Wissenschaftsdisziplinen verfahren ihrer Struktur und ihrer sozialen Praxis nach selektiv, kontrovers und abstraktmodellhaft. Jede Wissenschaft nimmt Realität nur ausschnitthaft - selektiv - wahr. Sie zerschneidet die Realität angesichts der wissenschaftlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung in besser handhabbare Teile. Diese Ausschnitte müssen nicht mit den Ausschnitten identisch sein, die den Schulfächern zugeordnet sind.

Der kontroverse Charakter der Wissenschaft zeigt sich beispielhaft in den unterschiedlichsten Ansätzen, Methoden, Approaches, Modeströmungen und Trends, die jede Wissenschaftsdisziplin prägen: In der politischen Wissen-[/S. 66:]schaft wird modellhaft ein normativ-ontologischer Ansatz, ein empirisch-analytischer Ansatz und ein kritisch-dialektischer Ansatz unterschieden. In der Volkswirtschaftslehre kann man mindestens den neoklassischen, den keynesianischen, den kritisch-alternativen und den marxistischen Ansatz unterscheiden. Die Betriebswirtschaftslehre zerklüftet sich zwischen dem faktorallokationstheoretischen, dem entscheidungsorientierten, dem systemanalytischen und dem arbeitsorientierten Ansatz. Der Positivismusstreit in der Soziologie ist ein Beispiel aus der Soziologie, zu schweigen von der Kontroverse zwischen einer "general theory" und der empirischen Sozialforschung. Jeder Approach in einer Wissenschaftsdisziplin selektiert die Realität ein zweites Mal - über den Ausschnitt hinaus, dem die Einzeldisziplin selbst aus dem komplexen Gebilde der Alltagswirklichkeit herausschneidet.

Angesichts der Fülle der Kontroversen, Theorien, Schulen und Richtungen in den Einzeldisziplinen und angesichts der Fülle der in ihnen zum Ausdruck kommenden Interessen erscheint es äußerst schwierig auszumachen, was der Stand der Wissenschaft ist bzw. was als Orientierungspunkt für eine Fachdidaktik oder als Legitimierungspunkt für die Inhalte eines Schulfaches gelten kann.

Die Wissenschaftsorientierung hat in einigen Fächern zu z.T. lehrreichen Zwischenergebnissen geführt. Im Boom der Fachdidaktiken entstand eine Didaktik nach Maßgabe einer Wissenschaftsorientierung und eine andere nach Maßgabe einer anderen Wissenschaftsrichtung. Der Streit der Wissenschaftsrichtungen führt unweigerlich zu einem Streit der Fachdidaktiker je nachdem, welche Wissenschaftsrichtung sie präferieren. Meist kommt dann noch ein manifester politischer Konflikt nach Maßgabe der förderalistischen Kulturpolitik zwischen den C-Ländern und den S-Ländern hinzu, der sich zur Blockade von Bildungspolitik überhaupt ausweiten kann. Wie der langjährige Streit um die Didaktik der Politischen Bildung/Sozialkunde gezeigt hat, sahen sich Fachdidaktiker zuweilen gezwungen, auf die Wissenschaftstheorie zurückzugreifen, um nach einer Meta-Theorie des Konsensus zu suchen, ein Suchproblem, das sich u.a. durch den ungelösten Theoriestreit in den Fachwissenschaften stellt. Eine Meta-Theorie ist jedoch nicht zu finden, sondern eher unterschiedliche Theorien über die Bildung von Meta-Theorien, als weiteres Spiegelbild des Pluralismus in der Gesellschaft. Oder sie sahen sich gezwungen, auf das Grundgesetz zurückzugreifen, um ihren immanenten oder explizit ausgewiesenen politischen Standort als noch innerhalb des Konsenses des Grundgesetzes zu legitimieren. Ein Fixpunkt ergibt sich allerdings auch hier nur in sehr loser Form, da das Grundgesetz verschiedene Interpretationen zuläßt.

Was von der Forderung nach fachwissenschaftlicher Orientierung bleibt, ist eigentlich die bescheidene Tatsache, daß es über einen Tatbestand verschiedene Meinungen geben kann, daß unterschiedliche Positionen soweit wie möglich ausgewiesen werden müssen, daß unterschiedliche Problemdefinitionen zu unterschiedlichen Problemlösungen führen.

Wenn dies das Ergebnis der fachwissenschaftlichen Orientierung bzw. der jüngeren - auch wissenschaftstheoretisch und wissenschaftspolitisch geführten - Diskussion wäre, könnte es schon als ein überaus wichtiges Ergeb-[/S. 67:]nis gelten. Die Folge ist eine Relativierung und "Entmythologisierung" der Fachwissenschaften - zumal einer einzigen Fachwissenschaft oder einer speziellen Richtung - als den bestimmenden Bezugspunkten von Lehrerausbildungsfächern. Das Ergebnis dieser Entmythologisierung mag die Vertreter der Arbeitslehre allerdings wiederum außerordentlich ermutigen. Können sie nicht froh sein, daß auch andere Fächer Probleme mit ihren Bezugsdisziplinen haben? Die Entmythologisierung führt in gewisser Weise zu einem Lob des "common sense" eines Arbeitslehre-Pädagogen, der nach spezifisch didaktischen, d.h. vor allem formalen Kriterien vorgeht, der seinen Gegenstandsbereich - ohne vorschnelle und strikte Disziplinierung durch die Fachsystematik einer Bezugsdisziplin - als komplexe Alltagswirklichkeit und als komplexes Handlungs- und Entscheidungsfeld akzeptiert, der seinen Gegenstand gemäß der situativen Erfahrung der Schüler aufzufächern und ihn mehrdimensional zu erarbeiten sucht.

Als Folgerung aus dem Dilemma der fachwissenschaftlichen Orientierung und der möglichen doppelten Selektivität der Fachwissenschaften als Bezugswissenschaften läßt sich - überspitzt und verkürzt - formulieren: Die Wissenschaftlichkeit eines Lehrers erweist sich nicht darin, daß er die oft verzwickten und weit verzweigten Verästelungen der Fachtheorien in den Bezugswissenschaften im Griff hat, sondern sie zeigt sich vor allem in der Fähigkeit, wie der Lehrer ein Problem im Unterricht gemäß dem Kenntnis- und Erfahrungsstand der Schüler präsentiert, damit die Schüler einen ihnen gemäßen Lernfortschritt erzielen. Freilich wird ein Lehrer ohne fachwissenschaftliche Grundlagen nicht auskommen. Jedoch gilt, daß ein Lehrer - zumal ein Mehr-Fach-Lehrer - auch mit einem fachwissenschaftlichen Defizit wird leben müssen.