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Die Sequentialität des Integrationsfaches [S. 56-59]

"Entwicklung von Lernen heißt dreierlei, wovon bis hierher zwei Punkte entfaltet worden sind:

  1. Der Umgang mit politisch-sozialer Welt entwickelt sich vom primären Subjektbezug hin zur Reflexion über die Reflexion, wobei die Ebene der Meta-Reflexion die Zugriffe aller Stufen vorher einschließt.
  2. Der Umgang mit Theorie erfaßt zunehmend viele Elemente von Wissenschaftspropädeutik (vgl. die "Rede von Methoden"), und dieser Umgang wird durch Übung komplexer und souveräner, also selbständiger.
  3. Der Umgang mit den Sozialwissenschaften als Integrationsfach entwickelt sich von disziplin-spezifischen Bearbeitungen zum bewußten Integrieren auf Gegenstände, die dies nötig machen.

Der dritte Punkt soll jetzt als letzter Punkt genauer entfaltet werden.
Erinnert sei an das Problem: Die soziale Welt ist eine einheitliche Welt, auch wenn "Soziales", "Ökonomisches" und "Politisches" häufig als getrennte Subsysteme empfunden werden und die Menschen im Alltag recht gekonnt (wenn auch i. a. unbewußt) zwischen den unterschiedlichen Imperativen wechseln. Viele gesellschaftliche Probleme (als Beispiel [/S. 57:] nehme man nur "Umwelt") offenbaren aber Interdependenzen und Vernetzungen, die die in Disziplinen getrennten Sozialwissenschaften nicht je einzeln erfassen können. Deshalb muß das Schulfach ein Integrationsfach sein.
Andererseits haben sich die Disziplinen als spezielle entfaltet, und ein Teil ihrer jeweiligen Qualität hat sicher mit dieser Arbeitsteilung und Spezialisierung zu tun. Studierfähigkeit und also Erkenntnisfähigkeit kann dieses Moment von Wissenschaftswissen nicht überspringen. Deshalb muß der Unterricht die Disziplinen als je eigene achten und zeigen. Wie geht dieser Widerspruch in einen Lernprozeß ein, ohne daß es ein schlechter Widerspruch (weil unfruchtbarer, nur Durcheinander erzeugender, nur falsche Logik behauptender) ist?
Die Diskussion um die Richtlinien Sozialwissenschaften und den Rahmenplan Politische Bildung (1981/1991 bzw. 1992) hat drei Möglichkeiten für die geforderte Differenzierung und Integration ergeben, die dann die Sequentialität des Lernens bestimmen lassen:
Zum einen können wir uns die Differenzierung + Integration vorstellen als die Addition von Einzelwissenschaften, wobei die drei Teildisziplinen Soziologie, Ökonomie und Politologie durch fachspezifische Zugangsweisen auf ein Thema repräsentiert werden. Ein Beispiel: Arbeitslosigkeit als Problem hat deutlich identifizierbare soziale, wirtschaftliche und politische Problemseiten, die vornehmlich von der jeweils ,zuständigen' Disziplin thematisiert werden. Fügt man diese Ansätze zusammen, so erhält man ein besseres Bild des Problems und der drei Disziplinen.
Zum zweiten können wir uns die Differenzierung + Integration vorstellen als die Arbeit mit Leitwissenschaften, wobei die jeweils die Untersuchung leitende Disziplin an geeigneten Problemstellen über "Brücken" mit einer der anderen Disziplinen verknüpft wird. Ein Beispiel: Die Untersuchung des Marktgeschehens unter der Frage nach der Koordination von Einzelhandlungen wird als eine Prämisse und auch Realitätselement die Konkurrenz herausstellen. Da freie Konkurrenz aber aus sich selbst heraus (also dialektisch) zur Selbstabschaffung tendiert, muß zur Erhaltung der freien Marktwirtschaft ein Außenfaktor (also der Staat) für ihre Sicherung sorgen. Die politische Regelung, wie sie im Kartellgesetz als legislativem Bestandteil und dem Kartellamt als exekutivem Bestandteil verkörpert ist, bringt zentrale Elemente des politischen Systems in die Betrachtung (Gewaltenteilung, Gewaltenverschränkung).
Zum dritten können wir uns die Differenzierung + Integration vorstellen als Interdisziplinarität, wobei eine Verknüpfung der verschiedenen Disziplinen über das Thema bzw. den Gegenstand gefordert und herge[/S. 58:]stellt wird. Ein Beispiel: Erscheinungen und Probleme des Nord-Süd-Konflikts würden in verkürzter Weise reduziert, wenn sie entweder als wirtschaftliches oder als soziales oder als politisches Geschehen angegangen würden. Der Gegenstand provoziert das Zusammenwirken der Disziplinen. Dieses Zusammenwirken ist dann kein unbewußtes Zusammenrühren, sondern ein kontrolliertes Einsetzen, wenn vorher ein Bewußtsein der Disziplinen näherungsweise entstanden ist.
Schaltet man diese drei Modelle des Zusammenhangs der Disziplinen hintereinander, dann entsteht eine Vorstellung von Sequentialität, also davon, wie der Lernprozeß sich entwickeln kann und wie er demnach gefördert werden kann. (Eine Schülerin drückte das in Jahrgang 13 einmal so aus: allmählich schließe sich der Kreis).
Im Rahmenplan Politische Bildung von Brandenburg ist dieses Sequenz-Modell in der folgenden Weise notiert (vgl. S. 61; die Komplikation durch die KMK-Vorschrift, feste Anteile Geschichte in der Oberstufe zu garantieren, lasse ich hier weg).

Sequentialität des Faches: Politische Bildung als Integrationsfach


IntegrationsartenErläuterung

1. Additive Verknüpfung:Der Ausgangspunkt dieser Integrationsart ist die Existenz selbständiger Teildisziplinen, die in den Lernfeldern und in den diesen zugeordneten Themen repräsentiert sind.
Soziologie + Ökonomie + Politologie

2. Leitwissenschaftliches Arbeiten:Unter Leitwissenschaft wird diejenige Disziplin verstanden, die für das jeweilige Thema dominant ist, aber über "Brücken", "Aspekte" oder Dimensionen mit einer anderen Disziplin oder beiden anderen verbunden ist.
2. Disziplin
Leitwissenschaft →
3. Disziplin

3. Interdisziplinäre Integration:Die Komplexität der Realität erfordert Rahmenthemen, für deren Behandlung der spezielle Beitrag der einzelnen Disziplinen abzurufen und zu verknüpfen ist.

Thema
SoziologieÖkonomiePolitologie

Rahmenplan Politische Bildung - gymnasiale Oberstufe (Brandenburg 1992, S. 32)
[/S. 59:] Den idealtypischen Charakter auch dieses Modells möchte ich noch einmal betonen: die Sequenz kann nicht schlüssig im Sinne präziser Prüfbarkeit die Lernprozesse strukturieren. In der Realität des Unterrichts werden Elemente aus allen drei Integrationsarten immer wieder vorkommen; aber übers Ganze gesehen, kann bzw. wird der Unterricht im Fach "Sozialwissenschaften" je nach Lernpunkt der Gruppe in einem frühen Stadium eher additiv verfahren, später eher leitwissenschaftlich, schließlich zunehmend auch interdisziplinär.
Diese Sequentialität in der Oberstufe beschreibt insgesamt sicher noch einmal (im Sinne einer Spiralstruktur) den Weg vom konkreten Arbeiten zum abstrakten Auswerten - hier auf der Ebene von Wissenschaftspropädeutik. Gemeint ist damit die Fähigkeit zur Meta-Reflexion ohne Verlust des Welt- und Personbezuges.
Die Legitimität des Unterrichts bemißt sich also sowohl an einem Bild von Gesellschaft und von Zielvorstellungen als auch an einer Vorstellung von Möglichkeiten und der Entwicklung der Lernenden. Die Struktur des Faches ist die Beschreibung institutionalisierter Bemühungen um die Förderung junger Menschen in einer Gesellschaft im Prozeß der Demokratisierung.
Der Akzent der gymnasialen Oberstufe, in Theorie einzuführen und den Umgang mit Theorie verfügbarer zu machen, steht nicht im Widerspruch zur politischen Bildung, schränkt sie auch nicht ein. Reflexivität von Mechanismen finden wir in vielen Lebensbereichen; Theoriefähigkeit ist in einer Gesellschaft ohne gesicherte Integrations- und Identitätsmechanismen notwendiger Aspekt von Konflikt- und Konsensfähigkeit, die ohne Distanz im Engagement, ohne Reflexion in der Empörung, ohne Objektivierung des Subjektiven nicht auskommt.
Es ist - wie hoffentlich gezeigt - möglich, den anspruchsvollen Lernvorgang in der Sekundarstufe I und in der gymnasialen Oberstufe zu beschreiben. Daraus ergibt sich, daß diesen sinnvollen Entwicklungsprozessen die nötige Zeit gegeben werden sollte. Daß das o. a. Konzept nicht in 12 Schuljahren und nicht mit Reststunden im Fach auch nur näherungsweise realisiert werden kann, ist sicher ohne Explikation deutlich geworden."