Historisches Denken als ein besonderes Vermögen, die Wirklichkeit vernünftig zu betrachten, ist eine in der alltäglichen Lebenspraxis oft benötigte Fähigkeit. Die Lebensgeschichte eines jeden Menschen ist mit der allgemeinen Geschichte seiner Zeit eng verwoben. Historisches Denken kann helfen, die je eigene Lebensgeschichte in den Zusammenhang der Zeitgeschichte einzuordnen, die erlebte Geschichte kritisch zu erinnern und im Gedächtnis zu halten und die geschehende Geschichte mit den erlernten Fragestellungen und Methoden zu betrachten, um so die Lebensgeschichte nicht als bewusstlose und unbegriffene Leidensgeschichte zu erfahren. Der Zusammenhang von Lebensgeschichte und Zeitgeschichte muss daher [/S. 553:] in Lernprozessen an den Biographien der Lernenden und Lehrenden ausdrücklich besprochen werden. Dabei gibt es zwischen Schulunterricht und Erwachsenenbildung einen wesentlichen Unterschied: In der Schule geht es um eine Geschichte, die von den Schüler(inne)n selbst nicht bewusst erlebt worden ist, die aber ihre Kindheit und Jugend geprägt hat oder vor ihrer Zeit lag. In der Erwachsenenbildung geht es um eine Geschichte, in die die Erwachsenen handelnd und leidend verstrickt waren (und noch sind) und die nunmehr kritisch aufgeklärt und begriffen werden soll.

Als das artgemessenste und im Sinne politischer Bildung ertragreichste Verfahren hat sich dabei das "entdeckende Lernen" erwiesen, das in den letzten Jahren von Schüler(inne)n in Archiven und bei oral history Gesprächen mit Zeitzeugen erprobt worden ist. Auch im Bereich der Erwachsenenbildung und Selbst bildung in Geschichtsvereinen, Geschichtswerkstätten oder in der gewerkschaftlichen und politischen Bildungsarbeit kommt das Prinzip des entdeckenden Lernens erfolgreich zur Geltung. Das dabei auftauchende Problem, dass in der Regel die Zeitzeugnisse, die Befragten und Beteiligten von ihrem jeweiligen Standort her die Vergangenheit als eine Geschichte erzählen, die sich von den Geschichten der anderen Befragten und Beteiligten unterscheidet, ist kein Lernhemmnis, sondern ermöglicht einen wichtigen Schritt auf dem Weg des Erlernens des historischen Denkens: Die Lernenden müssen erfahren, dass die unterschiedlichen Geschichten, die von einer gemeinsam erlebten oder ermittelten Vergangenheit erzählen, nicht einfach voreinander "falsch" sind. Sie müssen vielmehr "für die Problematik differenter Geschichten sensibilisiert werden und Methoden erlernen, wie unterschiedliche Versionen von Geschichten auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft" (Becher 1979, 304), nach Maßgabe des Möglichen miteinander vermittelt und in den gesellschaftlichen Zusammenhang der allgemeinen Zeitgeschichte eingeordnet werden können.

Historisches Denken ist auch da gefragt, wo zeithistorische Sachverhalte in unterschiedlichen Formen und Absichten in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Wo immer Zeitgeschichte ob in politischer oder in scheinbar bloß unterhaltsamer Absicht "unters Volk gebracht" wird, droht die Übermächtigung des Laienpublikums durch vormündige Geschichtsdarstellungen. In Lernprozessen müssen daher an Fallbeispielen zeitgeschichtliche Sendungen der Rundfunk und Fernsehanstalten, zeitgeschichtliche Artikel in der Presse, der Gebrauch und Missbrauch von Zeit-"Geschichte als Argument" (Calließ) in der politischen Debatte, die Verwendung zeitgeschichtlicher Klischees in der Werbung, die Behandlung und Misshandlung von Zeitgeschichte bei Gedenkveranstaltungen oder zeitgeschichtliche Versatzstücke in Stammtischparolen methodisch kritisch, vor allem ideologiekritisch betrachtet werden, um in Zukunft der öffentlichen Verwendung von Geschichte nicht unberaten und unbedarft ausgesetzt zu sein.

Wird historisches Denken an zeitgeschichtlichen Sachverhalten eingeübt, kann vielleicht verhindert werden, dass die Lernenden in Lernprozessen und in der Lebenspraxis nur mehr "betroffen" reagieren. Die vielberedete "Betroffenheit" ist kein Ziel des zeitgeschichtlichen Unterrichts, allerdings ein wichtiger Gegenstand des Nachdenkens. Es geht nicht um die Abstützung gefühliger Identitäten, sondern darum, mit den Mitteln vernünftigen historischen Denkens von Betroffenheit zu Aufklärung, von Reflexen zu Reflexion, von naiver Identifikation zu überlegter Identität, von unüber[/S. 554:]legter Parteinahme zu kritischem Engagement zu kommen und jenseits des Unterrichts von spontaner Reaktion zu einem politischen Handeln, das bei dem Versuch, soziale Ungerechtigkeiten aufzuheben, Gefährdungen der Menschlichkeit und der Menschheit zu bekämpfen und das Mögliche wirklich werden zu lassen, die Voraussetzungen und Bedingungen vernünftig einschätzt.