Unter einem "Problem" ist ein Ereignis zu verstehen, das in Widerspruch zur Erwartung tritt. Erst dadurch, daß ein Ereignis einer sozialen Norm widerspricht, eine Erwartung enttäuscht oder eine erwartete Regelmäßigkeit durchbricht, wird aus diesem Ereignis ein Problem. Die Existenz eines Systems von normativen Erwartungen gibt den Hintergrund ab, auf dem ein Ereignis zu einem Problem werden kann - vor dem ein Ereignis fragwürdig wird. Das Auftauchen von Problemen ist deshalb an Voraussetzungen gebunden: [/S. 367:] Erwartungen, Normen, Soll-Werte, Regelmäßigkeiten, Vorstellungen vom "guten Leben" etc. Obwohl einerseits die Probleme von Erwartungen abhängen und andererseits ein für alle gemeinsamer Erwartungsrahmen nicht existiert (er könnte nur gewaltsam hergestellt werden), ist durch die auf das Problem gerichteten Lösungsstrategien eine Konsensfähigkeit in der Problembenennung gegeben. Die Voraussetzung für einen möglichen Konsens im Prozeß der Problembenennung ist die Tatsache, daß Probleme Problemlösungen erfordern. Geht man von zwei unterschiedlichen Erwartungsrahmen aus, so kann ein bestimmtes Ereignis in einem dieser Rahmen als "normal" und im anderen Rahmen als "problematisch" gelten. Innerhalb des Erwartungsrahmens, in dem das Ereignis ein Problem darstellt, werden Lösungsvorschläge gemacht, die den Widerspruch zwischen Erwartung und eingetretenem Ereignis aufheben sollen. Diese Lösungsstrategie wird für den anderen Bezugsrahmen zum Problem, da sie die "Normalität" des Ereignisses in Frage stellt. Der Lösungsvorschlag stellt für den zweiten Erwartungsrahmen ein Ereignis dar, das seinen Erwartungen zuwiderläuft. Für den einen Erwartungsrahmen stellt das Ereignis ein Problem dar, für den anderen wird das Ereignis des Lösungsvorschlages zum Problem. Beide Bezugsrahmen könnten sich darüber verständigen, daß die Konstellation von Ereignis und Lösungsvorschlag für beide ein Problem darstellt: Das Verfahren des freien Zuganges für jeden zu öffentlichen Ämtern wurde in dem Moment für Vertreter der staatlichen Administration zum Problem, als aktuelle Einstellung und bisherige Lebensgeschichte der Bewerber nicht mehr ihren Erwartungen entsprachen. Ihre Lösungsstrategie bestand aus "Einstellungs"gesprächen und faktischen Berufsverboten. Für weite Teile der demokratischen und liberalen Öffentlichkeit ist dieses Vorgehen eine nicht mit den demokratischen Grundsätzen zu vereinbarende Praxis. Dieser Ereigniskomplex, für den sich (auch international) der Begriff "Berufsverbot" eingebürgert hat, stellt sowohl für den Befürworter wie für den Gegner dieser Praxis ein Problem dar. [/S. 368:] Mit der Benennung von Problemen als Ausgangspunkt didaktischen Handelns ist keineswegs eine bestimmte Problemlösung verbunden. Das Problem erlaubt uns aber, Fragen zu stellen - disziplinäre wie auch praktische, nach Handlungsanweisung suchende Fragen. Die unterschiedlichen Antworten geben die Wissenschaften sowie die an dem Problem beteiligt Handelnden. Multidisziplinarität und Multiperspektivität haben hier - nach der Problembenennung - ihre methodische Berechtigung. Das Problem als gesellschaftlich-praktische Angelegenheit motiviert uns, Fragen zu stellen. Wenn ein Ereigniskomplex intersubjektiv als Problem benannt ist, nimmt das Problem einen anderen Status an. Es wird zu einem Denkobjekt. Dieser Statuswechsel ist für die Dialektik von Theorie und Praxis, für den Zusammenhang von praktischem Handeln und fachspezifischen Denkweisen von Bedeutung. Insofern muß es genauer heißen: Gesellschaftlich-praktische Probleme werden durch die intersubjektiv gestellten Fragen der Forschenden zu einem theoretischen Problem. Das gesellschaftlich-praktische Problem kann unmittelbar praktisch gelöst oder zu lösen versucht werden. Es kann aber auch im Praxisvollzug innegehalten und das praktische Problem in den Reflexionshorizont der Handelnden gehoben werden. Das Handeln wird aufgeschoben, und es wird nachgedacht. Das praktische Problem ist damit zu einem Denkobjekt geworden, zu einem theoretischen Problem, das theoretisch-intellektuell bewältigt werden muß, ehe wieder gehandelt wird. Ohne Reflexion wird Praxis hilfloses Probieren, und ohne Praxis bleibt Reflexion abstrakte Neugier. Gesellschaftlich-praktische Probleme fallen nicht in die Kompetenz einer einzigen Disziplin. "[S]ie dürfen nicht zur Domäne einer Wissenschaft ... werden" (35). Indem das praktische in ein theoretisches Problem übergeführt wird, treten die Wissenschaften hinzu, da Probleme durch die Konstitutionsleistungen der fachspezifischen Fragestellungen zu Denkobjekten werden. Praktische Probleme sind ungefächert; theoretische Probleme sind disziplinär gebunden, d. h. disziplinär konstituiert und mit disziplinären Methoden bearbeitbar. Nichtdisziplinäre Realität kann nur fachdifferenzierend analysiert werden. [/S. 369:] Wenn praktische Probleme über den Weg des Denkobjektes disziplinär bearbeitet werden, könnte durch die Selbstorientierung der einzelnen Didaktiken der politischen Bildung auf gegenwärtige Probleme ein fruchtbarer Ansatz zur Integration gemacht und die Perspektive für ein integriertes Curriculum eröffnet werden. Durch die Verständigung der Vertreter der Fachdidaktiken über die gegenwärtigen praktisch-politischen Probleme, ihre Auflistung und ihre Anordnung nach didaktischer Dringlichkeit und zeitlich-methodischer Abfolge wäre der erste Schritt für eine Integration gegeben. Die einzelnen Disziplinen, vertreten durch Hochschuldidaktiker und Fachlehrer - denn diese Art der Kooperation ist auf jeder Ebene möglich -‚ müßten angeben können, ob und was sie zu diesen Problemen zu fragen und zu sagen hätten und welchen Stellenwert das Gesagte in ihrer Wissenschaft hat. Daß dieses Vorgehen Erfolg verspricht, belegen die interessanten Beiträge, die die Geographiedidaktik in letzter Zeit zu den gegenwärtigen praktisch-gesellschaftlichen Problemen erbringt. Umweltbelastung durch Kernkraftwerke, Strukturveränderung von Dorfkernen durch Gastarbeiter, Zechensanierungen im Ruhrgebiet, Veränderung der Kulturlandschaft durch die industrielle Revolution, Planungsfragen, Einfluß von Raumbedingungen auf die Sozialisation sind einige der Themen (36). Dagegen wirken die curricularen Vorschläge der Didaktik der Geschichte noch etwas betulich. Es werden häufig nur die modern arrangierten traditionellen Themen angeboten. Würde das oft zitierte Postulat, die Geschichte nach Maßgabe des Möglichen (!) gegen den Strich zu bürsten, realisiert, kämen andere Schwerpunkte in den Blick: Einführung neuer Technologien und Gutachterprognosen am Beispiel Eisenbahnbau, Polen als "Gastarbeiter" im Ruhrgebiet des 19. Jahrhunderts, Bau von Zechenkolonien und Anwerbepraxis, die Rationalisierungsbewegung in der Weimarer Zeit, ökonomische und politische Macht - das Beispiel Fugger, Jugendarbeitslosigkeit in den 30er Jahren, Terrorismus und politischer Mord, Formen des sozialen Protestes (37), "Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung bei den Römern" (38). Die Didaktik der Geschichte würde sich auf diese Weise [/S. 370:] explizit an der Gegenwartsbezogenheit orientieren anstatt an traditionellen - inzwischen aber auch nicht mehr unangefochtenen - fachwissenschaftlichen Forschungsprioritäten.