Versucht man, den generellen, fachunspezifischen Ansatz didaktischer Bemühungen nach den wichtigsten Sektoren zu unterscheiden, findet man, das komplexe Faktorenbündel sehr abstrakt zusammenfassend, drei Hauptbereiche:
- Die Lernsituation im weitesten Sinne, angefangen von der Besonderheit der Individuen über die sozialen Strukturen einer Schulklasse und einer Schulorganisation bis hin zu den gesamtgesellschaftlichen Verflechtungen, in denen der einzelne lebt und die mehr oder weniger seine Lernsituation mitbestimmen. Dies ist das empirisch zu erforschende Feld der Voraussetzungen, in dem jeder Unterricht steht, das ihm Möglichkeiten und Grenzen setzt, zu dessen Faktoren aber auch der Unterricht selbst gehört.
- Die Zielrichtung und Zwecksetzung des Unterrichts, also die Vorstellung davon, was durch den Lernprozeß als positiv gesehene Veränderung bewirkt werden soll: Steigerung des Wissens, Entwicklung des Könnens, Wandel oder Verbesserung des Verhaltens der einzelnen, dadurch aber – als Hoffnung – auch der sozialen Gruppe, in denen sie sich befinden. Dies ist eine letztlich normativ zu setzende Richtung des erzieherischen Handelns. Vielfältig gebrochen, in unterschiedlichem Bewusstseins grad beim Lehrenden ist diese Setzung nicht wegzudenken; sie bestimmt die Gesamtplanung und die einzelnen Schritte des Unterrichts.
- Die Mannigfaltigkeit der Mittel und Verfahren unmittelbaren unterrichtlichen Handelns, die Fülle der Aktionen und Reaktionen während der Durchführung und direkten Organisationen der Lernvorgänge. Dies ist die pragmatische Ebene des Unterrichts, das unmittelbare, mit seinen unverschiebbaren Forderungen sich aufdrängende, den Lehrer in Handlungszwang setzende tägliche Aktionsfeld. Hier kann nicht gewartet werden, bis über die empirischen Voraussetzungen und die normativen Entscheidungen "endgültige" Klarheit herrscht; in einem immer vorläufigen Bewußtseinsgrad muß der Lehrer darum improvisieren, intuitiv aus dem Augenblick entscheiden. Hier liegt die notwendig bleibende Lücke und Grenze rationaler didaktischer Vorbereitung. Sie fordert von jedem Lehrer persönlich pädagogisches Einfühlungsvermögen, menschlichen Takt, methodische Phantasie, kurz: nicht vorher einplanbare Spontaneität. So bleibt dem Lehrer ein breiter und tiefer Entfaltungsraum, den keine Didaktik ausloten und durch Planung ersetzen kann, in dem gleichwohl die wichtigste und nachhaltigste Wirkung des Unterrichts gegründet ist. Das Vermögen des Lehrers, in spontaner Reaktion und intuitivem Einfall zweckentsprechend unterrichtlich und erzieherisch zu handeln, wächst erfahrungsgemäß in dem Maße, wie die Didaktik ihm den breiten Raum des empirisch, normativ und pragmatisch rational zu Erschließenden verdeutlicht und damit dem persönlichen erzieherischen und unterrichtlichen Handeln erst den klaren und bewußten Rahmen gibt, in dem es sich entfalten kann.
Die allgemeine Didaktik und Unterrichtsforschung hat die Erschließung dieses didaktischen Feldes von verschiedenen Seiten her versucht. Dabei hat sich gezeigt, daß die Wahl des Ansatzes das spezifische Profil des didaktischen Vorstellungsmodells bestimmte, so daß man – ohne Rücksicht auf das Fach, auf den spezifischen Gegenstand des Unterrichts – bestimmte Modelle und Typen von Didaktik beschreiben konnte.(4) [/S. 15:]
Sieht man die allgemeinen didaktischen Modelle bis hin zu den Konstruktionen der Curriculumtheorie genauer an, fällt auf, daß sie, obgleich je nach Ansatz dieser oder jener Art von Fachwissenschaft näher verbunden als der anderen, doch eigentümlich leer bleiben. Die Verallgemeinerung des Zugriffs auf Unterricht schlechthin läßt, ungeachtet der Versuche, hier und da das Modell zu exemplifizieren, den Gegenstand des Unterrichts selbst gleichsam durch die Löcher eines Siebes fallen. Da nun aber der Lerngegenstand, die Sache, um die es im Unterricht gehen soll, nicht auswechselbare und zufällige Zutat, sondern ein das gesamte Bedingungsfeld des Unterrichts mitbestimmendes und spezifisch einrichtendes Element ist, erweist es sich als unmöglich, der allgemeinen Didaktik nur ein fachspezifisches Additum anzufügen, um den didaktischen Zugriff zu komplettieren. Vielmehr strukturiert der Gegenstand des Unterrichts die drei oben skizzierten Sektoren didaktischer Bemühungen in je besonderer Weise. Die individuellen und sozialen Voraussetzungen des Unterrichts, seine Ziel- und Zwecksetzung ebenso wie seine pragmatische Durchführung lassen sich nicht untersuchen, planend oder handelnd angehen, ohne daß von vornherein der Inhalt des Unterrichts mitbedacht wird. Das gilt gerade auch im Hinblick auf die außerschulischen Bedingungen individueller und sozialer Art, die zu bestimmten Lerngegenständen nicht nur mehr oder weniger Affinitäten oder Aversionen, sondern auch ganz deutlich unterscheidbare von Fach zu Fach unterschiedlich zu gewichtende Voraussetzungen darstellen. Gerade für den historisch-politischen Unterricht hat die Art, in der sich in der Gesellschaft auf unterschiedliche Weise Geschichtsvorstellungen, politische Überzeugungen und Einschätzungen politischer Handlungsmöglichkeiten zu bilden pflegen, eine wesentliche Bedeutung.
So wird der Ruf nach der "Fachdidaktik" als Ergänzung der Curriculumentwicklung um so lauter, je mehr es darum geht, konkreten Unterricht zu planen, Lehrpläne inhaltlich zu begründen und praktisch umzusetzen. Die Entwicklung der Curriculumplanung hat die Forderung nach der Entwicklung der Fachdidaktik aus sich selbst hervorgetrieben.(5)
An diesem Punkte setzt der Versuch dieses Unterrichtswerks an. Der Gegenstand des Lernens wird hier zum Ausgangspunkt der didaktischen Reflexion und Planung genommen. Indem er dem Gegenstand des Unterrichts wieder die Aufmerksamkeit zuwendet, die ihm – nicht zum Nutzen der didaktischen Forschung und Planung – in den letzten Jahren häufig entzogen wurde, wendet sich dieser Versuch jedoch nicht ab von den wichtigen und nicht mehr zu übergehenden Ergebnissen und Problemstellungen der Curriculumforschung. Was auf diesem Felde an Gespreiztheiten und Anmaßungen, an Irrtümern und bisweilen grotesken Einseitigkeiten ins Kraut geschossen ist, darf nicht zum Anlaß werden, die nicht zu leugnenden Einsichten und Bewusstseinsschärfungen mit über Bord zu werfen, welche die curriculare Forschung der letzten 10 Jahre gebracht hat. Deshalb sei gleich zu Anfang betont, daß der Ausgang vom Gegenstand des Unterrichts hier nicht einen Rückfall in didaktische Konzeptionen meint, die der frohen Hoffnung waren, daß die Beherrschung des Faches – was immer damit gemeint sei – die beste, ja die einzig [/S. 16:] richtige Didaktik darstelle. Das rem tene, verba sequuntur, in dem ja ein Wahrheitskern steckt, führt sich, zur herrschenden didaktischen Maxime erklärt, selbst ad absurdum.
Besteht man auf der Eigenständigkeit eines fachdidaktischen Ansatzes, will man dem Gegenstand des Lernens, und damit dem Lernen selbst eine Bedeutung und Dignität zurückgeben, zeigt sich allerdings sogleich, daß der Begriff des "Faches", mit dem der Gegenstand des Lernens in einen Lernplan transponiert wird, in einen sehr viel weiteren Horizont gestellt werden muß, als es der des Lehrplans, als es der der Schule überhaupt ist (s. dazu unten S. 55 ff.). Es zeigt sich, daß der Begriff "Fach" ein schulisch verkürzter Ausdruck für eine bestimmte Dimension persönlichen wie allgemeinen Daseins ist, daß eine Fachdidaktik also ihre Grundlage in dieser, die Schule weit übergreifenden gegenwärtigen Wirklichkeit zu suchen hat, wenn sie ihrem eigenen Anspruch gerecht werden will.