Die Diskussion um die "Gesellschaftslehre" ist kein Resultat dieser aktuellen Entwicklungen, sie ist älter. Dennoch leistet sie einen interessanten Beitrag zu der Frage nach möglichen Konsequenzen aus diesen Entwicklungen für die innere Schulreform. "Gesellschaftslehre" soll hier als Chiffre für unterschiedliche Versuche stehen, die Fächer Sozialkunde (Politik), Geschichte und Geographie (Erdkunde) zu einem neuen Fach oder Lernbereich zusammenzufassen. Als ein solcher Versuch kann schon die - im einzelnen recht vage und deshalb von den Bundesländern unterschiedlich interpretierte - KMK
-Vereinbarung zur Gemeinschaftskunde aus dem Jahr 1960 gelten, die zudem nur für die gymnasiale Oberstufe galt. Auch ein Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesens über einen Lehrgang "Politische Weltkunde", das diese Diskussion weiterführen wollte, hatte keine Verständigung über ein allgemein akzeptiertes Konzept einer Neuordnung des Zusammenhangs der drei Fächer zur Folge.
Mit den hessischen Rahmenrichtlinien für ein neues Fach mit der Bezeichnung Gesellschaftslehre aus dem Jahr 1972 wurde das Thema dann zum Gegenstand einer polarisierten, bundesweit beachteten politischen Kontroverse. Kurioserweise stellte das neue Fach Gesellschaftslehre den eher bescheidenen Rest eines ursprünglich sehr viel weiter gehenden Reformansatzes aus den 60er Jahren dar: eine Kommission unter Leitung von Wolfgang Klafki hatte den Versuch unternommen, ein curriculares Strukturmodell für eine Neuordnung der schulischen Lerninhalte jenseits des traditionellen Fächersystems zu entwickeln. Die jahrzehntelange öffentliche Debatte um die hessische Gesellschaftslehre kann hier nicht nachgezeichnet werden, auch die konzeptionellen Schwächen in den frühen Versionen dieser Richtlinien sollen hier nicht erörtert werden. Die phasenweise hoch ritualisierten Kontroversen entlang der Frontlinien des bundesdeutschen Parteiensystems stellen wahrlich kein Ruhmesblatt der westdeutschen Bildungsgeschichte dar.
In den 90er Jahren hat sich die Diskussion um diesen Ansatz fächerübergreifenden Lernens entspannt, der neue hessische Rahmenplan für Gesellschaftslehre konnte 1995 nahezu "geräuschlos" in Kraft gesetzt werden. Hierzu mag eine salamonische Regelung im hessischen Schulgesetz beigetragen haben, die es den einzelnen Schulen überläßt, in der Sekundarstufe I Sozialkunde, Geschichte und Erdkunde als Einzelfächer oder integriert im Lernbereich Gesellschaftslehre zu unterrichten. Für beide Varianten gibt es Rahmenpläne, insgesamt also vier für die Fächer des Lernbereichs: je einen für die Einzelfächer und einen für die Schulen, die Gesellschaftslehre integriert unterrichten wollen. Die gleiche Wahlfreiheit gibt es in Hessen im übrigen auch für die Fächer des Lernbereichs Naturwissenschaften. Inzwischen hat sich die Debatte um eine Integration der drei Fächer Sozialkunde, Geschichte und Erdkunde auch insofern von den Konfliktlinien hessischer Bildungspolitik gelöst, als sie auch in anderen Bundesländern zu einem aktuellen bildungspolitischen Thema geworden ist, so z.B. in Bayern, wo an den Hauptschulen eine integrative Lösung für diese drei Fächer vorgesehen ist (vgl. Bongard).
Dennoch gibt es vermutlich in Hessen die meisten Erfahrungen mit der Fächerintegration im Lernbereich Gesellschaftslehre. So enthält auch der hessische Rahmenplan für Gesellschaftslehre interessante konzeptionelle Überlegungen. Die vorgegeben Unterrichtsthemen werden jeweils einem von fünf als fachunabhängig verstandenen Themenfeldern zugeordnet; der Beitrag der beteiligten Fächer soll sich in den "Kategorien" "Entwicklung und Wandel", "Ideen, Interessen und Perspektiven", "gegenwärtige Strukturen und Prozesse", "Raum" und "Zukunft" spiegeln, mit deren Hilfe die Themen erschlossen werden sollen. Ob und inwieweit dieses Konzept im Detail überzeugen kann, soll hier nicht erörtert werden (vgl. zur Kritik, bezogen auf Entwurfsfassungen der Rahmenpläne, Sander
1994). Wichtig für eine gelingende Integration, die mehr sein will als eine additive Aneinanderreihung fachbezogener "Stoffe", erscheinen aber zwei in diesem Ansatz implizierte Grundentscheidungen: die curriculare Struktur, von der Themen des Unterrichts begründet und der sie zugeordnet werden, muß die Gegenstandsfelder der an der Integration beteiligten Fächer tatsächlich "übergreifen", sie darf sich nicht als Ausdruck der fachlichen Struktur nur eines der beteiligten Fächer darstellen; zugleich müssen auf eine erkennbare Weise bei der Erschließung der konkreten Themen die Perspektiven der Fächer zur Geltung kommen. Daher steht Fächerintegration, wenn sie gelingen soll, auch nicht in einem Widerspruch zu fachlicher Kompetenz, ganz im Gegenteil; ihr Gelingen hängt ganz wesentlich davon ab, ob die Fachlehrer der beteiligten Fächer es an der konkreten Schule verstehen, den Unterricht in Gesellschaftslehre im Team zu konzipieren, in diese gemeinsame Arbeit ihre fachlichen Perspektiven einzubringen und sich als Lehrerteam für diesen Unterricht verantwortlich zu fühlen.