Im Schulfach Sozialwissenschaften verschränken sich die - in einem engen Sinne - wissenschaftspropädeutische Zielsetzung und die erzieherische Dimension.
Richtlinien für das staatliche Schulwesen müssen heutzutage angeben, welche Zielvorstellungen ihre Herausgeber haben. Reine Stoffkataloge genügen nicht, denn sie lassen die Frage offen, wohin und zu welchem Ende Unterricht bzw. Erziehung führen sollen. Damit sind Richtlinien ein greifbarer Teil der Selbstverständigungsprozesse dieser Gesellschaft, was besonders die Richtlinien für politisch relevante Fächer brisant macht. Denn hier muß eine allgemeine Idee formuliert werden, wie Tempo und Richtung sozialen Wandels eingeschätzt werden und ob und wie das beeinflußt werden soll.
Die Richtlinien für den Politikunterricht in Nordrhein-Westfalen (3. Aufl. 1987) geben als Zielvorstellungen sog. Qualifikationen an, das sind Fähigkeiten und Bereitschaften zur Bewältigung von Lebenssituationen. Sie beschreiben insgesamt den mündigen Bürger und sind demnach einem Konzept lebenslangen Lernens verpflichtet (und nicht erreichbar mit Ende einer Schulzeit).
Ihr Richtwert "Emanzipation" hat in den 70er-Jahren heftige Kontroversen ausgelöst (vgl. Schörken 1974, Gagel/Schörken 1975, Gemein/ Kienel 1975). Die 3. Auflage der Richtlinien enthält wohl eine Formulierung, die weithin konsensfähig ist, weil sie die Dialektik von Individuum und Gesellschaft beschreibt, indem sie Ich-Bezug und Sozial-Bezug zu balancieren versteht:
"In der politischen Bildung verstehen wir heute darunter [Emanzipation] einen Lernprozeß, in dem Schülerinnen und Schüler die komplexer und schwerer durchschaubar werdende Welt besser begreifen, sich nicht blind in die Gegebenheiten fügen und aufgrund von Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit bereit und fähig werden, Selbst- und Mitbestimmung in Politik und Gesellschaft zu praktizieren. (...)
Zu den Kriterien der Selbst- und Mitbestimmung gehört, daß die Interessen anderer ebenso wie eigene Interessen bedacht werden. Emanzipationsprozesse sind nicht nur als individuelle, sondern auch als solidarische Akte zu verstehen und müssen sich stets unter dem Prinzip sozialer Verantwortung legitimieren.
Die Schüler und Schülerinnen müssen lernen, daß sie mit zunehmendem Alter für ihr Handeln selbst verantwortlich werden und daß Selbstverwirklichung ihre Grenzen im gleichen Anspruch anderer haben muß." (S. 7 f.)
Die Konsensmöglichkeit von Richtwerten für den Politikunterricht ist auch dadurch gefördert worden, daß im sog. Beutelsbacher Konsens auf[/S. 18:]grund von Diskussionen in den 70er-Jahren (vgl. Breit/Massing (Hg.) 1992, Kapitel III) eine gemeinsame didaktische Vorstellung von Unterrichtsprozessen entstand: das Überwältigungsverbot und das Prinzip der Kontroversität verlagerten notwendige Konflikte (ohne die tragfähige Konsense nicht zu erzielen sind) in den Unterricht hinein. Damit war die Entscheidung in Streitfragen nicht vorab von Richtlinien oder Lehrern getroffen, sondern - gemäß der Zielsetzung des Aktivbürgers - den lernenden Individuen übergeben.
Mit der glücklichen Formulierung "Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung" als Erziehungsziel wurde im allgemeinen Teil aller Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe in Nordrhein-Westfalen eine vergleichbare Grundvorstellung vertreten. Diesem Erziehungsziel wurde als Unterrichtsziel "Wissenschaftspropädeutische Ausbildung" an die Seite gestellt, womit der Akzent der gymnasialen Oberstufe betont wurde.
Zwar erscheint dieses Nebeneinander von Unterrichts- und Erziehungszielen nicht sehr plausibel (vgl. oben: auch Wissenschaft ist eine sehr soziale und häufig wertgebunden-politische Veranstaltung), aber die analytische Trennung kann wiederum leicht ineinander gedacht werden. Die Autoren der Richtlinien für das Fach Sozialwissenschaften (1981/ 1991) entwickelten Qualifikationen zu so genannten Entwicklungstendenzen dieser Gesellschaft, in denen jeweils Chancen und Gefahren gesehen wurden (1981, S. 47-54; eine Kurzfassung bei Reinhardt 1989, S. 212). Als wertende Bezugspunkte wurden - in Anlehnung an Hilligens Optionen (z. B. 1991) - Menschenwürde in einer demokratischen Ordnung, Freiheit in Verantwortung, Chancengleichheit und Toleranz/Solidarität gewählt.
"Die ... Qualifikationen und Lernziele stehen ... im Einklang mit denen des Politik-Unterrichts, auf dem der Unterricht im Fach Sozialwissenschaften aufbaut." (S. 47) Dieser Einklang von Qualifikationen/Lernzielen politischer Bildung, die schulformunabhängig und stufenübergreifend gelten, und Zielvorstellungen wissenschaftspropädeutischen Arbeitens als Spezifikum stärker theoriebezogenen Vorgehens wird im (vorläufigen) Rahmenplan für Politische Bildung in Brandenburg (die von den nordrhein-westfälischen Richtlinien mit beeinflußt sind) sehr klar zum Ausdruck gebracht: Die Qualifikationen für Politische Bildung sind dieselben wie in dem Rahmenplan für die Sekundarstufe I; ihnen sind als zweiter Katalog "Wissenschaftspropädeutische Lernziele" hinzugefügt, die die Aufgabe der gymnasialen Oberstufe akzentuieren:
Diese Fassung hat den Vorteil, daß sie zum einen eine generalisierbare Vorstellung von "Demokratie lernen" enthält und zum anderen die Zu[/S. 19:]nahme an Theoretisierung in der Wissenschaftswelt und in der Alltags- und Berufswelt erfaßt.
Die Kombination beider Zielvorstellungen ist dem institutionellen Kontext der gymnasialen Oberstufe angemessen aus Gründen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und wegen der Entwicklungsmöglichkeiten der Lernenden als Subjekten von Bildungsprozessen."

Qualifikationen im Fach Politische Bildung

Wissenschaftspropädeutische Lernziele:

Fähigkeit und Bereitschaft,
  1. sich in gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Zusammenhängen zurechtzufinden, Herrschaftsverhältnisse nicht ungeprüft hinzunehmen, sie in ihrem zeitgeschichtlichen Bezug zu verstehen, sie auf ihren Sinn, auf ihre Zwänge, Zwecke und Notwendigkeiten hin zu befragen und die ihnen zugrundeliegenden Interessen, Normen und Wertvorstellungen kritisch zu prüfen;
  2. die neuen Chancen zur Einflußnahme auf gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Strukturen, Herrschaftsverhältnisse und Entscheidungsprozesse kritisch zu hinterfragen, zu verstehen, zu nutzen und mitzugestalten;
  3. Kommunikation und Kommunikationsmittel als wichtigen Faktor beim demokratischen Umbau in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu verstehen, Motive, Interessen und Machtgefälle zu prüfen und Teilnahmechancen wahrzunehmen.
  4. in politischen Alternativen zu denken und zu lernen, sich zu engagieren, auch gegen Widerstände Entscheidungen auf demokratische Weise herbeizuführen, in unterschiedlichen sozialen Gruppen mitzuarbeiten und dabei Belastungen auszuhalten;
  5. sich selbst zu verwirklichen, eigene Vorstellungen vom glücklichen [S. 20:], erfüllten Leben zu entwickeln und in sozialer Verantwortung wahrzunehmen, eigene Rechte und Interessen zu vertreten, aber auch gesellschaftliche Interessen und Interessen anderer (z. B. Benachteiligter) zu erkennen und ihnen ggf. den Vorrang zu geben;
  6. das Lebensrecht und die Eigenständigkeit anderer Gesellschaften zu akzeptieren, für wirksame Sicher-heitskonzepte und für die Interessen benachteiligter Völker einzutreten, auch individuelle Verantwortung für globale Probleme zu erfassen;
  7. durch eigenes Verhalten und durch Teilnahme an Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen Verantwortung für heutige und künftige Lebensbedingungen mit zu übernehmen;
  8. die Arbeit als Bedingung für individuelle und gesellschaftliche Existenzsicherung und als Faktor für Selbstverwirklichung und politische Beteiligung zu verstehen und dies im individuellen Lebenskonzept zu berücksichtigen, sich für die Demokratisierung und Humanisierung der Arbeitswelt einzusetzen.
  1. Kenntnisse über unterschiedliche Ansätze sozialwissenschaftlicher Methoden und Theorien,
  2. Kenntnisse über Begriffs-, Hypothesen- und Modellbildung,
  3. Fähigkeit zu zeitgeschichtlichen Betrachtungsweisen,
  4. Einsicht in die Begrenztheit und Vorläufigkeit wissenschaftlicher Aussagen,
  5. Bereitschaft und Vermögen, wissenschaftliche Neugier zu entwickeln und Freude an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu empfinden,
  6. Fähigkeit und Bereitschaft, sich im politischen Bereich selbständig und kreativ, engagiert und konsequent, systematisch und deutlich mit unter-schiedlichen Theorien und Erklärungsversuchen auseinanderzusetzen,
  7. Fähigkeit, Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen bei der Analyse gesellschaftlicher Tatbestände und Probleme anzuwenden und soweit wie möglich zu integrieren,
  8. Fähigkeit und Bereitschaft, wissenschaftliche Ergebnisse miteinander zu erarbeiten und für das eigene Handeln nutzbar zu machen,
  9. Einsicht, daß es individuelle und gesellschaftliche Bereiche gibt, die mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden nicht zureichend zu erfassen sind,
  10. Fähigkeit und Bereitschaft, wissenschaftliches Arbeiten als sozialen [S. 20:] Prozeß zu erkennen und die Interessengebundenheit wissenschaftlichen Arbeitens zu prüfen,
  11. Fähigkeit und Bereitschaft, die sozialen Voraussetzungen und Folgen wissenschaftlichen Arbeitens zu bedenken und entsprechend verantwortlich zu handeln.
aus: Rahmenplan (vorläufig) für Politische Bildung - gymnasiale Oberstufe, Sekundarstufe II im Land Brandenburg. Hg.: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg. Potsdam: Brandenburgische Universitätsdruckerei 1992, S. 26 f.