Hecker, Ursula (2000): Ausbildungsabbruch als Problemlösung? Überlegungen zu vorzeitigem Ausstieg aus der Ausbildung.

In: BIBB (Hrsg.): Jugendliche in Ausbildung und Beruf. Bonn 2000, S. 55 - 66.

[/S. 55:] Für viele junge Menschen wird der Eintritt in die Arbeitswelt häufig zu einem Fehlstart, wenn sich zeigt, dass die Berufsrealität eine ganz andere ist, als ursprünglich erwartet. Die Zahl der Vertragslösungen liegt, trotz knapper Lehrstellen, nach wie vor auf einem hohen Niveau. Nachdem zwischen 1994 und 1997 eine leicht abnehmende Tendenz erkennbar war, ist 1998 wieder ein leichter Anstieg bei den Vertragslösungen zu beobachten. Vorzeitig gelöst wurden 1998 insgesamt 134.683 Ausbildungsverträge, das sind 22,6 Prozent. Bundesweit wird damit knapp jeder vierte Ausbildungsvertrag wieder gelöst. Knapp die Hälfte der Vertragslösungen findet im ersten Ausbildungsjahr statt; davon wiederum gut die Hälfte bereits in der Probezeit.

Besonders groß ist die Rate der Vertragsauflösungen im Handwerk mit 28 Prozent und bei den Freien Berufen mit 27 Prozent. Eine auffallend hohe Ausbildungszufriedenheit scheint im öffentlichen Dienst vorzuliegen. Hier haben nur 6,5 Prozent der Auszubildenden ihre Lehre vorzeitig beendet.

Die Spannweite der Vertragslösungen zwischen den einzelnen Bundesländern ist ebenfalls erheblich. Sie reicht von hohen Lösungsraten mit knapp 30 % in den Ländern Bremen (28 %) und Berlin (27 %) bis unter 20 % in den Ländern Bayern (18 %), Sachsen und Baden-Württemberg (jeweils 19 %).

 

Tabelle 1: Anteil der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge an den neu abgeschlossenen Verträgen (1) nach Ausbildungsbereichen 1993 bis 1998
Neue und alte Bundesländer insgesamt - in Prozent -
Ausbildungsbereiche
1994
1995
1996
1997
1998
Industrie und Hande
21,3
20,2
19,4
18,1
18,7
Handwerk
29,9
29,2
26,7
26,3
27,9
Öffentlicher Dienst
7,1
7,5
6,3
6,8
6,5
Landwirtschaft
24,5
24,2
23,1
22,3
23,0
Freie Berufe
29,1
28,6
25,5
25,8
26,8
Sonstige Hauswirtschaft, Seeschifffahrt
22,6
27,9
23,0
22,0
22,1
Alle Bereiche
24,7
24,2
22,6
21,8
22,6

 

Der, wenn auch nur leichte, Anstieg bei den vorzeitigen Vertragslösungen ist um so bedauerlicher als nach einer Erhebung des Bundesinstituts für Berufsbildung sich die Chancen für Vertragslöser im Vergleich zu früher deutlich verschlechtert haben (Alex u. a. 1997). So ist der Anteil der Ausbildungswechsler, d. h. Auszubildende, die nach der Vertragslösung wieder eine neue Ausbildung aufnehmen, merklich zurückgegangen (von 46 % 1990 auf 39 % 1995/96). Im [/S. 56:] Gegenzug hat sich der Anteil der Abbrecher, die im Anschluss arbeitslos waren bzw. Gelegenheitsjobs ausübten, erheblich ausgeweitet (von 20 % 1990 auf 37 % 1995/96). Damit zeichnet sich ab, dass der Abbruch einer Ausbildung für die Jugendlichen derzeit häufig zu einem endgültigen Herausfallen aus dem beruflichen Bildungssystem führt, mit den meist negativen Folgen einer beruflichen Perspektive als An- und Ungelernter (Puhlmann 1994).

In diesem Zusammenhang ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass eine vorzeitige Vertragslösung nicht immer eine Katastrophe bedeuten muss. In vielen Fällen ist sie eine sinnvolle berufliche Umorientierung, insbesondere wenn der Beruf/ Betrieb nicht den Vorstellungen oder den Ansprüchen an die Qualität der Ausbildung entspricht (Grieger/ Hensge 1992). Vertragslösungen vor diesem Hintergrund sind häufig mit einem Betriebs- und/ oder Berufswechsel bzw. mit einem Übergang in andere Bildungswege verbunden. Dennoch ist auch hier in den meisten Fällen ein Einschnitt in den beruflichen Lebensweg der betroffenen Jugendlichen zu verzeichnen. Ausbildungsabbrüche beruhen selten auf Ad-hoc-Entscheidungen. In der Regel sind sie der Schlusspunkt eines länger andauernden Prozesses, der häufig mit negativen Erfahrungen, Konflikten und Problemen, sowohl für den Jugendlichen aber auch für den Betrieb, verbunden ist (Hensge 1984).

Das Abbruchgeschehen ist aus der Sicht der Auszubildenden im Allgemeinen gekennzeichnet durch ein ganzes Bündel von teilweise mit einander verbundenen Gründen (Fassmann 1998). Nach bislang durchgeführten Studien über die Ursachen von Ausbildungsabbruch lassen sich vor allem Probleme im sozialen Kontext, insbesondere dem Verhältnis zu den Ausbildern und Kollegen, in betriebsstrukturellen Aspekten der Ausbildung sowie in einer falschen Berufswahl festmachen (vgl. Grieger 1981 und Hensge 1987). Ein Teil dieser Gründe könnte durch bessere Vorabinformationen über den Ausbildungsberuf und die anfallenden Tätigkeiten, durch größeres Engagement und Kompromissbereitschaft sowohl aufseiten der Auszubildenden und der Betriebe vermieden werden.

Die vorliegende Analyse setzt nicht erst beim Ausbildungsabbruch an, sondern fragt Auszubildende, ob sie einen Abbruch ihrer derzeitigen Ausbildung in Erwägung ziehen und welche Gründe sie zu dieser Überlegung veranlassen. Da betriebsbedingte Ursachen in erheblichem Maße zu den Vertragslösungen führen, gilt das besondere Augenmerk den aktuellen betrieblichen Ausbildungsgegebenheiten, wie sie von den Jugendlichen eingeschätzt und erfahren werden. Dadurch können weitere Hinweise gewonnen werden, welche Ereignisse und Faktoren in der Ausbildung die Gefahr eines Abbruchs in sich bergen. Grundlage hierfür sind Ergebnisse des Forschungsprojektes "Ausbildung aus der Sicht der Auszubildenden". [/S. 57:]