Die inhaltliche Reform der Grundschule begann bereits 1969. Die bis dahin existierenden Fächer wurden durch vier Unterrichtsgebiete (Lernbereiche) ersetzt: Französisch mit 10 Stunden, Rechnen mit 5 Stunden, Sport und "disciplines d'éveil" mit je 6 Stunden. Die "disciplines d'éveil" umfaßten Elemente der Geschichte, Geographie, Sozialwissenschaften und der künstlerischen Erziehung. Der Begriff "d'éveil" ist schwer übersetzbar. Ausgehend von den Theorien Piagets soll das Kind sein eigenes Wissen in Interaktion mit seiner Umgebung aufbauen. Es gibt keinen festen Kanon des Wissens. Die Unterrichtsgegenstände ergeben sich aus den "occasions fournies par la vie", den "durch das Leben gebotenen Gelegenheiten". Der Lehrer soll "éveilleur" (Erwecker) sein, der das Lernen der Kinder "erweckt".
Durch die Grundschul-Reform wurden die Lehrer in hohem Maße verunsichert. Auf die veränderten Methoden und Inhalte waren sie nicht vorbereitet. Viel gravierender war jedoch, daß es für den reformierten Unterricht [/S. 86:] in den "activités d'éveil" keine Unterrichtspläne und keine Handreichungen gab. Die Lehrer sollten ihr eigenes Curriculum schulnah erarbeiten. Zugleich mußten sie sich auch für die veränderten Anforderungen in Französisch und Neuer Mathematik fortbilden. Die Folge war, daß der Unterricht in den activités d'éveil weitgehend ausfiel. Das Nationalinstitut für pädagogische Forschung (Institut National de Recherche Pédagogique - INRP) begann unmittelbar 1969 mit einer eigenen Curriculumentwicklung in enger Zusammenarbeit mit Schulen. Ein Beispiel für die dezentrale Curriculumentwicklung des INRP zu den activités d'éveil in Zusammenarbeit mit einer Landschule für den Unterricht in den beiden Abschlußklassen der Grundschule zeigt die nachstehende Tabelle.
Pädagogische Wahlmöglichkeiten im Mittelkurs (CM1, CM2 = 4./5. Klasse)
Wahlmöglichkeit A: ländliche Grundschule (Beispiel der Schule in Manduel bei Nîmes)
Lerninhalte | Gegenwart | Geographische Synthese nach Bereichen | Verankerung in der historischen Dimension | Historische Synthese nach Bereichen | Synthese früherer Gesellschaften | |||
Fall | geograph. Erweiterung | 18. Jh. | 19. Jh. | 18. Jh. | 19. Jh. | |||
Industrielle Produktion | Zellulose-Fabrik in Tarascon | weitere Industriebranchen | Industrie in Frankreich | Handwerker, Manufakturen, Hüttenwerke | Handwerker, Fabriken | Industrie in Frankreich | Industrie in Frankreich | 18. Jh. und 19. Jh. |
Landwirtschaftliche Produktion | Landwirtschaftl. Betrieb in Manduel | weitere landwirtschaftl. Betriebsformen | Landwirtschaft in Frankreich | Arten landwirtschaftl. Produktionen | Arten landwirtschaftl. Produktionen | Landwirtschaft in Frankreich | Landwirtschaft in Frankreich | |
Verteilung | ||||||||
Dienstleistung | Bahnhof von Nîmes | Eisenbahnnetz in Frankreich | Anfänge der Eisenbahn | |||||
Sozialer Raum | Stadt Nîmes | Nîmes und die Region | Städte in Frankreich | Nîmes | Nîmes | Städte in Frankreich | Städte in Frankreich |
Quelle: Histoire et Géographie, 1986, S, 61
Die Ergebnisse dieser Arbeit ermöglichten es dem Staat, ab 1977 offizielle Unterrichtspläne und -empfehlungen herauszugeben. Aber die schlecht vorbereitete Reform war nicht mehr zu retten. Bereits 1980 gab es wieder neue Unterrichtspläne, die neben den fortgeltenden Lehrplänen der activités d'éveil obligatorisch die Behandlung von zehn Perioden der französischen Geschichte vorschrieben. 1985 wurden als Folge der großen Auseinander[/S. 87:]setzung um den Geschichtsunterricht (vgl. folgende Kapitel) wieder die alten Schulfächer eingerichtet und entsprechende Lehrpläne erlassen.