Geschichte ist gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Oder vielleicht deutlicher: Geschichte ist je und je gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden. Die Erforschung und Reflexion des Geschehenen erfolgen unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen, ja Zukunftshoffnungen. Der italienische Geschichtstheoretiker Benedetto Croce hat diesen unauflöslichen Zusammenhang wie folgt ausgedrückt: "Das praktische Bedürfnis, auf das sich jedes geschichtliche Urteil gründet, verleiht der Geschichte die Eigenschaft, "zeitgenössische Geschichte" zu sein, weil sie in Wirklichkeit – wie fern auch chronologisch die Tatsachen in der tiefsten Vergangenheit ruhen mögen – immer auf ein gegenwärtiges Bedürfnis, eine gegenwärtige Lage bezogen ist." (4)
Jakob Burckhardt hat den Zusammenhang auf die knappe Formel gebracht: "Unser Gegenstand ist diejenige Vergangenheit, welche deutlich mit Gegenwart und Zukunft zusammenhängt." (5) Ich füge erläuternd hinzu: Dieser Zusammenhang besteht nicht einfach in einem Ursachenzusammenhang.
Geschichtstheoretisch ist es schlechthin unbestreitbar, dass Geschichte als Rekonstruktion vergangenen menschlichen Handelns und Leidens erst entsteht, wenn ein gegenwärtiges zukunftsgerichtetes Interesse und Bedürfnis an Orientierung und Information vorliegt, das auf eine an erfolgversprechende Regeln gebundene Erinnerung drängt. Die wissenschaftliche Geschichte ist von solchen praktischen Interessen abhängig. Sie fallen ihr aus der sozialen Lebenswelt zu. Sie bedingen auch, dass Geschichte im Fortgang der Realgeschichte immer wieder umgeschrieben wird und werden muss.
"Dass die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übriggeblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden ist, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen lässt." (6) – So trotz des fatalen Sprachgebrauchs "Genosse" Johann Wolfgang von Goethe.
Geschichte, die aus praktischen, im Fortgang der Realgeschichte wechselnden Bedürfnissen immer neu geschrieben wird, hat für die Gesellschaft, in der sie entsteht, eine praktische Bedeutung. Ihre Ergebnisse können nicht ohne Schaden für vernunftgeleitetes Handeln übersehen und übergangen werden.
Dass Geschichte als Historie, als wissenschaftliche Geschichte gegenwärtiges, je und je gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Handeln und Leiden ist, ein Nachdenken, das unter dem Einfluss von Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen erfolgt, ist geschichtstheoretisch unstrittig, muss aber noch etwas genauer erläutert werden.
Traditionen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen durchdringen sich wechselseitig. Unsere Gegenwartserfahrungen werden durch Traditionen, die uns lebensgeschichtlich erreichen und prägen, mitbestimmt und durch Zukunftshoffnungen beurteilbar. Unsere Traditionen werden durch Gegenwartserfahrungen im Lichte von Gegenwartserfahrungen stets neu bedacht und auf uns bezogen, werden durch Zukunftshoffnungen kritisch gewürdigt, bestätigt oder neu erschlossen und neu sortiert; und unsere Zukunftserwartungen werden durch Traditionen, auf die wir uns beziehen, z.B. demokratische Traditionen, wie sie einmal Gustav Heinemann eingeklagt hat bestärkt, oder durch Traditionen, auf die andere sich beziehen, in Frage gestellt, durch Gegenwartserfahrungen enttäuscht oder als sinnvoll, vielleicht gar notwendig bestätigt.
So unterschiedliche, unterscheidbare zeitliche Dimensionen damit auch angesprochen sind, sie haben doch wieder gemeinsam, dass sie auf einer einzigen zeitlichen Ebene auftauchen und wirken: Traditionen, Gegenwartserfahrungen, Zukunftshoffnungen sind je und je Gegenwartsphänomene, die in die Orientierung und den Vollzug gesellschaftlichen Handelns in der Gegenwart eingehen und darin wirksam werden.
Sie entfalten ihre bestimmende Kraft, wenn wir in unserer Zeit – also der sogenannten Gegenwart – als Gesellschaft vor Problemen stehen. Probleme werden hier verstanden als Herausforderungen einer Gesellschaft, die innerhalb der Gesellschaft übereinstimmend gesehen, aber divergierend beurteilt werden.
Probleme werden zugleich verstanden als Herausforderungen der Gesellschaft, die wesentliche Momente des gesellschaftlichen Lebens betreffen, sie gefährden, bedrohen, in Frage stellen – nicht also bloß intime und private, bloß aktuelle (Reisepassverlängerung) und technisch oder administrative. Ich nenne ohne jede Vollständigkeit – ein brain storming unter uns würde eine Fülle weiterer Probleme ergeben:
- Umwelt
- Fortschritt (Technikfolgenabschätzung)
- Frieden und Abrüstung
- Arbeit
- Frauenbenachteiligung und -unterdrückung
- Dritte Welt
- Aids
- Demokratie in Anspruch und Wirklichkeit.
Gesellschaftliche Probleme sind gesellschaftliche Orientierungsschwierigkeiten. Dass sie übereinstimmend gesehen werden (oder vielleicht auch nur empfunden werden), ändert nichts daran, dass sie unterschiedlich beurteilt werden, und dass unterschiedliche Wege zur Lösung empfohlen werden, hängt mit gesellschaftlichen Interessengegensätzen zusammen: Unterschiedliche gesellschaftliche Standorte bedingen unterschiedliche gesellschaftliche, ökonomische, politische, kulturelle Interessen, die zugleich mit bestimmten Wertorientierungen verknüpft sind.
Gesellschaftliche Probleme verlangen oder rufen hervor: unterschiedliche Arten der Betrachtung, des Nachdenkens, der Analyse – und unter diesen eben die historische Betrachtungsweise.
Die Geschichtswissenschaft wendet sich in den Personen einzelner Geschichtswissenschaftler diesen gegenwärtigen Problemen zu – und zwar auf ihre spezifische Weise, mit der ihr als Wissenschaft eigentümlichen methodischen Rationalität der historischen Erkenntnis. Sie macht die gegenwärtigen Probleme zu ihrem Denkobjekt, das sie more historico, nach Art der Geschichte angeht. Sie ist als Fachwissenschaft eine objektiv mögliche und übliche Weise, die Wirklichkeit denkend zu betrachten, zu ordnen, zu begreifen und – aber erst sekundär – in Form je und je gegenwärtigen historischen Wissens das Ergebnis dieser Betrachtung. Sie ist eine Weise des Denkens, die bestimmte, von anderen Wissenschaften unterschiedene Fragestellungen, Aussageabsichten und Kategorien und Methoden erarbeitet hat und anwendet, Fragestellungen, Aussageabsichten, Kategorien und Methoden, die systematisch verfeinert worden sind, sich als ertragreich erwiesen haben und den Geltungsanspruch historischer Aussagen und Urteile begründen.
Die Geschichtswissenschaft produziert dabei Erkenntnisse über vergangenes menschliches Handeln und Leiden, geht aber nicht in den Wissensbeständen auf, die sie akkumuliert. Sie ist Denken über die erkennbare menschliche (und unmenschliche) Vergangenheit, das durch die Auskunftsbedürftigkeit der Gegenwart ausgelöst wird.
Diese Aussagen lassen sich an der Entwicklung der Geschichtswissenschaft, der empirischen Geschichtsforschung trefflich verfolgen, insbesondere an der sogenannten Historischen Sozialwissenschaft:
In unserer Zeit entwickelt sich die Geschichtswissenschaft zu einer problemorientierten, an gegenwärtigen Problemen orientierten, und zwar absichtsvoll orientierten und sich als solche ausweisenden Historischen Sozialwissenschaft oder – ein anderer Begriff – Gesellschaftsgeschichte. Diese Gesellschaftsgeschichte weist eine spezifische Option auf Vernunft auf. Sie versteht die ihr eigene Vernunft – die sogenannte Historische Vernunft – in zweifacher Hinsicht, und sie ist damit theoriebewusster, gesellschaftsbewusster, politikbewusster, als sie es je in der Geschichte der Geschichtswissenschaft in Deutschland war:
- Historische Vernunft als formale Bestimmung der methodischen Rationalität, die den Forschungen der Historie zugrundeliegt und den Geltungsanspruch ihrer Aussagen begründet.
- Historische Vernunft zeigt sich überall dort als inhaltliche Bestimmung, wo das historische Denken daraufgerichtet ist, historische Prozesse und Vorgänge der Humanisierung (und ihres Scheiterns) zu erinnern, zu vergegenwärtigen und wachzuhalten. Gesellschaftsgeschichte ist nach den Worten Hans Ulrich Wehlers "Erforschung der erkennbaren menschlichen und unmenschlichen Vergangenheit unter der leitenden Hinsicht eines Interesses an emanzipatorischen Entwicklungsprozessen, an der Durchleuchtung der Widerstände gegen sie und an der Vermehrung ihrer Durchsetzungschancen" (Wehler). (7)