[/S. 17:] Die Notwendigkeit einer beruflichen Orientierung in allgemein bildenden Schulen ist in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1950er Jahre deutlicher bewusst geworden.

Damals - in der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg - war die Jugend beim Übergang von der Schule in die Berufswelt mit großen Problemen konfrontiert. Diese hatten ihre Ursache zunächst vor allem in einem Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Die "Berufsnot der Jugend" (DGB 1952) nahm dann aber mit der Verknappung des Faktors Arbeit und den fehlenden Qualifikationen für die Einführung moderner, automatisierter Produktionsverfahren in der westdeutschen Wirtschaft zunehmend qualitative Züge an: Die Jugend geriet in eine allgemeine Qualifikationsnot. Vor diesem Hintergrund wurde eine bessere Ausbildung der künftigen Berufstätigen gefordert. Diese Forderung richtete sich nicht nur an die Institutionen der Berufsausbildung, sondern auch an ihre 'Zubringer' - die allgemein bildenden Schulen.

Insbesondere die Berufspädagogik verwies nachdrücklich auf die Probleme der Jugendlichen beim Eintritt in den Betrieb, der unvermittelt, also ohne schulische Vorbereitung erfolgte. Außerdem gab es Vorbehalte gegen die Berufsaufklärung durch die Berufsberatungsämter, weil sie Befunde der Berufsforschung kaum berücksichtigte. Zu nennen ist vor allem der Berufspädagoge Heinrich Abel. Er hat sich in mehreren Veröffentlichungen mit den pädagogisch-didaktischen Problemen im "Vorraum der beruflichen Bildung" (Abel 1956, S. 271) auseinander gesetzt. Dabei konnte sich die Berufspädagogik auf soziologische und sozialpsychologische Untersuchungen über die Situation der Jugend stützen. So hat Helmut Schelsky in seiner bekannten Studie "Die skeptische Generation" auf die Kompliziertheit und andauernde Veränderung der Berufsmöglichkeiten der Jugendlichen [/S. 18:] hingewiesen (vgl. Schelsky 1957, S. 245). Außerdem sah er den Übergang vom Kind zum Erwachsenenstatus durch die traditionelle Betriebslehre beeinträchtigt, weil sie keine dem Reifungs- und Entwicklungsstand der Schulabsolventen angemessene Lehrform sei. Deshalb müsse der Pflichtschulbesuch um ein Jahr oder gar um zwei Jahre verlängert und eine Vorbereitung auf die Berufswelt erfolgen, bevor die jungen Menschen in sie eintreten (vgl. Schelsky 1957, S. 297 ff.).

Die Überlegungen bezogen sich ursprünglich auf die allgemein bildenden Schulen generell. Gefolgt wurde Georg Kerschernsteiners Gedanken, dass alle Schulen die "erste Aufgabe" haben, die Schüler auf einen bestimmten Berufsbereich vorzubereiten (vgl. Kerschensteiner 1920). Dabei wurden jene Ansätze einer allgemeinen, arbeits- und berufsorientierten Erziehung wieder aufgenommen, die in der Geschichte des unteren und mittleren Schulwesens in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben (vgl. Dedering 2000, S. 178 ff.). Die Betrachtung der historischen Ansätze beförderte eine schulformspezifische Konkretisierung der Diskussion. Dabei herrschte die Meinung vor, dass sich eine Berufsorientierung vornehmlich an praktisch Begabte richten sollte und sie insbesondere eine Aufgabe der enger auf das praktische Leben bezogenen Volksschule sein müsse. Mit diesem Argument ist die Einführung des 9. Volksschuljahres maßgeblich begründet worden. Dies führte dazu, dass sich die Diskussion über Berufsorientierung zunehmend auf die Volksschule beschränkte. Sie bezog sich aber nicht mehr nur auf die Übergangsprobleme der Jugendlichen, sondern es wurde umfassender über die Frage diskutiert, wie die Schülerinnen und Schüler auf die Berufs- und Arbeitswelt vorbereitet werden könnten. Nun ging es darum, die veraltete volkstümliche Volksschulbildung durch eine stärkere didaktische Ausrichtung der Volksschuloberstufe auf die künftigen Anforderungen der Berufsarbeit zu überwinden und der fragmentierten Volksschule einen pädagogischen Sinn zu geben. Konkrete Ansätze sind mit der Einführung des 9. Pflichtschuljahres realisiert worden. Die Maßnahmen bezogen sich jedoch nur auf Teilaspekte der Arbeitswelt. Im Vordergrund standen Hilfen bei der Berufsfindung durch "Erkundung der heimatlichen Arbeitswelt" (Wagner 1955, S. 200 ff.). Auch wurden Betriebspraktika durchgeführt. Hiermit hatten einige Volksschulen (z. B. in Hamburg und Berlin) schon seit Anfang bzw. Mitte der fünfziger Jahre Erfahrungen.

In ihrem Anfangsstadium war die schulische Berufsorientierung also durch zwei gegensätzliche Entwicklungen gekennzeichnet: Einerseits wurde ihre Perspektive auf die Volksschule verengt und andererseits erfolgte eine Ausweitung ihrer Problemstellung auf die Hinführung zur Berufs- und Arbeitswelt. Dies erklärt, warum die berufliche Orientierung in der damaligen Frühphase der Arbeitslehrediskussion einen geringen Stellenwert hatte. [/S. 19:]