Ökonomische Bildung in Baden-Württemberg im Steigflug: Warum?!
Einmal mehr hat die Kultusbürokratie dem Werben von Wirtschaftsverbänden und unternehmensnahen Stiftungen für das Partikularfach "Wirtschaft" nachgegeben. So soll im Herbst 2016 in Baden-Württemberg das Unterrichtsfach "Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung" eingeführt werden. Die "Inthronisierung" der ökonomischen Bildung wird damit ebenso curricular zementiert wie die "Entthronung" der politischen, geographischen und historischen Bildung. Dabei droht in einem separaten Schulfach "Wirtschaft" die Kosten-Nutzen-Kalkulation, die alles Tun und Trachten – von der Aufnahme des Studiums bis hin zur Familiengründung – unter den ökonomischen Vorbehalt des Sich-rechnen-Müssens stellt, zum Fixpunkt ökonomischer Bildung zu werden. Nach dem Gutachten des Zentralverbands des deutschen Handwerks, das auch dem neuen Unterrichtsfach im "Ländle" zugrunde liegt, soll Effizienz den maßgeblichen Referenzpunkt ökonomischer Bildung darstellen. Aber sind im Schatten der uns nach wie vor in Atem haltenden Wirtschafts- und Finanzmarktkrise nicht in erster Linie Positionen gefragt, die Zweifel an der (vermeintlichen) Effizienz als zentraler Orientierungsgröße im freien Spiel der Marktkräfte säen? Soll Ökonomie tatsächlich unter Ausblendung kultureller, historischer und geographischer Eigenheiten unterrichtet werden? Wollen wir ökonomische Prinzipien auch in sozialen Kontexten über Leitlinien des kollegialen, partnerschaftlichen und freundschaftlichen Miteinanders stellen, wo diese doch in unserer "Ich-Gesellschaft" ohnehin erodieren? Müssen in einer zunehmend von ökonomischen Prinzipien bestimmten Gesellschaft nicht gerade die zum Teil jahrhundertealten Stabilisatoren der Sozial-, Steuer-, Finanz-, Umwelt- und Verkehrspolitik in den Blick genommen werden? Ökonomische Kenntnisse sind für die politische Urteilsbildung unverzichtbar. Diese droht jedoch bei einer ausschließlich wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung in einem Separatfach "Wirtschaft" als Unterrichtsziel aus dem Blick zu geraten. Angesichts eines durch Stundenzahlen begrenzten Fächerkanons kann ein neues Fach schließlich nur eingeführt werden, wenn andere Fächer gestrichen oder jedenfalls in der Stundentafel gekürzt werden. Welches Fach soll das sein? Sind ökonomische Kenntnisse tatsächlich bedeutsamer als mathematische, naturwissenschaftliche und grammatikalische Gesetzmäßigkeiten oder historische, geographische und politische Zusammenhänge? Bräuchten wir angesichts des Fachkräftemangels im Land der Ingenieure nicht eher ein Unterrichtsfach Technik? Wie ist es im Informationszeitalter um ein Fach Medienkunde bestellt? Oder müsste nicht ein eigenständiges Pflichtfach "Literatur" eingeführt werden, wo doch allein hierzulande rund 90.000 Bücher pro Jahr erscheinen? Und wie steht es um die stärkere Profilierung des Unterrichtsfachs "Politik", wo wir doch seit drei Jahrzehnten eine massiv rückläufige Wahlbeteiligung diagnostizieren, die noch dazu unter Bildungsbenachteiligten besonders dramatisch ausfällt? Und zeigen uns Pegida und HoGeSa nicht die dringende Notwendigkeit, mit politischer Bildung gegen die bis in die Mitte der Gesellschaft reichende Fremdenfeindlichkeit anzugehen? Es ist Zeit für eine Replik derjenigen, die sich der politischen, historischen, geographischen, kulturellen und musischen Bildung verpflichtet fühlen. Sonst schwimmen den etablierten Unterrichtsfächern in naher Zukunft die (curricularen) Felle davon.