Die traditionellen Integrationsansätze sind bisher bis auf wenige Ausnahmen an der "Macht des Faktischen" gescheitert. Die zunehmende Verwissenschaftlichung des Unterrichts und in ihrem Gefolge auch seine weitere Zersplitterung haben die gesamtunterrichtlichen Reformkonzepte nicht aufhalten können, u.a. weil sie an überholten ganzheitlichen Positionen (Heimatkunde z.B.) festgemacht waren. In der verwissenschaftlichten und "verwalteten" Schule haben sie ihre Reformansprüche nicht durchsetzen können.
"Es ist allgemein bekannt, warum die Bemühungen um 'Sozialkunde', 'Gemeinschaftskunde', 'Politikunterricht' oder welcher Begriffe man sich auch immer bedient, zu Recht kritisierbar sind: Vorherrschen des Harmoniecharakters, keine für den Schüler erkennbare Integration der einzelnen Teilgebiete oder der mißlungenen Versuche, Kenntnisse in Handlungen umzusetzen." (2) Diese Kritik ist an den meisten hier vorgestellten didaktischen Modellen geleistet worden. Aus der Aufarbeitung der wichtigsten Modelle hinsichtlich ihrer politisch-didaktischen Intentionen (Oberste Lernziele; Erkenntnisinteresse und gesellschaftspolitische Prämissen) und ihrer Integrationsaspekte (ob praktiziert oder nur gefordert) gilt es an diesem Punkt Konsequenzen zu ziehen, die für oder gegen die Integration sprechen. Wenn man einmal von der Fülle der möglichen Zwischen- oder alternativen Lösungen (z.B. Kooperation oder Politischen Bildung als Unterrichtsprinzip aller Fächer) absieht, die letztlich doch auf diese oder jene Lösung angelegt sind, ist, falls das Ergebnis positiv ausfällt, etwa im Sinne von Wulf zu fordern: "Die Didaktik politischer Bildung bedarf einer Ergänzung und Ausweitung durch ein Konzept für politisch-sozialwissenschaftliche Curriculumentwicklung... ."(3)
An dieser Stelle ist nur noch einmal zusammenzufassen, welche Fächer, welche fachdidaktischen oder fächerübergreifenden Modelle die Integration wie begründen. Die zentrale Rolle der Fachdidaktiken für die Frage der Fächerintegration ist im folgenden formuliert: "Die Begründung für die Gestaltung eines Schulfaches ist weder eine einzelwissenschaftliche noch eine wissenschaftstheoretische Aufgabe, sondern Aufgabe der Fachdidaktiken (sofern sie vorhanden sind.)"
Die didaktische Position für oder gegen Integration ist auch immanent eine wissenschaftstheoretische. "Die anthropologische Bedeutung des Faches muß von der Idee des teilnehmenden und teilhabenden Bürgers her interpretiert werden (Selbst- und Mitbestimmung als Normen des GG)." (4) Das Erkenntnisinteresse eines jeden Faches, das auf Emanzipation gerichtet ist, geht In seiner Wissenschaftstheorie ebenfalls von einer gesellschaftlich vermittelten Funktion der Wissenschaften aus.
Das drückt sich ebenfalls in einer positiven Einschätzung der Fächerintegration aus, wie Schwerdtfeger es formuliert: "Die Integration von Schulfächern ist der Versuch, auf die zunehmende Differenzierung In den Wissenschaften didaktisch produktiv zu reagieren, denn:
- Niemand kann bestreiten, daß sich aus der Vermehrung von Wissen und aus der gleichzeitigen 'Verwissenschaftlichung des Lebens' eine Reihe guter Gründe ableiten lassen, daß die neuen Fächer (bzw. das neue Wissen) im Kanon der Schulfächer repräsentiert sein sollten. [/S. 162:]
- Ebensowenig Ist bestreitbar, daß die Vielzahl der Fächer von keinem Lehrer (geschweige denn von den Schülern) beherrschbar oder auch nur in ihrer Gesamtheit als 'Ganzes' vorstellbar sind.
- Eine 'direkte' und additive Repräsentation von Wissenschaften und Wissensanteilen in der Schule ist aus evidenten Gründen sinnlos (Köpfe von Kindern sind kein Müllplatz)." (5)
Die Mehrzahl der didaktischen Modelle der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fächer sind u.a. als ein Versuch zu werten, auf die Herausforderung der wissenschaftlichen Spezialisierung zu reagieren, indem das Verbindende zwischen den Disziplinen betont wird. Alle diese Fächer wollen Politische Bildung betreiben und den "mündigen Staatsbürger" erziehen, gleichzeitig aber auch die jeweiligen Fachansprüche nicht aufgeben. (6)
Aus einer noch ganzheitlichen Weltschau, z.T. mit metaphysischen Dimensionen, fordern die "konservativen" Didaktiker der sozialwissenschaftlichen Fächer einen Gesamtunterricht, der entsprechende Werte vermitteln soll. Dem Gefühl der "Sinnentleertheit" durch die wissenschaftlich-pluralistischen Auffassungen wollen sie begegnen durch die Verknüpfung der Fächer, um damit verlorene Ideale wieder zurückholen zu können.
Von den "positivistischen" Didaktiken gibt es kaum Argumente für eine Fächerintegration, denn ihr "wertfreier" Ansatz verzichtet bewußt auf politische Prämissen und eine gesellschaftliche Rechtfertigung ihrer wissenschaftlichen Zielsetzung. Die weitere Auffächerung der Wissenschaften ist für diese Haltung fast eine logische Konsequenz. Ihre Zielsetzung gibt sich zweckfrei und ist abgeleitet aus der Systematik der Wissenschaft und dem Grundrecht des Grundgesetzes auf "Freiheit der Wissenschaften". Daraus resultiert ein "pluraler" Ansatz von Wissenschaften, der nur da, wo es methodologisch notwendig ist, auf eine andere Wissenschaft zurückgreift aber in der Integration keinen Sinn sieht, da die Wissenschaften in eine andere Richtung tendieren. Einen Sinn von Wissenschaften über diese hinaus sehen sie nicht. "Es gibt keine generelle Bestimmung von einigem Wert (für die Sozialwissenschaften; der Autor). Man kann zwar eine Definition geben, die verschwommen genug ist, alle Disziplinen zu umfassen; sie ist aber dann so vage, daß sie unbrauchbar ist." (7) Logischerweise kann es für die aus dieser wissenschaftlichen Position abgeleiteten Didaktiken keine Fächerintegration geben. Wenn es zu dem wie bei ihnen "nur" um den "mündigen Staatsbürger" oder "Wahlbürger" geht, ist das mit reinem Fachwissen über die Rechte und Pflichten, über die Institutionen und das Erlernen der Kulturtechniken und die Vermittlung der fachwissenschaftlichen Kenntnisse getan. Die vorhandenen Bemühungen auch einiger dieser Didaktiken für Integration bleiben letztlich voluntaristisch und für die politische Sozialisation inkonsequent, denn sie leisten nicht, was sie vorgeben, sie bleiben affirmativ. (8)
Eine Wissenschaftstheorie, deren Erkenntnisinteresse in der Emanzipation des Menschen liegt, und die alle menschlichen Handlungen in einen historischen Prozeß eingebettet sieht, schreibt auch den Wissenschaften, den Didaktiken, dem Unterricht und der Politischen Bildung eine ganz bestimmte logische Funktion für die Gesellschaft und den Geschichtsprozeß zu, ohne sie jedoch total zu reglementieren. Sie bekommen ihren Sinn und ihre Berechtigung von dem gesellschaftlichen Ziel her. Das trifft in verstärktem Maße für den sozialwissenschaftlichen Unterricht zu: "Das Handeln des Bürgers (sofern es nicht den Grenzfall des 'Berufspolitikers' betrifft) ist 'Politisch' (und nicht 'spezialisiert'); es basiert auf der [/S. 163:] Annahme einer allen Bürgern als Gleiche konstituierenden Vernunftfähigkeit und der daraus abgeleiteten Idee einer gemeinsamen Ordnung, in der die prinzipielle Gleichheit aller Bürger realisierbar ist und mit ihr die Realisierung von Freiheit und Glück ('Reich der Freiheit' als Ziel der Geschichte)." Der politische Bürger ist das Ziel, nicht der Bürger als Spezialist. Daraus resultiert die Notwendigkeit einer fächerintegrierenden Politischen Bildung, da es gilt, den politisch handelnden Bürger mit der oben genannten Intention zu "sozialisieren". (9) Besonders "... unter dem Gesichtspunkt einer parteilichen politischen Didaktik, welche zur kollektiven Emanzipation der Lohnabhängigen den ihr möglichen Beitrag leisten will, sind auf dem Gebiet der Methodologie der didaktische Materialismus ... der adäquate Bezugsrahmen" und damit auch die Fächerintegration, wie sie aus den entsprechenden didaktischen Entwürfen entwickelt worden ist. (10)
Die didaktisch relevanten (progressiven) Positionen der einzelnen Fächer lassen ihre Bezogenheit aufeinander erkennen und vermitteln die logische Konsequenz, aus der oben genannten Zielsetzung, eine integrative sozialwissenschaftliche Didaktik zu entwerfen. (11)
Die Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Umwelt innerhalb eines weitgehend organisierten und institutionalisierten Rahmen (Staat), ist letztlich zweckgerichtet auf die Realisierung des "Reiches der Freiheit". (12) Die zentralen Kategorien der hier behandelten sozialwissenschaftlichen Fächer sind Raum, Zeit, Herrschaft/Institution, Interaktion/Sozialisation und Arbeit/Wirtschaft. Sie sind konstitutiv für die menschliche Gesellschaft. Aber erst die Erkenntnis ihrer Interdependenz ergeben einen zielgerichteten Sinn für die Gesellschaft - sieht man von einer metaphysischen Sinngebung ab. Die räumliche Bezogenheit der Menschen ist logischerweise auch eine historische und umgekehrt. Die Gesellschaft und ihre Umwelt Ist bestimmt durch die Auseinandersetzung der Menschen (in Interaktionen und organisiert durch Institutionen) mit der Natur durch Arbeit und deren Organisation (Wirtschaft). Beides wird getragen von der politischen Herrschaft. (13)
Nun läßt sich argumentieren, die Fülle der einzelnen Disziplinen, die diese Probleme aufarbeiten, sei inzwischen so groß, daß ihre Verknüpfung mehr verwirre als orientiere. Das ist im Grunde jedoch unlogisch. Denn bei der Betonung etwa nur räumlicher Faktoren werden die anderen so vernachlässigt, daß letztlich die ganzen Informationen dann beliebig werden, nicht mehr stimmig sind, sich sogar widersprechen können, und es wohl kaum der Intelligenz der Schüler überlassen bleiben kann, innerhalb von fünf Jahren Schule (S I) irgendwann einmal die Ergebnisse und Erkenntnisse der Fachdisziplinen wie bei einem Puzzle aus eigenem Vermögen zusammenzufügen. Wenn bei allen Disziplinen eine politische Erziehung der Selbst- und Mitbestimmung oberster Wert ist, dann ergibt sich daraus die Schlußfolgerung, bei dem jeweiligen Unterrichtsthema genau das Interdependente der gesellschaftlichen Probleme auch interdependent zu vermitteln, um mehr als die Anhäufung von nur vergeßlichem Faktenwissen zu leisten. (14)
In den beiden folgenden Schemata soll der Versuch gemacht werden, aus den "progressiven" Fachdidaktiken die Integrationselemente der Fächer auf den Begriff gebracht aufzuschlüsseln. Das sozialwissenschaftliche Umfeld, in einem schematisierten Schaubild skizziert, läßt die Zusammenhänge der Grundkategorien der einzelnen Fächer erkennen, wenn Gesellschaft von einem Ziel (Emanzipation) her interpretiert wird. (15) Die Ziele, Inhalte, Methoden lassen den zusammenhängenden Charakter und die gegenseitige Ergänzung der sozialwissenschaftlichen Fächer erkennen. (16) [/S. 164:]
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Fächer | Ziele | Inhalte | Methoden/ Fertigkeiten | Fächerverbindungen |
Arbeit/Wirtschaft (Arbeit) |
Erkenntnis des Grundwiderspruchs von Kapital u. Arbeit Warencharakter und Entfremdung der Arbeit Alternative: Selbst- u. Mitbestimmung im Produktions- u. Konsumtionsbereich |
Entwicklung u. Stand der Produktivkräfte Berufs- u. Verbraucherorientierung Polytechnik: Werken - Handwerk - Industrie - Wirtschaftsmodelle |
handwerkliche Grundtechniken Ökonomische Modelle Betrieb u. Markt (Planspiele) |
politische politökonomische historische polytechnische (technische) |
Geographie (Raum) |
Erfassung u. Erfahrung raumbedingter Strukturen Daseinsfunktionen Selbst- u. Mitbestimmung bei der Gestaltung des Raumes "Erde" |
Naturräumliche und sozialräumliche Bedingungen und Strukturen der Erde Daseinsfunktionen |
Erschließung des Raumes durch Karten, Bilder, Medien, Statistiken Orientierung im Raum |
politische ökonomische soziale sozial- u. wirtschaftshistorische (naturwissenschaftliche) |
Geschichte (Zeit) |
Prozeßcharakter der gesellschaftlichen Entwicklung, Veränderbarkeit der Gesellschaft durch Selbst- u. Mitbestimmung | Stufen der historischen Entwicklung Veränderbarkeit von Arbeit u. Herrschaft (sozialer Wandel) "Ziel" u. Theorien der Geschichte |
Erschließung von Quellen, Quellenkritik/Chronologie Stufen/Epochenmerkmale |
politische ökonomische soziale und soziologische geographische |
Politische Bildung (Herrschaft) |
Selbst- u. Mitbestimmung bezogen auf das Demokratiegebot, Fähigkeit zum aktivem pol. Handeln | inner- u. intergesellschaftl. Konflikte, Institutionen-"Kunde" Funktion des Rechts verschieden. Herrschaftsformen | Handlungs- und Aktionswissen, Analyse von Gesetzen und anderen politischen Quellen | politökonomische historische geographische soziale u. soziologische |
Sozialisation / Soziologie Gesellschaft / Interaktion |
Erkenntnis des primären Erfahrungsfeldes Struktur und Wandel der Gesellschaft, gesellsch. Totalität, Identitätsbildung | primäre Sozialerfahrungen, Erfahrungsdefizite gesellschaftl. Strukturen und Konflikte | Methoden der empirischen Sozialforschung Theorien der Gesellschaft |
politische historische politökonomische (geographische) (psychologische) |
[/S. 166:] Die behandelten Richtlinien haben Integrationsansätze unterschiedlicher Signifikanz. Die weitestgehende Integration des sozialwissenschaftlichen Lernbereichs ist im Rahmenlehrplan G/P der Gesamtschule in NW zu finden, bzw. in den hessischen Rahmenrichtlinien. Der Integrationsanspruch dieser Richtlinien leitet sich aus dem obersten Lernziel der Selbst- und Mitbestimmung im Sinne des Demokratiegebots des Grundgesetzes ab. Daraus folgt der Anspruch, den Schülern die gesamtgesellschaftliche Realität vermitteln zu wollen, die in den Lernfeldern für die Schüler sinnvoll strukturiert wird. Die beteiligten Fachwissenschaften, die auch bisher im Unterricht nicht berücksichtigte Disziplinen umfassen, haben sich in Ihren Beiträgen dem Ziel der Richtlinien unterzuordnen und zur Vermittlung der Erkenntniszusammenhänge mit ihren fachspezifischen Erkenntnissen und Methoden beizutragen. Die gegen die Richtlinien vorgebrachten grundlegenden Einwände sind widerlegt worden, so daß ihr Integrationsanspruch als wissenschaftlich und didaktisch haltbar angesehen werden kann. Die Integrationansätze der beiden hier behandelten Lehrpläne sind nicht so ausgeprägt, u.a. weil sie in ihren Zielforderungen nicht so weit gehen und nicht auf der gleichen gesellschaftlichen Analyse beruhen wie die Rahmenrichtlinien und der Rahmenlehrplan. (17)
So weit wie die empirisch nicht abgesicherten Erfahrungen Schlußfolgerungen zulassen, war und ist die Praxis des integrierten Lernbereichs Gesellschaft/Politik in den Gesamtschulen praktikabel, in den Augen der Lehrer und der Gesamtschulbeobachter erfolgreich, effizient im Sinne einer stärkeren Politisierung der Schüler und dem traditionellen Unterricht überlegen. Belege dafür finden sich in den positiven Stellungnahmen der Gesamtschullehrer für diesen Lernbereich und den Rahmenlehrplan, und sie dokumentieren sich in der Fülle der von den Gesamtschulen entwickelten integrierten Unterrichtseinheiten.