Geschichte als Historie ist gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Erforschung und Reflexion des Geschehenen erfolgen unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. So ist alle Geschichte Zeit Geschichte. Und so ist Geschichte als gegenwarts und zukunftsbezogene Auseinandersetzung mit der erkennbaren menschlichen und unmenschlichen Vergangenheit unabdingbarer Bestandteil aller politischen Bildung. Im engeren, gebräuchlichen und hier gemeinten Sinn ist Zeitgeschichte eine Bezeichnung für die jüngste Vergangenheit und zugleich für die mit ihr befasste Disziplin der Geschichtswissenschaft. Die Zeitgeschichte ist nicht allgemein datierbar. Als "die Geschichte der Zeit dessen, auf den das Wort bezogen ist" (Jäckel 1975, 71), ist sie nur in Hinsicht auf den oder die Betrachtenden zeitlich je und je ungefähr begrenzbar. Sie ist immer das zur Lebensgeschichte des erkennenden Subjekts zeitgleich verlaufende Geschehene und doch auch mehr: Sie umgreift zudem jene nicht selber erlebte Geschichte, die im Gespräch mit Zeitgenossen (oral history) vergegenwärtigt werden kann.

Die Zeitgeschichte macht den der Geschichte eigenen Bezug auf die Lebenspraxis in besonderer, oft unvermittelter Weise erkennbar. Es ist ein wesentliches Merkmal der jüngsten Vergangenheit, dass ihre materiellen und ideologischen Grundlagen, ihre herrschaftlichen Verhältnisse und mentalen Strukturen jenem Handlungsrahmen unmittelbar ähnlich sind, der gegenwärtigem und voraussehbar zukünftigem Handeln vorgegeben ist. Die Besonderheit der Zeitgeschichte kann auch für das moralische Interesse der wissenschaftlichen Zeitgeschichte stehen das Interesse, die in der jüngsten Vergangenheit offenbar gewordenen Gefährdungen der Menschlichkeit und Möglichkeiten der Unmenschlichkeit (totaler Staat, totaler Krieg, Holocaust, technische Möglichkeiten der Beeinflussung, Beherrschung, Unterdrückung und Vernichtung), ja endlich der Vernichtung der Menschheit (Hiroshima, atomares Wettrüsten, ökologische Katastrophen) in ihren Voraussetzungen und Bedingungen zu erkennen und bekämpfen zu helfen. [/S. 550:]

Die Geschichtswissenschaft kann der Eigentümlichkeit, dass die jüngste Vergangenheit der Gegenwart in ihren Strukturen ähnlicher ist als frühere Vergangenheiten, besser gerecht werden, seit sie sich von einer vordergründigen politischen Ereignisgeschichte abgewandt und das Konzept einer "Historischen Sozialwissenschaft" oder "Gesellschaftsgeschichte" entworfen hat. Ein wesentlicher Teil der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zum "moralischen Beruf" der Historie und zu Geschichte als einer kritischen Gesellschaftswissenschaft, die in ihrem wissenschaftlichen Bemühen um die Vergangenheit von "konkreter Utopie", von der "Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der menschlichen Existenz"(Wehler im Anschluss an Horkheimer) angeleitet wird. Eine kritische historische Gesellschaftswissenschaft, die sich Marx näher als Ranke weiß, eröffnet den Blick auf grundlegende Herrschaftszusammenhänge und ideologische Strukturen der Zeitgeschichte, die der traditionellen Historie verschlossen waren, und schärft den Blick für die historisch je und je unnötige Kluft zwischen Möglichem und Wirklichem.

Didaktisch nicht weniger bedeutsam ist die gerade bei der Erforschung der jüngsten Vergangenheit beobachtbare Zuwendung zur "Alltagsgeschichte" (Bergmann/Thurn 1985). Alltagsgeschichte ist an einer Historie interessiert, in der die historisch gleichsam stummen Gruppen etwa Frauen, Arbeiter, Angehörige von Unterschichten ihre historische Sprache finden und zu Wort kommen; sie zielt zugleich darauf, dass diese Gruppen sich die ihnen nicht bewusste, ihnen enteignete oder verlustig gegangene eigene Geschichte selber aneignen können, indem sie befähigt werden, ihren historischen Verstand eigenständigen gebrauchen und vorgesetzten Geschichtsdarstellungen kritisch zu begegnen. Die bevorzugt angewandte Methode ist für den Bereich der Zeitgeschichte das Verfahren der oral history, der mündlichen Befragung von Zeitgenossen in zwanglosen Gesprächssituationen, die für beide beteiligten Seiten als Lernsituationen gedacht sind.

Wenn es der Alltagsgeschichte gelingt, ihre Kenntnisse und Erkenntnisse darüber, wie Menschen unserer Zeit Geschichte erfahren, erlitten und wahrgenommen haben, mit der Gesellschaftsgeschichte und ihren Kenntnissen und Erkenntnissen darüber, welche Faktoren struktureller Art sich gleichsam hinter dem Rücken und gegen die Absichten der Menschen durchgesetzt haben, zu vermitteln, werden wichtige Lernprozesse möglich: Die Spannung zwischen dem, was Historiker über die bedingenden Strukturen und das Gesetz der unbeabsichtigten Wirkungen wissen, und dem, wie nach Einsicht der Alltagshistorie die Menschen die Strukturen und die aus ihnen hervorgehenden politischen Vorgänge erlebt, gesehen, wahrgenommen und auf sie handelnd einzuwirken versucht haben, fordert Fragen und Nachdenken heraus und fördert Einsichten in politisches Handeln.