Standards für den Lehrerberuf: Probleme und Streitfragen (24)

Obwohl derzeit die Unterstützung für die neuen Standards für Lehrerarbeit aus dem poeischen wie aus dem professionellen Raum groß ist, gibt es doch eine Reihe von vertrackten Problemen, die im Rahmen der Arbeit an diesen neuen Systemen gelöst werden müssen. Diese Probleme und Streitfragen reichen von eher technischen Messproblemen und praktischen Fragen der Implementation zu sozialen und politischen Fragen bezüglich der Machtbalance zwischen Staat und Profession. Einige dringende Probleme sollen im folgenden erörtert werden; zugleich soll deutlich gemacht werden, welche Forschungsfragen jeweils hieran geknüpft sind.

 

1. Standards und Beurteilungsverfahren richtig aufbauen

Eine erste Gruppe von Problemen ergibt sich aus der Frage, wie man die Technologien und Instrumente der neuen Standards und Beurteilungen (assessments) weiterentwickeln und verfeinern will: wie werden Validität und Reliabilität gegeneinander abgewogen, wie entwickelt und evaluiert man Beurteilungsstrategien, die sensibel sind für gutes Unterrichten in sehr unterschiedlichen Kontexten; und wie entwickelt man Beurteilungs– und Bewertungsverfahren, die weder Individuen noch Pädagogiken benachteiligen oder bevorzugen.

Eine Schlüsselfrage für den Einsatz von Standards und Evaluationen als Hebel der Reform liegt darin, ob die Standards und Beurteilungen "richtig" aufgebaut sind, also berücksichtigen, dass es viele mögliche Definitionen von Qualität gibt, dass diese von ihren jeweiligen Kontexten bestimmt sind, und dass es immer noch verbessert werden können. Trotz des großen Enthusiasmus gibt es noch zu wenig Forschung zu der Frage, ob durch Assessment–Verfahren (etwa des INTASC oder des National Board(25)) die tatsächlich bei ihren Schülern erfolgreichen Lehrer identifiziert werden, ob die Handlungsweisen von Lehrern, die in unterschiedlichen Kontexten erfolgreich sind, sich doch soweit ähneln, dass sie von den Standards und Beurteilungen abgedeckt (i.S.v. erfasst) werden, und ob die auf der Basis von Standards und Beurteilungen zustande kommenden Entscheidungen tatsächlich fair und ausgewogen (unbiased) sind und keine [/S. 69:] negativen Auswirkungen auf die Vielfalt der Lehrkräfte haben, indem etwa ein Punktesystem aufgebaut wird, das in keiner Relation zur Effektivität der Lehrer steht. Übliche Tests wie PRAXIS sind noch nicht daraufhin untersucht worden, in welchem Ausmaß sie denjenigen didaktischen Vorstellungen entsprechen, auf die die neuen Unterrichtskonzeptionen und Lehrerstandards gerichtet sind. Das heißt: In allen diesen Fällen vollziehen die Staaten (der USA) Entscheidungen auf der Basis von Beurteilungen, über die ein forschungsbasiertes Wissen hinsichtlich Reliabilität und Validität noch nicht vorliegt. Hier ist noch viel Forschungsarbeit notwendig, um sicherzustellen, dass Standards und Beurteilungen in einem maximalen Sinne valide sind, und zwar über Absolventen, Inhaltsbereich und Kontexte hinweg.

Obwohl diese Fragen situativ immer schon beantwortet werden müssen, sollten sie gleichwohl ständig in die Debatte um guten Unterricht und um geeignete Evaluationsinstrumente integriert werden. Soll man z.B. das Lehrerwissen und –handeln an denjenigen Anforderungen orientieren, die gegenwärtigen in den Schulen vorherrschen, in Schulen also, in denen sich die Rolle und manchmal auch das Selbstverständnis der Lehrer noch dominant auf den ‚Stundenhalter' beschränkt ist? Oder soll man in der Lehrerbildung auf eine reformierte, veränderte Schule abzielen, in der den Lehrern eine breitere Rolle zukommt (Lehrplangestalter, kollegiale Weiterbildner, Schulentwickler).

Sollte man sich bei den Standards für "guten Unterricht" an traditionellen, weitverbreiteten Unterrichtsformen orientieren, die aber nicht den Stand der didaktischen Forschung widerspiegeln? Will man neuen pädagogischen Ansätzen Glauben schenken – oder sollte man Mischungen favorisieren? Sind Standards und Evaluationen für "guten Unterricht" in "weißen" Gegenden auch tauglich für "multikulturelle" Kontexte?

Sykes (1990, S. 19) hat das Problem in seiner Erörterung der Legitimation von didaktischen Präferenzen folgendermaßen formuliert: "Es gibt keine einfache und vollständig faire Antwort auf diese Frage ‚Warum sollte ein Lehrer gerade dies wissen?' Hier müssen mutige Entscheidungen gefällt werden, die dann aber von umfangreichen Beratungen und vorsichtigen Implementationen gefolgt sein müssen".

 

2. Lehrer darauf vorbereiten, die Standards zu erfüllen

Ebenso treten gravierende Probleme auf, wenn man daran denkt, wie die Lehrer auf diese anspruchsvollen Standards vorbereitet werden sollen. Gegenwärtig liegt noch wenig Wissen darüber vor, welche Lernumgebungen in der Erstausbildung, während der Berufseingangsphase, während der Berufsbiographie und im Kontext von Schulentwicklungsprozessen den deutlichsten Erfolg bewirkt im Hinblick auf die Erfüllung der Standards. Wilson, Ball (1996, S. 122) schreiben:

"Die neuen Verfahren der Beurteilung von Lehrern sind für Lehrer das, was die neuen Formen der Schülerbeurteilung für die Schüler sind. An diesen Standards muss sich die Lehrerbildung orientieren. Reformer hoffen darauf, dass ein Wechsel des Prüfungs- und Zulassungsverfahrens sich auf die Art der Lehrerbildung (als Vorbereitung auf diese Prüfung) auswirkt. Weniger deutlich sind jedoch bildslang die Herausforderungen, die dies für die Lehrerbildner (d.h. das Personal in der Lehrerbildung) darstellt, die neue Wege der Qualifizierung von angehenden Lehrern finden müssen, damit die ausgebildeten Lehrkräfte die leistungsbasierenden Evaluationen erfolgreich bestehen". [/S. 70:]

Diese Herausforderung wird noch größer durch die Tatsache, dass Schul- und Unterrichtsreformen die Kluft "zwischen dem Ausgangspunkt der angehenden Lehrer und dem angestrebten Qualifikationsziel noch vergrößern" (ibid., S. 122). D.h. mehr denn je ist das aus der Schule mitgebrachte pädagogisch–didaktische Alltagswissen von Lehramtsstudierenden inadäquat mit Blick auf die angestrebten Reformen, mehr denn je müssen angehende Lehrer umlernen und dazulernen. Insbesondere ein an kritischem Denken und verstehendem Lernen orientiertes Unterrichten ist sehr schwer zu entwickeln, da es sehr flexibles Handeln erfordert und nicht anhand einfacher Anweisungen umgesetzt werden kann. Wenn man Schüler zum selbstständigen Denken bringen will und auch tatsächlich bringt, so lassen sich die weiteren Abläufe eben nicht präzise voraussagen.

Das Wissen über effektive Unterrichtsstrategien der Vorbereitung von Lehrer auf diese anspruchsvolle, am Sachverstehen orientierte Qualität von Unterricht entsteht erst allmählich. Wir müssen noch sehr viel über die Effizienz und Wirkung der verschiedenen Strategien zum Aufbau anspruchsvoller, multidimensionaler Praxisformen lernen. Wilson, Ball (1996) meinen, dass solche Strategien die Erfindung neuer Unterrichtskonzepte durch schulinterne Entwicklungsarbeit von reformorientierten Lehrern mit umfasst, durch Curriculum-Materialien wie Fallstudien, Video-Dokumenten, Datenbanken mit Mustern für Unterricht, die auch weitere Forschungen ermöglichen sowie durch eine Realisierung der in den Lehrerstandards ausgedrückten Pädagogik in der Praxis der Lehrerbildung selbst. (…)

Wenngleich es Indizien dafür gibt, dass solche Instrumente wirksam sind, wissen wir nicht, welche Kombinationen von Maßnahmen zur Steigerung der Lehrerkompetenz unter welchen Schulbedingungen am ehesten zu einher Steigerung der Qualität von Unterricht im Sinne der neuen Lehrerstandards und insofern dann auch zu erhöhten Lernerfolgen der Schüler beitragen. Ebenso wissen wir nichts über das Verhältnis von Aufwand und Ertrag solcher Maßnahmen, ob sie in verschiedenen Kontexten unterschiedlich wirken, ob man dabei nicht auch die berufliche Entwicklungsphase der Lehrer berücksichtigen muss usw. Diese Fragen müssen im Zusammenhang mit Reformmodellen zur Lehrererstausbildung sowie zur Lehrerfort– und –weiterbildung untersucht werden. Und schließlich: Obwohl vieles dafür spricht, dass Lehrer allein schon durch die Teilnahme an berufsbezogenen Evaluationen berufsbezogen lernen, wissen wir nicht genau, welche Art von Lernen dabei stattfindet, wie wechselnde Bedingungen sich auf das berufsbezogenen Lernen auswirken, und wie weit dieses Lernen für organisiere Lehrerfortbildung nutzbar gemacht werden kann.

Ebenso wichtig wird es sein, die Effektivität der neuen Standards zu prüfen, d.h. zu fragen, wie weit sie die erwünschten Ziele erreichen. Also tatsächlich zu einer veränderten Unterrichtswirklichkeit und zu einem erweiterten professionellen Wissen führen. Wenngleich Enthusiasmus und augenscheinliche breite Zustimmung in der Schul- und Lehrerszene einerseits vielversprechend sind, ist doch über die konkreten Maßnahmen in Lehrerbildungsinstitutionen, Schulverwaltungen, Schulen, Ministerialbürokratien wenig systematisch bekannt. Um die Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen bemessen zu können, sollte dieser Wandlungsprozess kontinuierlich beobachtet werden.

Während die Lehrerbildungsszene an einer Verbesserung der Programme arbeitet, darf sie jedoch bestimmte widerständige Rahmenfaktoren nicht außer Acht lassen. [/S. 71:]

 

3. Dauerprobleme: Lehrerzyklen, Standards und Ungleichheit

Im Vollzug der Reformen wird die Lehrerbildung von ‚ewigen' Problemen eingeholt: Besoldungsunterschiede und differierende Arbeitsbedingungen haben zu einem Lehrermangel in den Innenstadtzonen und in ärmeren ländlichen Gebieten geführt. Und aus unterschiedlichen Gründen gehen Landes– und Kommunalbehörden dazu über, die Standards für den Eintritt in den Lehrerberuf abzusenken anstatt umgekehrt Anreize zu schaffen, die eine hinreichende Lehrerversorgung sicherstellen könnten. Dies hat zur Konsequenz, dass sich gegenwärtig eine scharfe Trennungslinie im Gesamt–Lehrkörper der Nation aufbaut, die schärfer nie war: Während einige Kinder und Jugendliche von Lehrern unterrichtet werden, deren Qualität sehr viel besser ist als in der Vergangenheit, wird eine wachsende Zahl von Kindern aus armen Bevölkerungskreisen und aus Minderheiten von Lehrern unterrichtet, die für ihre Aufgabe eigentlich nicht vorbereitet sind. Diese Unterqualifizierung so vieler neu eingestellter Lehrer bringt das Risiko der Zunahme von Ungleichheit der Bildungschancen und Bildungsergebnissen mit sich – mit all den sozialen und gesellschaftlichen Folgeproblemen, die damit verbunden sind. Und das in einer Zeit, in der man von der heraufziehenden Wissensgesellschaft spricht.

Es ist sicher legitim zu fragen, ob nicht die Erhöhung der Standards für den Eintritt in den Lehrerberuf zu einem nachlassenden Interesse von potentiellen Interessenten und schließlich zu Lehrermangel führt. Ebenso kann man fragen, ob mit höheren Standards nicht auch der Zugang von Lehrern aus Minoritätengruppen reduziert wird (wie dies historisch bei der Professionalisierung des Medizinerberufs zu beobachten war). Seltsamerweise ist – historisch gesehen – beim Lehrerberuf jedoch das Umgekehrte der Fall. Sedlak, Schloßman (1986, S. 39) schreiben:

"Es war möglich, auch in Perioden des Lehrermangels die Standards zu erhöhen. Nicht nur hat die Erhöhung von Standards den Lehrermangel nicht vergrößert. Sie hat vielleicht sogar zur Verringerung des Lehrermangels beigetragen – v.a. wenn sie mit Gehaltsanhebungen verbunden war–, und zugleich das öffentliche Ansehen des Lehrerberufs gesteigert".

In den Phasen der Erhöhung der Standards und der Gehälter blieb der Frauen– und Minoritätenanteil in der Lehrerschaft konstant oder wuchs gar. Der Anteil von Berufsanfängern aus Minoritäten ging in den 1970er und 1980er Jahren zurück, und zwar deshalb, weil andere Berufe, die bisher für Minoritäten verschlossen waren, sich öffneten, die Lehrergehälter sanken und schließlich: weil sehr leistungsfähige Studenten sich aus den Lehramtsstudiengängen zurückzogen. (Darling–Hammond, Pittmann, Ottinger 1988). Unterschiedlich hohe Durchfallquoten bei Lehramtsprüfungen (teacher licensing tests) zuungunsten von Minoritätsangehörigen waren teilweise eine Folge der Tatsache, dass sich die fähigeren Studierenden aus Minoritätengruppen besser bezahlten Berufsfelder zuwandten. Als in den späten 1980 und den 1990er Jahren die Lehrergehälter wieder anzogen, ist auch die Zahl der Berufsanfänger aus Minoritäten wieder gestiegen, wenngleich nicht bis zu dem Anteil, den farbige Schüler in unseren Schulen ausmachen (Darling–Hammond 1997).

Derzeit gibt es zwar keinen generellen Lehrermangel, aber doch einen Lehrermangel in spezifischen Bereichen und Feldern. Faktisch werden in den USA Jahr für Jahr insgesamt viel mehr Lehrer ausgebildet als tatsächlich dann auch in den Beruf eintreten. Bereichsspezifischer, punktueller Lehrermangel (spot shortages) entsteht aufgrund von [/S. 72:] Gehaltsunterschieden und Unterschieden in den Arbeitsbedingungen: fehlende Planung, unzureichende nationale, landesbezogene und regionalspezifische Informationen über ausscheidende Lehrer, unabgestimmte Zulassungsbedingungen in den einzelnen Bundesstaaten, inadäquate Anreize für Lehrer in denjenigen Bereichen und Feldern, in denen sie gebraucht werden (NCTAF 1996). Hinzu kommt, dass beinahe 30 % der neu eingestellten Lehrer den Beruf innerhalb der ersten fünf Jahre wieder verlassen (insbesondere in den sozialen Brennpunkten). Die führt dazu, dass ständig nach neuen Lehrkräften gesucht werden muss. Bundesstaaten und Kommunen, die diesen Trend umgekehrt haben, haben dies erreicht, indem sie Gehälter und Arbeitsplatzbedingungen angeglichen, eine vorausschauende Einstellungspolitik und entsprechend ausgerichtete Berufseingangsphasen (induction programs) betrieben und sich insbesondere um die Lehrerversorgung in sozialen Brennpunkten gekümmert haben. Die Schlüsselfrage lautet, ob auch andere Bundesstaaten und Kommunen bereit sind, in solche Strategien zu investieren – oder ob sie statt dessen schlicht und einfach die Standards der Lehrer für die gefährdetsten Kinder aus den machtlosesten Bevölkerungsteilen absenken.

Das vielleicht wichtigste Anliegen der neuen Standards für die Lehrer und die Lehrerbildung liegt darin, dass sich sowohl Lehrerstudenten wie auch Lehrerbildungseinrichtungen an ihnen orientieren können. Der Sinn von Standards liegt ja nicht darin, die Durchfallquote zu erhöhen, sondern die Qualität der Ausbildungs- und Vorbereitungsprogramms zu steigern. Einer der wichtigsten Aspekte der neuen Standards liegt darin, dass sie die Ansprüche an Lehrerkompetenzen klar benennen, indem sie sich auf zentrale Unterrichtsaufgaben konzentrieren. Es geht also nicht länger um die Zusammenstellung von Themenlisten, Inhaltskatalogen und Kursprogrammen, die man absolviert haben muss, und auch nicht um die Überprüfung von abgehobenem Wissen jenseits seines Verwendungskontexts. Die Tatsache, dass Lehramtsstudierende nach eigenen Aussagen von den neuen Standards lernen und dass die Beurteilungen ihnen dabei helfen, ihre beruflichen Handlungsformen (skills) zu entwickeln und zu verfeinern, kann zu einer Steigerung der Qualität von Lehrerarbeit auf breiter Front beitragen.

 

4. Politik, Verwaltung und Steuerung

Eine zusätzliches Hindernis für einen flächendeckenden Gebrauch von Standards und einer Lösung der Probleme am Lehrerarbeitsmarkt ist die dezentrale, flickendeckenartige (crazy–quilt) Struktur der Bildungssystems und der Bildungsverwaltung in den USA. Die gesamte Struktur, alle beteiligten Institutionen und Gruppen, die das System der Lehrerbildung und der Lehrerversorgung überwachen und managen sowie einen Konsens über der Standards für die Akkreditierung, Lizensierung und der weitergehenden beruflichen Qualifizierung bilden müssten, sind balkanisiert. Verschiedene Regierungsorganisationen (sowohl legislative wie exekutive) auf unterschiedlichen Ebenen (Bund, Staat, Kommune) sind an der Etablierung von Standards sowie an der Entscheidung über Ausbildung und Einstellung beteiligt. Hinzu kommen Berufsverbände (Lehrerverbände, Fachgruppen) und nicht–organisierte Berufsinhaber. Alles, was in einem Bereich des Systems getan wird, kann in einem anderen Bereich sehr leicht wieder aufgehoben werden. Diese Situation erschwert jeden Prozess der Konsensbildung.

Wirksame Standards können unbequem sein, denn sie rücken Unzulänglichkeiten der gegebenen Praxis ins Licht; solche Standards zu erfüllen setzt Veränderungen voraus. Dies führt dazu, dass als Folge einer Erhöhung der Standards Schlupflöcher konstruiert [/S. 73:] werden. In einer Reihe von Staaten (der USA), in denen die Standards für die Zulassung/Lizensierung von Lehrern erhöht worden sind, ist dies eingetreten: Die strengeren Standards gingen zeitgleich einher mit dem Aufkommen temporärer oder alternativer Zugangswege, die es vielen Kandidaten ermöglichte, sich eben nicht an den neuen Standards messen zu lassen. In praktisch jedem Fall werden dann die am schlechtesten vorbereiteten Lehrkräfte für die Arbeit mit den am stärksten benachteiligten Kindern eingesetzt – wodurch eben diesen die Vorteile der Reform und Qualitätssteigerung vorenthalten werden. Umgekehrt haben einige Staaten (der USA) Anreize und Entwicklungsmöglichgkeiten geboten und gleichzeitig Standards erhöht. Auf diese Weise wurde sowohl die Qualität des Unterrichts wie auch die Chancengleichheit erhöht (NCTAF 1996).

Ähnlich unterschiedliche Reaktionen auf die Anstrengungen und Unbequemlichkeiten einer Reform waren im Kontext der Einführung höherer Standards für Lehrerbildungsprogramme zu beobachten: Sobald die NCATE die Standards höher gelegt hatte, wurden alternative Zugangswege installiert, die es dann ermöglichten, dass Schulen ihre bisherige Praxis fortsetzen konnten, ohne sich einer externen Kontrolle anhand professionelle Standards zu unterziehen. Einige Lehrerbildungsinstitutionen haben gemeint, sie könnten ihre je eigenen Standards definieren – und zwar in terms ihrer gegenwärtigen Praxis. Anderer dagegen haben ihre Studiengänge, ihr Personal sowie ihre Lehre aufgewertet und anspruchsvoller gestaltet, um bundesweit gültige Standards zu erfüllen. Letzteres geschah immer dort, wo die jeweiligen Staaten (der USA) darauf insistierten, dass genau dies geschehen müsse.

Eine Umstrukturierung von Rollemustern sowie eine Umverteilung von Ressourcen kann ebenfalls zu Widerständen gegenüber an Standards orientierten Modelle der Lehrerweiterbildung führen, denn "der Versuch, Lehrerweiterbildung an professionellen Standards zu orientieren wurde einen grundsätzlichen Wandel der Balance der Autorität und Kontrolle über die Arbeit von Lehrern und deren Evaluation bedeuten. Es würde auch die traditionellen Methoden der Verteilung von Mitteln für die berufliche Weiterentwicklung verändern" (Ingvarson 1997, S. 6).

Ingvarson nimmt an, dass Arbeitgeber und Universitäten, die traditionell die Mittel und die Entscheidungsgewalt über "professional development" kontrollierten, zunächst sehr zögerlich sein würden bei der Übergabe dieser Mitteln und Entscheidungskompetenz an die Profession selbst. Auch staatliche Stellen würden einer solchen Verlagerung von Entscheidungskompetenz an die Profession selbst kritisch gegenüber stehen. So hat etwa das Council of Chief State School Officers (etwa: Kommission der Obersten Schulbeamten der Bundesstaaten ? –ET) allen Versuchen einzelstaatlicher Institutionen die Unterstützung verweigert, die darauf hinauslaufen, der Profession selbst zur Formulierung von Standards für sich selbst zu autorisieren.

Gleichwohl gibt es Indizien dafür, dass genau dies beginnt. Parallel zu intensiven Bemühungen der Einzelstaaten (der USA) um Standards für die Lehrerbildung zeigen Studien, dass auch das Engagement der Lehrer in Sachen ‚Standards für die eigene Arbeit' zugenommen hat (Darling–Hammond 1997). Bemerkenswerterweise ist das Interesse von Lehrern an Universitätsseminaren zwischen 1994 und 1996 deutlich zurückgegangen, wohingegen die Teilnahme an Lehrerfortbildungen, die auf eine erweiterte Zertifizierung zielten, deutlich gestiegen ist (NEA 1997). Gleichzeitig wurden neuen Formen der Lehrerweiterbildung bzw. der berufsbezogenen Kompetenzsteigerung zwischen Universitäten Schulbezirken und Lehrerverbänden ausgearbeitet, die vielleicht die An– [/S. 74:] zeichen für eine produktivere, synergetische Zukunft des beruflichen Lernens von Lehrern sind.

Eine letzte Barriere sind schließlich die politischen und programmatischen Realitäten, die die gegenwärtigen Praxis stabilisieren. Zu diese Realitäten gehört auch eine geradezu geologische Aufschichtung von Traditionen, die den Lehrplan und das Unterrichten ebenso bestimmen wie auch die Normalitätserwartungen an Unterrichtsprogramme, Absolventen von Lehrerbildung und erfahrene Lehrer. Wenn neue Konzepte und Programme auftauchen, werden nur in den seltensten Fällen alte offiziell und wirklich beendet. Diese widerstrebenden und widerständigen Kräfte müssen zunächst identifiziert werden, bevor man sie angehen kann; nur durch die Zusammenarbeit aller Beteiligten ist die festgefahrene Struktur zu ändern.

 

5. Zusammenfassung

Neuere Standards für das Unterrichten versprechen die Aussicht auf eine Reform der Laufbahn von Lehrern und können dazu beitragen, das Lernen im Beruf neu zu ordnen. Der Wert professioneller Standards liegt zum einen in ihrer Authentizität – d.h. in ihrer Fähigkeit, der Komplexität der Interaktionsgeschehens zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Inhalten und Kontexten gerecht zu werden. Zum anderen befördert die partizipatorische Struktur der dazugehörigen Beurteilungssysteme eine breitere Wissensentwicklung innerhalb der Profession. Generell wird dadurch die Etablierung von allgemein geteilten Normen gefördert, weil Unterrichten damit öffentlich und kollegial wird (anstatt wie bisher geheim/abgeschottet und individualisiert/vereinzelt durchgeführt zu werden). Standards für das Unterrichten in Verbindung mit Standards für die Lehrerbildung könnten schließlich eine gewisse Struktur und Kohärenz in das fragmentierte, chaotische System des gegenwärtige wohl eher zufälligen beruflichen Lernens von Lehrern bringen.

Standards für den Lehrerberuf sind kein Wundermittel. Sie können nicht die Probleme dysfunktionaler Schulorganisation, überalterter Lehrpläne, ungleichgewichtiger Ressourcenallokation oder fehlender sozialer Unterstützung von Kindern und Jugendlichen lösen. Wie alle Reformen, so bergen darüber hinaus auch Standards bestimmte Gefahren. Die Definition von Standards in allen Professionen muss der Gefahr begegnen, dass die berufliche Praxis durch die Kodifizierung von Wissen eingeschränkt wird und dadurch legitime Diversität im Feld sowie auch neue Erkenntnisse unterdrückt werden, dass die Zugänge zum Beruf über Gebühr durch Faktoren erschwert werden, die mit der beruflichen Kompetenz selbst nichts zu tun haben, oder dass schließlich die Voraussetzungen und Chancen zur Erfüllung dieser Standards ungleich verteilt sind. Obwohl zahlreiche Dilemmata existieren und manche Barriere überwunden werden muss, geben die entsprechenden Anstrengungen von Pädagogik und Bildungsadministration Anlass zu der Hoffnung, dass die neuen Standards für das Unterrichten einen wichtigen Beitrag für die Erziehung der Erzieher leisten – für solche Erzieher, die auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet sind. [/S. 75:]