Fragen wir nach den Beteiligten an der Debatte. Ich habe eingangs auf die verbreitete Behauptung hingewiesen, der wissenschaftliche Blick zergliedere die Wirklichkeit und lasse nur aspekthafte Bruchstücke zurück. Die ursprüngliche Ganzheit und Ungeteiltheit gehe verloren. Hinter vielen Konzepten zum fachübergreifenden Lernen steht die Vorstellung, der von der Wissenschaft hinterlassene Scherbenhaufen müsste durch pädagogische Konzepte wieder zu einer Ganzheit zusammengeführt werden. Diese Vorschläge zum fachübergreifenden Lernen tun so, als ob in den Disziplinen - Wissenschafts- und Schulfächer - alles esoterisch zuginge, in der so genannten Wirklichkeit aber alles ungefächert sei. Die Annahme einer ungefächerten, d. h. vorwissenschaftlichen Wahrnehmung und Wirklichkeit, ist aber eine Fiktion. Wer vermisst eigentlich die Ganzheitlichkeit, die Sicht auf eine ungefächerte Wirklichkeit? Ich kenne keine Studien, die aufzeigen, dass Schülerinnen und Schüler die fehlende Ganzheitlichkeit beklagen oder unter ihr leiden (23). Wer darüber lamentiert - und das sei fast ohne Polemik gesagt - sind weniger Lehrerinnen und Lehrer, sondern Hochschulpädagogen und Kultusbeamte, die von der Dynamik moderner Wissenschaft zutiefst beunruhigt sind. Sie sehnen sich in wissenschaftsberuhigte Zonen zurück. Wenn man aus eigener Anschauung weiß, welchen Druck Kultusbeamte auf Richtlinienautoren ausüben, um "Fachübergeifendes" in Richtlinien und Schulpraxis zu bekommen, und dann sieht, welches Schicksal diese Papiere in der Schulpraxis haben, ist gründlich desillusioniert. Dort ist weniger kreativer fachübergreifender Unterricht zu beobachten, als vielmehr das schlechte Gewissen der Lehrerinnen und Lehrer, gelungenen fachübergreifenden Unterricht nicht realisiert zu haben.
(1) In der Debatte wird unterschlagen, dass Gesellschaften lernende Systeme sind und die Sprache ihr Lernmedium. Wenn wir Begriffe gebrauchen wie Rolle, Verantwortung oder auch nur von Freud'scher Fehlleistung, Minderwertigkeitskomplex, Charisma, Biotop sprechen, benutzen wir verkürzte Theorieannahmen aus den Fachdisziplinen Soziologie, Ethik, Psychoanalyse etc. Wir können diese Begriffe nicht mehr naiv verwenden. Hinter ihnen verbergen sich in Alltagswissen abgesunkene Theoriekonzepte von Disziplinen.
Wir können nicht so tun, als wenn 200 Jahre moderne Wissenschaft keine Spuren außerhalb der Gelehrtenstuben und Labors hinterlassen hätte. Gesellschaften sind kollektive Lerngemeinschaften, die auf kumulativen Lernprozessen über die Generationen hinweg beruhen. (24) Bei Maurice Halbwachs heißt dieser Vorgang "kollektives Gedächtnis", bei Norbert Elias "Zivilisationsprozess". Das Medium, in dem sich die Lernprozesse vollziehen und in dem diese Ergebnisse aufbewahrt werden, ist die Sprache. Am Anfang des 19. Jahrhunderts, zu Beginn des Nationsbildungsprozesses und der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung, gab es z. B. keine gemeinsame Hochsprache. Nordfriesen und Bayern konnten sich kaum verständigen. Wissenschaftssoziologisch begann dann ein Prozess, gemeinsames Wissen über regionale und soziale Gruppen auszuweiten. Diese Distribution des Wissens (25) über soziale, regionale und Klassengrenzen hinaus sicherzustellen, war ein wichtiges Moment im Nationsbildungsprozess. Dabei wurde wissenschaftsförmiges Wissen in Alltagswissen bis zu einem bestimmten Maße transformiert. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass ein erwachsener Mensch am Ende des 18. Jahrhunderts über genauso viel Wissenschaftswissen verfügte, wie heute ein Kind, wenn es eingeschult wird.
Insofern ist die Vorstellung eines "ganzheitlichen Wissens" ein vormodernes Konzept, das in die Zeit des Polyhistorismus des 17. Jahrhunderts gehört.
Eine Bestätigung für diese Thesen sind die vor 20 Jahren modernen "allgemeinen Lernziele". Sie waren keineswegs "allgemein", sondern benutzen mit bestimmten Fachtermini stets fachspezifische Theorien und stellen damit bereits Relationen in der Wirklichkeit her. Die linguistische Analyse legt zudem über die Zeitreferenz der Lernzielformulierungen die Bezogenheit auf Geschichte dar. Alle bisher angebotenen Systeme allgemeiner Lernziele waren logisch, grammatikalisch und semantisch eine Addition fachspezifischer Begriffe und Theorien. Weder in der Wahl der Termini noch in der Sprachstruktur konnten "allgemeine" Lernziele den fachspezifischen Denkweisen entrinnen. Die Begriffe verkündeten auch dann noch ihre Fachlichkeit, wenn die Lernzielverfasser sich nicht der epistemologischen Struktur der Wissenschaften bewusst waren. (26)
Dazu meine These:
- Es gibt in den modernen westlichen Gesellschaften keine theorieunabhängige Alltagssprache mehr. Sie ist theoriegeladen und insofern können wir nicht mehr überfachlich - "ganzheitlich" - an Alltagsphänomene, Erfahrungsgegenstände herangehen.
(2) Als nächstes stellt sich die Frage nach der Instanz. Wer formuliert den "gemeinsamen Gegenstand", wer benennt diejenigen Probleme, die in fachübergreifende Lernprozesse einbezogen werden? Wenn sie "allgemein" sein sollen, können sie nicht von einer einzelnen Fachwissenschaft oder Fachdidaktik formuliert werden. Auch ein Gremium unterschiedlicher Fachvertreter kann nicht angenommen werden, da allgemeine Lernziele ihrem Anspruch nach nicht durch eine Addition von Fachaspekten gewonnen werden dürfen. Die einzelnen Vertreter der Fachwissenschaft und Fachdidaktik können sich zudem nicht gleichsam selbst in ihrer Sichtweise auslöschen und eine Metawissenschaft durch Zusammensitzen begründen. Die Probleme, die als gemeinsame Gegenstände fungieren sollen, müssen aus einer Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit hervorgehen. Wer unternimmt diese Analyse, mit welchen Methoden und welchen Instrumenten, wenn eine fachneutrale Methode nicht existiert? Der Versuch, diese Aufgabe der Erziehungswissenschaft zuzuweisen, greift ebenfalls zu kurz, da die Pädagogik ihrerseits eine disziplinäre Sicht auf gegenwärtige Wirklichkeit hat, obwohl sich ihre Vertreter manchmal als Spezialisten für das Allgemeine verstehen.
Offensichtlich sind sich die Verfechter des fachübergreifenden Lernens nicht über die Konstitution von Problemen im Klaren. Es besteht eine Differenz zwischen gesellschaftlicher Problemdefinitionen und ihrer disziplinären Verarbeitung. Was in einer Gesellschaft ein Problem ist, stellen wir in unserer Eigenschaft als Bürgerinnen und Bürger eines Gemeinwesens fest, auch wenn wir Fachwissenschaftler sind. Die Sensibilität für Problemwahrnehmung ist sozial (und nicht disziplinär) unterschiedlich verteilt. Der Langzeitarbeitslose definiert andere gesellschaftlich-soziale Probleme als der Modernisierungsgewinner. Der Bündelung und Artikulation dieser Probleme nachzugehen, ist eine politologisch-soziologische Aufgabe, und die soll hier nicht näher untersucht werden.
(3) In der schulpädagogischen Diskussion wird die Notwendigkeit fachübergreifenden Lernens auch über angebliche Veränderung gesellschaftlicher Problemlagen begründet. Diese Annahmen enthalten aber historische und politische unhaltbare Implikationen. So wird festgestellt: "Leider definieren sich die Probleme der modernen Gesellschaft nicht mehr als Problemstellungen für disziplinäre Spezialisten." (27) Als Beispiele werden Umweltschutz, Technologiefolgenabschätzung, Gentechnik und Friedenssicherung genannt. Besonders das "nicht mehr" ist nicht belegbar. Es wird eine Entwicklung behauptet, die sich historisch nicht belegen lässt. Wenn man die Verkehrsentwicklung im 19. Jahrhundert am Beispiel des Eisenbahnbaus betrachtet, so zeigt sich, dass das ein technisches, gesellschaftliches kulturelles und ökonomisches Problem gewesen ist und auch damals so gesehen und diskutiert wurde. Es war keineswegs ein Problem für Spezialisten. Die behauptete neue Qualität ist keine.
Solche Probleme werden in der Gegenwart oft mit dem Pathos gesellschaftlicher Verantwortung vorgetragen, - nur, was kommt davon in der Praxis an? Dort werden andere Problem formuliert: Zeit, Lärm, Liebe und Kleidung. (28) Sind das die Probleme, die eine neue Qualität anzeigen? Entweder entweicht man in transzendentale Höhen und plündert die Kant'sche Kategorientafel ("Zeit") oder nimmt Alltagsärgernisse ("Lärm") und kulturelle Universalien ("Kleidung") zum Gegenstand. (29) Eine Bewegung hin zum "kleinsten gemeinsamen Nenner" ist unübersehbar. Offensichtlich geht es gar nicht um gesellschaftliche Probleme, sondern nur um Anlässe für schulisches Handeln. Das ist durchaus legitim, man sollte es aber auch ehrlich zugeben. Manche Autoren machen das dann auch mit erfrischender Offenheit: "Kurbeln sie mal eine Tasse Kaffe warm" (Energiegewinnung mit Muskelkraft) oder "Bau eines Heißluftballons" (mit Teelicht und Seidenpapier). (30) Solange nicht als Probleme Rassismus und Antisemitismus aufgegriffen werden, ist das Pathos des gesellschaftlichen Engagements um moderne Probleme, die "nicht mehr" fachspezifisch bearbeitet werden können, hohl.
(4) Gibt es keine gelungenen Modelle? Es lässt sich nicht bestreiten, dass es gelungene und beeindruckende Projekte gibt, die von ihren Organisatoren mit dem Prädikat "fachübergreifend" belegt werden. Die ernst zu nehmenden Modelle, die auf der Vorstellung beruhen, dass der gleiche Gegenstand von den verschiedenen Disziplinen betrachtet werden kann - also die Prismamodelle -, stehen und fallen mit einem ergiebigen Gegenstand. Auffallend ist aber auch, dass sie umso besser gelungen sind, je weniger "Fächer" sich daran beteiligen. Aus der Existenz solcher Projekte ist allerdings nicht zu schließen, dass es bereits überzeugende theoretische Konzepte für fachübergreifendes Lernen gibt.
Schaut man sich einmal an, welche Themen gewählt werden und was sich an fachübergreifenden Inhalten dahinter verbirgt, ist man enttäuscht. Gegenstände wie "Wasser", Planeten, Liebe, Lärm (31) sind solche Beispiele. Hinter dem Gegenstand Wasser verbergen sich dann folgende Teilthemen, wie aus zwei pädagogisch-didaktischen Zeitschriften (32) zu entnehmen ist: "Schüler experimentieren mit Wasser", "Hochwasser und Muren", "Flüssig, fest und gasförmig. Erscheinungsformen und Eigenschaften des Wassers", "Verantwortlicher Umgang mit Wasser", "Römische Wasserleitungen", "Von der brackigen Brühe zum keimfreien Nass. Der Hygienisierungsprozess im 19. Jahrhundert". Obwohl es bei all diesen Themen nass zugeht, haben "Hochwasser und Muren" und "Römische Wasserleitungen" wenig Gemeinsamkeiten. Ob diese verschiedenen Themen in den Köpfen der Schüler und Schülerinnen wieder ein Ganzes entstehen lassen, bleibt dahingestellt; das will ich an dieser Stelle auch nicht näher untersuchen. Zweifel sind aber angebracht.
Bedenklicher ist aber, dass diese Praxis des fachübergreifenden Lernens hinter den erreichten Stand der Wissenschaften zurückfällt. Dieser "allgemeine" Blick durchstöbert den Wissens- und Ergebnisfundus der Disziplinen bzw. Fächer, um zu diesem Gegenstand etwas Passendes zu finden. Der allgemeinpädagogische Blick bringt dann Elemente aus der disziplinären Mottenkiste hervor. Manchmal müssen sie sich dazu auch richtig abquälen. Im Bergheimer Modell ist zum Gemeinsamen exemplarischen Gegenstand "Lärm" der historische Aspekt "Lärm im antiken Rom" und "Lärm im London des 19. Jahrhunderts" vorgeschlagen worden - als wenn die Geschichte nichts besseres anzubieten hätte. Auf diese Weise wird nicht das eingebracht, worin die Disziplinen besonders stark sind. Die fachwissenschaftlichen Potenziale zur Orientierung in der gegenwärtigen Welt werden gar nicht abgerufen. "Globalisierung als Identitätsverlust?", "Antisemitismus als deutsches Rassemerkmal?", "Nationalismus, Nationsbildung und Phantomstolz" etc. werden von solchen Konzepten nicht als historische Themen nachgefragt. Veraltete Probleme für "disziplinäre Spezialisten" ?
Meine letzte These lautet deshalb:
- Die gegenwärtigen Konzepte von fachübergreifendem Lernen gehen an den Erklärungspotenzialen der modernen Wissenschaften vorbei, lassen sie außen vor. Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft bedeutet das: Was von historischen Themen in die Konzepte des fachübergreifenden Lernens eingeht, verzichtet auf die Orientierungsleistungen der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft.