Hans-Jürgen Pandel legt in seinem Aufsatz dar, dass Vorstellungen von fächerverbindendem Lernen nicht an den gegenwärtig existierenden Fächern ansetzen dürften. Das jeweilige Fächergefüge sei nämlich selbst Ergebnis kontingenter Kombinationen von Erkenntnisinteressen und Sachgebieten. Vielmehr müsse von einem überschaubaren Set von "hinter" den realen Disziplinen und Teildisziplinen liegenden Denk- und Erkenntnisformen ausgegangen werden, die den realen Fächern zumindest im sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich durchaus gemeinsam seien. Fächer überhaupt aufzulösen (30) sei kontraproduktiv, weil dadurch die je spezifischen Erkenntnisweisen der ideellen ‘Fächer’ (31) verwischt würden, wohl aber sei stärkere Gemeinsamkeit in Themen- wie in Methodenbezügen möglich. Hinzu kommt, dass Pandel nicht Ergebnisse der einzelnen Disziplinen als das zu Lehrende und zu Lernende ansieht, sondern die Methoden, die fachspezifischen Denkweisen selbst als die lernbaren Inhalte definiert. Mit diesen Überlegungen führt Pandel die Debatte ein gutes Stück weiter: Das Fachspezifische, das es zu bewahren, dann aber miteinander zu verschränken gelte, sind demnach die fachspezifischen Erkenntnisweisen, hier historisches und politisches Denken (32).

Nur kurz sei darauf hingewiesen, dass für Reinhold Hedtke eine Integration der Fächer in ihrer Eigenständigkeit gerade angesichts der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung nur über ein übergreifendes Konzept eines "gesellschaftlichen Bewusstseins" möglich ist, innerhalb dessen dann Spezialisierung und Ausdifferenzierung entlang unterschiedlicher Erkenntnisweisen möglich werde. Inwieweit dies mehr ist als eine Verlagerung des Problems auf eine andere Ebene, bleibt zu diskutieren (33). Wichtig ist, dass für Hedtke die Grundlage hierfür nicht mehr eine Ausrichtung an verschiedenen Fachwissenschaften und ihre verschiedenen Erkenntnisweisen sein könne, weil diese nicht wirklich trennscharf differenzieren. Voraussetzung für eine solche Zusammenfassung und Differenzierung ist vielmehr die gemeinsame Emanzipation der Fachdidaktiken von ihren Bezugswissenschaften im Sinne der Entwicklung eines eigenständigen Forschungsfeldes, nämlich der Erforschung und Reflexion auch der Bedeutung und Rolle der Fachwissenschaften in der Gesellschaft selbst (34). Dies entspricht im Übrigen weitgehend der Emanzipation, die Karl-Ernst Jeismann für die Entwicklung der Geschichtsdidaktik zur Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft reklamiert hat (35).

Auch Dirk Lange begründet in seiner umfangreichen Dissertation ein korrelatives Modell des historisch-politischen Lernens. Er entwickelt dazu in einiger Breite aus aktuelleren fachwissenschaftlichen Tendenzen beider Fächer die Vorstellung einer "historisch-politischen Wissenschaft" als der einer "historisch-politischen Didaktik" zugehörigen Fachwissenschaft. Das gemeinsame Moment beider besteht ihm zufolge in einer elementaren und radikalen Subjekt- und Alltagsorientierung, d.h. in der Konzentration des forschenden Blicks der Fachwissenschaft(en) auf subjektive Erfahrungen, Verarbeitungsweisen und Handlungsweisen von einfachen Menschen, die nicht den herkömmlichen Vorstellungen von "großer" Geschichte bzw. "hoher" Politik zuzuordnen sind. Sowohl in der Alltagsgeschichte wie in der Politikwissenschaft arbeitet er Ansätze heraus, die die konstruktivistisch verstandene Konstitution von Wirklichkeit durch denkende und handelnde Menschen in den Blick nehmen. In beiden Wissenschaften bedeutet dies u.a. die Abkehr von einem Modell strikter Trennung zwischen "politisch" und "nicht-politisch" (sei es "gesellschaftlich" oder "privat"), die Entgrenzung des Politikbegriffs, welche es ermöglicht, die Konstitution des Politischen in den Vorstellungen der Menschen selbst sowie ihre kommunikative Herstellung in der Gemeinschaft in den Blick zu nehmen.

Langes auf einem so verstandenen subjektivistischen Geschichts- und Politikbegriff aufbauendes Konzept der Differenz zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft bzw. den dazugehörigen Didaktiken besteht in der Unterscheidung zweier unterscheidbarer Bewusstseinsbereiche (36). Er versteht unter historischem und politischem Bewusstsein im Sinne der konstruktivistischen Theorien "zwei unterschiedliche [...] Erklärungszusammenhänge, durch die der Mensch seine Wirklichkeitsvorstellungen sinnhaft aufbaut" (37), folgt also hier der schon bei Rüsen 1989 angelegten Denkrichtung. Auch er geht - ähnlich wie 2000 Jaeger - über Rüsens damalige Position hinaus und sieht in historischem und politischem Bewusstsein jeweils "modellhafte Vorstellungen von Teilbereichen einer allgemeinen kognitiven Struktur" (38), die durch jeweils eigene Sinnbildungsformen gekennzeichnet seien.

Dadurch werde es möglich, historisches und politisches Bewusstsein getrennt zu betrachten, aber beiden Bewusstseinsformen Gegenwartsbezug, Konsequenzen für das Handeln (also Orientierungsfunktion und Zukunftsbezug) sowie eine Spannung zwischen zur Wissenschaft und je subjektiver Erfahrung zuzugestehen (39).

Tab. 3: Historisches und politisches Bewusstsein; nach LANGE 2002/2004
  1. Historisches Bewusstsein
    1. Denkformen

      1. Analyse
      2. Sachurteil
      3. Wertung
    2. Sinnbildungstypen (nach RÜSEN)

      1. traditional
      2. exemplarisch
      3. genetisch
    3. Zeitvorstellungen

      1. zirkulär
      2. punktuell
      3. linear
  2. Politisches Bewusstsein
    1. Demokratisches Bewusstsein

      1. plebiszitär
      2. repräsentativ
      3. elektoral
    2. Autoritäres Bewusstsein

LANGE strukturiert nun das Geschichtsbewusstsein in dreifacher Weise, nämlich hinsichtlich (Tab. 3)

  1. der Operationen des historischen Denkens durch die von ihm als "Kognitionstypologie" bezeichnete Jeismannsche Dreiheit von "Analyse, Sachurteil und Wertung",
  2. der narrativistischen Unterscheidung der Sinnbildungstypen von Jörn Rüsen sowie
  3. einer Typologie von Zeitvorstellungen (zirkulär, linear, punktuell), die allerdings mit den Sinnbildungstypen eng korreliert (40).

Nach diesem Vorbild konzipiert er dann - in Anlehnung an Grammes` Definition als das "Insgesamt der Vorstellungen und Einstellungen zu politischen Prozessen"- auch als den Forschungsgegenstand der Politikdidaktik: das Politikbewusstsein. Letzteres konstruiert demnach die Vorstellungen der Einzelnen über die gesellschaftlichen Mechanismen und Prozesse, mit denen individuelle Interessen in allgemeine Verbindlichkeit transformiert werden, in welchen politische Willensbildung funktioniert. Ähnlich wie Geschichtsbewusstsein nicht Wissen um vergangene Wirklichkeit enthält, sondern mit Hilfe verschiedener Deutungsmuster, Kategorien etc. erstellte Vorstellungen einer vergangenen Wirklichkeit, ist auch dies ein kognitives Schema (41).

Diese Konzeption des politischen Bewusstseins entspricht wiederum der oben referierten Position, dass auch politisches Denken Verarbeitung von Kontingenz ist, nämlich einer Differenz zwischen Sollen bzw. Möglichkeit einer- und Sein andererseits. Dabei reduziert LANGE (Tab 1) das politische Bewusstsein jedoch auf zwei Grundtypen von Herrschaft und ihre Legitimation, nämlich die demokratische und autoritäre Herrschaft, die sich in vier Dimensionen unterscheiden, nämlich hinsichtlich

  1. der dem einzelnen Menschen zugeschriebenen politischen "Basiskompetenz" (kompetente Selbständigkeit, Abhängigkeit),
  2. der Stellung des einzelnen in der Gesellschaft (Bürger, Untertanen),
  3. den vorgestellten Verhältnissen zwischen Individuen und Gruppe (Exklusion, Inklusion bzw. Partizipation) sowie
  4. der zu Grunde liegenden Herrschaftsrelation (Identität bzw. horizontal, Nicht-Identität bzw. vertikal) (42)

Zudem wird der "demokratische Sinnbildungsmodus" einer weiteren Unterteilung unterzogen (plebiszitär, repräsentativ, elektoral) (43).

Tab. 4: Historisch-politische Lernformen (nach LANGE 2002)

Sinnbildungsform

"politikgeschichtliches" Lernen

"geschichtspolitisches" Lernen

zirkulär

es wird gelernt, Herrschaft durch Verweis auf ein "schon-immer-so" zu legitimieren

 

punktuell

es wird gelernt, Herrschaft durch Analogiebildung zu legitimieren

 

linear

es wird gelernt, Herrschaft so zu legitimieren, dass sie entwicklungslogisch erscheint

 

autokratischer Typ

 

es wird gelernt, dass verbindliche historische Sinnbildungen von einer Minderheit entwickelt werden sollen

demokratischer Typ

 

es wird gelernt, dass jeder an verbindlichen Sinnbildungen mitwirken kann

Das "historisch-politische Bewusstsein" schließlich wird auf dieser Basis der strukturell gleichen Unterscheidung von historischem und politischem Bewusstsein konzipiert als ein Überschneidungsbereich der beiden Bewusstseinsformen, der eine eigene Substruktur mit zwei Ausprägungen auch von Lernen bildet (44):

  • "Politikgeschichte" als die historische Argumentation auf verschiedenen Politikfeldern, d.h. politische Argumentation mit historischen Zuständen und Prozessen; sowie
  • "Geschichtspolitik" als politische Auseinandersetzung um die Deutung von Vergangenheit allgemein; Geschichte werde selbst zum Politikfeld. Geschichtspolitik umfasse den Bereich, der das historische Denken der Gemeinschaft selbst zum Gegenstand habe. Dabei gehe es nicht um die Interpretationen als solche, sondern darum, wie individuelle Interpretationen in allgemeingültige transformiert werden. (Museen, Denkmäler, Medien etc.).

Nach diesem so strukturierten "historisch-politischen Bewusstsein" werden sodann die didaktischen Aufgabenfelder der empirischen Analyse, der Reflexion, der normativen Bestimmung erwünschter Ausprägungen sowie der Pragmatik zugeordnet (45).

In der konkreten Umsetzung (vgl. Tab. 4) erarbeitet Lange auf der Basis dieser Sinnbildungsformen verschiedene Typen historisch-politischen Lernens, die jeweils verschiedenen Kompetenzen zugeordnet sind. Diese können hier nicht alle aufgezählt werden, es ist z.B. "lineares politikgeschichtliches Lernen" darunter, mit welchem "gelernt wird, Herrschaft dadurch zu legitimieren, dass sie als entwicklungslogisch erscheint" (46), bzw. das "geschichtspolitische Lernen", das die Kompetenz vermittle, "politische Herrschaftsformen zu legitimieren, durch die kollektiv bindende Geschichtsdeutungen erzeugt werden sollen" (47). So sei ein Lernen als autokratisches geschichtspolitisches Lernen zu klassifizieren, wenn gelernt werde, dass man auf Geschichtsdeutungen anderer, Mächtigerer angewiesen sei, demokratisches geschichtspolitisches Lernen hingegen zeige, dass der Einzelne an der Herstellung von Verbindlichkeit von Sinnbildungen gleichberechtigt beteiligt sei könne.

Nicht alles hieran erscheint konsistent. Das gilt zum einen für die Benennung der Zeitvorstellungen und ihre Verbindung zu den historischen Sinnbildungstypen. Auch zeigt Tab. 4 ganz deutlich, dass hier historisches und politisches Bewusstsein nicht wirklich miteinander verschränkt werden, sondern auf das jeweils andere Feld angewandt. Im Grunde wird hier gefordert, Politikgeschichte mit den Mitteln der modernen Historik zu betrachten und Geschichtspolitik bzw. öffentliche Kommunikation über Geschichte als Politikfeld ernst zu nehmen.

Es fehlt noch eine Art der Verschränkung, nämlich jene, die den Blick darauf lenken würde, dass in einzelnen historischen und politischen Aussagen, Stellungnahmen, Kategoriendefinitionen etc. immer auch Bezugnahmen und Sinnbildungen hinsichtlich der anderen Kontingenzverarbeitung enthalten sind. Hier liegt eine Zukunftsaufgabe für die historisch-politische Didaktik. Es geht nicht nur (aber auch) darum, geschichtliche Argumentationen als Legitimationsformen endlich geschichtsdidaktisch zu analysieren bzw. politisch zu hinterfragen, wie historische Vorstellungen zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft verhandelt werden. Es muss auch darum gehen, die jeweils mitgedachten politischen Konzepte zu ergründen und Lernende zu befähigen, hier einerseits konsistent selbst Sinn zu bilden und andererseits ihnen in der öffentlichen Kommunikation angebotene Sinnbildungen hinsichtlich der Sinnbildungen in beiden "Dimensionen" zu analysieren. Ich habe eine solche Analyse ansatzweise in meinem Buch über die öffentliche Erinnerung an Gustav Stresemann versucht (48).