Die Arbeitslehre ist ein Produkt der Bildungsreform und zugleich ein Fach auf der Suche nach seiner Bezugswissenschaft. Die Bildungsreform stand schlagwortartig unter den Reformprinzipien:
- mehr Praxis- und Lebensnähe der Schule
- mehr Wissenschaftlichkeit des Lehrens und Lernens.
Die Forderung nach mehr Praxis- und Lebensnähe der Schule schien zunächst durch die Einfügung der Arbeitslehre in den Aufgabenkatalog der Schulen und in die Lehrpläne sehr schnell und in relativ großer Übereinstimmung aller Beteiligten erfüllt werden zu können. Manche Lehrpläne zeichneten sich allerdings zunächst noch durch ein sehr diffuses - fast naives - Bild der Arbeitslehre aus. In Niedersachsen z.B. wurde die Arbeitslehre 1967 als Prinzip aller Fächer eingeführt. Die Inhalte waren sehr vielfältig und zunächst relativ unkontrovers.
Die intensivere didaktische und auch politische Diskussion um die Arbeitslehre und die in einigen Ländern vollzogene Weiterentwicklung der Arbeitslehre zu einem eigenständigen Schulfach trugen dazu bei, daß ein manifester didaktischer und politischer Druck in Richtung auf die systematische Begründung der für die Arbeitslehre typischen Inhalte und Lernziele entstand. Welche Strukturen und welche Probleme die wissenschaftlich-technische Industriegesellschaft prägten - und damit z.B. auch Inhalt der Arbeitslehre werden könnten - sollte unter Zuhilfenahme der modernen Wissenschaften geklärt werden. Das hieß: Verstärkte Rezeption der Erkenntnisse der Wissenschaften von der wissenschaftlich-technisch geprägten Industriegesellschaft bzw. zumindest Orientierung der Didaktik der Fächer an dem Stand der Diskussion in den wissenschaftlichen Disziplinen.
Im Falle der Arbeitslehre erwies sich die Forderung nach Wissenschaftsorientierung - und Wissenschaftslegitimation - jedoch als Pferdefuß. Es zeigte sich, daß ein Wissenschaftsbezug für die Arbeitslehre so einfach nicht herzustellen war. Es fehlte eine Bezugswissenschaft und ein fachsystematischer Orientierungspunkt für die Entwicklung von Arbeitslehre-Curricula. Angesichts dieser Situation hat sich ein Rückgriff auf vorhandene Fächer und auf bestehende Wissenschaftsdisziplinen oder zumindest eine Anlehnung an sie angeboten.
Nachdem in der frühen Zeit der Arbeitslehre in der Bundesrepublik die Berufspädagogik und die Allgemeine Pädagogik den Ton angaben, drängte gemäß dem Lernbereichskonzept verstärkt Werkdidaktik/Technikdidaktik in den Vordergrund. Dann schalteten sich auch die Wirtschaftspädagogik und schließlich die Politische Bildung ein. Nach einer Phase der Dominanz der Werk- bzw. Technikdidaktik scheint es heute, daß sich die Wirtschaftsdidaktik anschickt, eine zumindest gleichwertige Rolle im Lernbereich der Arbeitslehre zu übernehmen.
Die Auffächerung der Arbeitslehre auf mehrere Fächer und die Orientierung dieser Fächer an einem etablierten Hochschulfach oder an einer Wissenschaftsdisziplin (sei es Technik, Ökonomie oder Politik) hat allerdings deutlich auch dysfunktionale Effekte. [/S. 65:]
Wissenschaftsorientierung bedeutet Verfachlichung und Verfachlichung impliziert Verselbständigung. Die Verselbständigung tendiert ihrerseits zur Abkoppelung bzw. zum Verlust oder zum Verzicht auf die Arbeitslehre-typischen Begründungs- und Organisationszusammenhänge, denn die einzelnen Fächer sind im Prozeß der Selbstlegitimierungen gezwungen, eine eigenständige Fachdidaktik zu entwickeln. Das führt zu Abgrenzungen bis hin zum Abwerfen des Ballasts der Integrations- und Praxisprobleme der Arbeitslehre. Die Partnerfächer im Lernbereich werden im Kampf um Stundenanteile und Personal- und Sachmittel z.T. sogar zu Konkurrenten. Mit dem Rückgriff auf bestehende Fächer bzw. Wissenschaftsdisziplinen wurde m.E. also nicht der Sach- und Fachkanon der Arbeitslehre besser legitimiert, sondern es trat ein Gegeneffekt ein. Die Arbeitslehre scheint mit ihrem Anliegen in der Verfachlichung unterzugehen - oder nur noch in der Durchführung von Betriebserkundungen oder Betriebspraktika oder in einer rudimentären Berufskunde zum Ausdruck zu kommen.
Multidisziplinarität in einem Lernbereich ergibt noch keine Integration der verschiedenen Dimensionen, Situationen oder Aspekte der Arbeitslehre. Multidisziplinarität bedeutet zugleich noch keine schulisch-integrative Verarbeitung des umfassenden Lebens- und Erfahrungsbereichs, den man Arbeits- und Wirtschaftswelt nennt. Diese komplexe Realität läßt sich nicht nur mit einer, die Wirklichkeit nur ausschnitthaft wahrnehmenden und wiedergebenden Wissenschaftsdisziplin bzw. eines entsprechenden Faches erfassen. Auch die bloße Addition und Koppelung verselbständigter Fächer unter einem Lernbereichsdach reicht nicht aus. Zugleich kann keine einzelne Disziplin und kein Einzelfach als maßgeblicher Impulsgeber für die übergreifenden Zielsetzungen der Arbeitslehre fungieren.
Die Verfachlichung und Wissenschaftsorientierung steht m.E. der Forderung nach umfassender, nicht-spezialisierter Praxis- und Lebensnähe der Schule entgegen Es fragt sich, ob die fachwissenschaftliche Orientierung - als erzwunger Umweg zur Absicherung des Kanons der Arbeitslehre - sich nicht insofern als ein zu aufwendiger Umweg oder sogar Irrweg erwiesen hat. Das ist aber nur eine Seite des Problems. Es fragt sich generell, ob der Sach- und Fachkanon von Schulfächern (Technik, Wirtschaftslehre, Sozialkunde etc.) selbst schon aus den entsprechenden Wissenschaften hergeleitet werden kann.