Sozialwissenschaftliche Bildung gegen Antisemitismen
Vermehrt und zunehmend werden (angehende) Lehrer/-innen und auch die Schule adressiert, wenn es um die Aufklärung antisemitischer Ressentiments geht. Damit gehen einige erklärungsbedürftige Voraussetzungen einher. Zunächst einmal ist die Vorstellung ‚wenn Bildung, dann antisemitismusresistent‘ genauer zu betrachten. Denn der Zusammenhang ist weder theoretisch noch empirisch so eng, wie es zunächst scheinen mag. In Bildungskontexten scheitern kausale Ursache-Wirkungs-Annahmen regelmäßig, also etwa die Annahme, dass ein gutes Arbeitsblatt oder eine gute Methode die Lernenden gegen Antisemitismus immunisiert. Arbeitsblätter sind Materialien, die als Ausgangspunkt einer Befragung dienen können – sie sind nicht bereits das Ergebnis selbst. Deterministische Annahmen und Hoffnungen scheitern auch, weil sie die Mündigkeit von Lernenden an einer entscheidenden Stelle ignorieren. Die Gestaltung von Bildungserfahrungen ist auf Konzepte und Methoden einer mündigkeitsorientierten Bildung angewiesen, die ganz allgemein darauf abzielen, dass alle Beteiligten das Ressentiment erkennen, benennen und kritisieren können. Es handelt sich bei einer Bildung gegen und über antisemitische Ressentiments um herausfordernde Bildungserfahrungen. Denn zur Diskussion stehen gesellschaftlich tradierte Wissensformen, die über auswendig gelerntes Wissen hinausgehen und die auch immer die eigene Subjektivität umfassen. Eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlich wirkmächtigen Ressentiments ist auch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen. Das berührt sowohl das eigene Selbstverständnis von Lehrenden als auch das von Lernenden, weil hier Reflexionserfahrungen über gesellschaftlich tradierte Annahmen eine besonders hervorgehobene Bedeutung einnehmen. Gerade der schulische Unterricht könnte Rahmenbedingungen bieten, um solche und vergleichbare Bildungserfahrungen zu ermöglichen, die folgenreichen Ressentiments zu erkennen und begründet zurückweisen zu können.
In öffentlichen Diskussionen in Deutschland ist der traditionelle rassistische Antisemitismus gesellschaftlich geächtet und wird dementsprechend sozial und auch juristisch sanktioniert. Zum Glück ist hier weitgehend eine gesellschaftliche Tabuisierung und Problematisierung erreicht. Anders sieht es bei den aktuellen Erscheinungsformen aus. Der israelbezogene Antisemitismus oder der muslimisch geprägte Antisemitismus werden seltener erkannt. Das stellt Bildungsangebote vor die Herausforderung, dass historisches Wissen über den Nationalsozialismus nicht notwendigerweise damit einhergehen muss, die aktuellen Erscheinungsweisen zu erkennen. Weiterführender ist es daher, von unterschiedlichen Erscheinungsweisen von Antisemitismen auszugehen. Denn die Kritik bestimmter Formen des Antisemitismus kann mit einer Blindheit gegenüber anderen Formen zusammen gehen. Aus diesem Grund ist ein Wissen über Funktionen und Mechanismen der traditionellen und der aktuellen Erscheinungsweisen bedeutsam, damit Lehrende und Lernende eigenständig antisemitische Ressentiment erkennen und problematisieren können – auch wenn sie ihnen außerhalb der Unterrichtszeit begegnen.
Es gibt momentan erhebliche Anstrengungen, auf unterschiedlichen Ebenen gegen die traditionellen und aktuellen Erscheinungsweisen von Antisemitismen anzugehen. Der Bereich der Bildung ist dabei von hervorgehobener Bedeutung, weil hier die geschilderten Herausforderungen gebündelt auftreten. Aber es mangelt noch daran, die strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen, die dieses Wissen auch verbindlich in der Lehramtsausbildung sowie in den schulischen Curricula festschreiben. Woher sollen (angehende) Lehrer/-innen ein Wissen gegen Antisemitismen (sonst) haben?