlich nur dann als erfolgreich und bildend klassifiziert werden, wenn (eigene) Meinungen und Urteile überdacht, präzisiert, reflektiert, verifiziert oder gegebenenfalls auch falsifiziert werden (müssen).

Literaturhinweise

  • Hedtke, Reinhold (2018): Das Sozioökonomische Curriculum und die Grundlagen der sozioökonomischen Bildung, Wochenschau Verlag