Die Konsequenzen aus der Überprüfung des bisher gesagten können nur lauten:

Fächerintegration im sozialwissenschaftlichen Lernbereich.

Zur Überwindung bzw. zur Verhinderung der Atomisierung des Unterrichts und damit der Bewußtseinsprozesse bei Schülern ist der "ideologische" Bereich des Unterrichts (die sozialwissenschaftlichen Fächer) so zu organisieren, daß das Lernziel der Selbst- und Mitbestimmung realisierbar ist. Die Schüler sollen die gesellschaftlichen Grundstrukturen erkennen, ihre eigene Identität finden und durch eine affektive Betroffenheit zu politisch aktiven, solidarisch handelnden Bürgern im Sinne dieses Lernziels motiviert werden. Das kann aber nicht intentional geschehen durch einen atomisierten, an Fachsystematiken festgemachten Unterricht.

Eine Alternative bietet der integrierte sozialwissenschaftliche Unterricht, wie er mit den Rahmenrichtlinien bzw. dem Rahmenlehrplan konzipiert worden ist. Die Anlehnung an den Rahmenlehrplan ist eine grundsätzliche Entscheidung für das oberste Lernziel, für einen integrierten Unterricht und die ihm korrespondierende Projektmethode. Aus der Aufarbeitung der didaktischen Modelle, der Lehrpläne und der unterrichtlichen Praxis haben sich allerdings einige Korrekturen und Erweiterungen ergeben, die es zu berücksichtigen gilt.

[/S. 167:] Die kritischen Einwände gegen die beiden Lehrpläne richteten sich zum einen auf formale Mängel, die ohne große Schwierigkeiten zu beheben sind. Kritisiert wurde besonders die unüberschaubare Länge des Lehrplans, seine Unübersichtlichkeit, die Disharmonie zwischen den Arbeitsschwerpunkten und den Arbeitsbereichen und die soziologisch überfrachtete Sprache.

Durch die Herausnahme der fachspezifischen Arbeitsschwerpunkte - sie hatten überwiegend taktischen Charakter, um die fachspezifischen Einwände aufzufangen (18), durch den Verzicht auf die Teile über Unterrichtsorganisation und die Materialhinweise, die unsystematisch und unvollständig den Lehrplan mehr belastet haben als das sie für den Lehrer eine Hilfe waren, sind diese Mängel zu beheben. Die beiden letzten Punkte könnten in gesonderten, für die Lehrer viel ergiebigeren Materialteilen aufgezogen werden, wie es z.B. in NW durch eine Materialkartei in Anlehnung an die Themenstichworte geschehen ist. Die Unterrichtsorganisation könnte an Unterrichtsbeispielen ebenfalls gesondert exemplifiziert werden.(19)

Der Vorwurf der mangelnden Übersichtlichkeit ist in NW durch die "Übersicht über die Jahrgänge" behoben worden. (20) Der mangelnde Bezug zu fachwissenschaftlichen Methoden, Fähigkeiten und Fertigkeiten Ist in NW ebenfalls durch das Programm der Intensivkurse angegangen und abgebaut worden. (21) Im Lehrplan würde der konkrete Verweis auf die Intensivkurse in Form von Stichworten wie "Luftbild", "Gebrauch der Kartenlegende" usw. genügen. Die soziologisch überfremdete Sprache müßte da, wo es ohne Schaden für den Sinn des Lehrplans geht, bereinigt werden. Das trifft ebenfalls zu auf den Mangel an geographischen Lernzielen und Themenstichworten. (22) Die formalen Mängel sind also z.T. schon behoben worden und dürften bei einer nochmaligen Überarbeitung zu lösen sein.

In einem weiteren Punkt ist der fehlende Begründungszusammenhang für die Lernfelder bzw. die Arbeitsbereiche anzugehen, weil sonst die Frage im Raum bleibt, warum diese Lernfelder und keine anderen. Ebenso ist ihre Zahl "vier" kritisch zu überprüfen, besonders unter dem Aspekt, daß die tragenden Fächer des sozialwissenschaftlichen Lernbereichs, die Geographie und die Geschichte, als Lernfelder nicht mehr direkt im Lehrplan zum Zuge kommen. Sie sind zwar,- wie belegt worden -, immanent In allen vier Lernfeldern, in den Lernzielzusammenhängen, in den Lernzielen und den Themenstichworten vertreten, sie laufen aber trotzdem Gefahr, in ihrem fachspezifischen Wert im Lehrplan und damit in der Praxis zu kurz zu kommen. Das Problem ist deshalb vorrangig zu lösen. Im Gesamtschulversuch in NW ist aus diesem Grunde, um den historischen Aspekt stärker zu berücksichtigen, eine historisch-chronologische Unterrichtsreihe entwickelt worden mit dem Titel "Arbeit und Herrschaft", um für jede historische Epoche/Stufe in komprimierter Form ihre charakteristischen Merkmale aufzugreifen und zu vermitteln. (23)

Gewissermaßen exemplarisch sollten, beginnend mit der Urgesellschaft über die Antike, den Feudalismus, den Frühkapitalismus, den Kapitalismus, den Imperialismus bis hin zur Gegenwart und Zukunft, die gesamtgesellschaftlichen Strukturmerkmale von Arbeit und Herrschaft politökonomisch aufgearbeitet werden. Das wäre sicher eine Ergänzung im Interesse des Faches Geschichte unter gleichzeitiger Berücksichtigung des obersten Lernziels. Analog dazu wäre für die Geographie zu verfahren. Indem die Grunddaseinsfunktionen aufgegriffen werden, um sie an einzelnen Beispielen als die Grundkategorien der Geographie zu demonstrieren.

[/S. 168:] Die beiden Fächer sollten als neue Lernfelder V und VI die bisherigen vier Lernfelder ergänzen, aber natürlich genauso wenig abschottet und isoliert verstanden werden wie die anderen Lernfelder. Wie in der Reihe "Arbeit und Herrschaft" und von der Zielsetzung des Lehrplans angelegt, müßten Unterrichtseinheiten die für das jeweilige Verständnis notwendigen Disziplinen in die Planung mit einbeziehen. (24) Damit würde der gesamte Lernbereich Gesellschaft aus insgesamt sechs interdependenten aber strukturierenden Lernfeldern bestehen, die ihre Berechtigung aus dem Lernbereich Sozialwissenschaften, aus dem obersten Lernziel, den Fachdidaktiken und den Fachwissenschaften ableiten. Aus dieser umfassenden Begründung ist der Lernbereich nur noch z.T. identisch mit den fachdidaktischen Modellen.

Das Lernfeld I Sozialisation erhält seine Begründung aus der Aufarbeitung der unmittelbaren Erfahrung der Schüler. Aktive Teilnahme an Lernprozessen lassen sich am ehesten aus der eigenen Erfahrung angehen, wie sie im Sozialisationsprozeß besonders der Familie, der Schule, dem Stadtteil und dem Spiel (+ Erfahrungsdefiziten der Kinder) möglich sind. Die drei Formen der Erfahrungsdimension wie sie B. Schaeffer darstellt, wären zu berücksichtigen:

  1. Kompensation subjektiver Erfahrungsdefizite;
  2. Rekonstruktion objektiver Erfahrungszusammenhänge über
    1. Gegenstände
    2. Individuen,
    3. Organisationsformen;
  3. Produktion kollektiver Erfahrungsperspektiven. (25)

Das Lernfeld II Arbeit / Wirtschaft ergibt sich aus dem ursprünglichen - durch die Trennung von Familie und Produktion verloren gegangenen - primären Erfahrungsfeld der Kinder, die früher mit der Arbeit der Eltern direkt in Berührung kamen und mit ihr aufwuchsen - und dem späteren Erfahrungsfeld der Schüler als zukünftige Lohnabhängige. Die praktische Begabung vieler Schüler, die zentrale Stellung der Arbeit im menschlichen Leben, die defizitäre Einschätzung gerade der produktiven Arbeit in der gegenwärtigen Gesellschaft lassen es sinnvoll (26) erscheinen, den Bereich der Arbeit und Wirtschaft aus der direkten Erfahrung, also polytechnisch aufzugreifen, um ihre Dimension, ihre Struktur und ihrer Veränderbarkeit richtig einschätzen zu können. Zu vermitteln ist die zentrale Kategorie von Kapital und Arbeit und die damit zusammenhängenden Konflikte, ihre Ursachen und Lösungsalternativen.

Das Lernfeld III Öffentliche Aufgaben ergibt sich aus dem politischen Handlungsraum, dem Staat, den Institutionen, in denen sich auch das Leben der Schüler schon vollzieht. Zentrale Kategorie ist der Konflikt, der von den Schülern ebenfalls (in Ansätzen auch durch eigene Aktionen) in der Schule und darüber hinaus erfahren und aufgearbeitet werden kann.

Das Lernfeld IV Internationale Konflikte und Friedenssicherung bezieht seine Begründung aus der weltweiten Verflochtenheit der Gesellschaften und Staaten und der Verantwortlichkeit für die Menschen über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Eine menschenwürdige Gesellschaft ist letztlich eine alle Menschen umfassende Weltgesellschaft.

Das Lernfeld V Zeit erfährt seine Begründung aus dem historischen Charakter aller gesellschaftlichen Erscheinungsformen. Sie ist zwar immanent in den anderen Lernfeldern enthalten, sollte aber mit bewußt herausgehobenen historischen Be[/S. 169:]zügen erweitert werden, um aus der Aufarbeitung der historischen Erfahrung die Veränderbarkeit der Gesellschaft und Natur durch die Arbeit und die eigene historische Identität intensiver zu erkennen und um handlungsfähige Kompetenz zu erlangen.

Das Lernfeld VI Raum ist aus der Dimension abgeleitet, in der sich das gesellschaftliche Leben bewegt: dem Raum. Es geht um die Vermittlung der Grunddaseinsfunktionen, die raumrelevant sind; sich fortpflanzen, arbeiten, wohnen, sich versorgen und konsumieren, sich erholen und sich bilden. Verkehrsteilnahme.

Weitere Lernfelder könnten möglich sein, sind aber wegen der Gefahr der Zersplitterung nicht sinnvoll. Die Beiträge weiterer Fachdisziplinen bei bestimmten Themenstichworten sind auch ohne eigene Lernfelder zu berücksichtigen. Grundlegendes Prinzip bei den Lernfeldern ist ihre Hilfsfunktion zur Erfassung gesellschaftlich relevanter Themen, die jedoch in fast allen Fällen in mehrere Lernfelder hineinreichen, aber schwerpunktmäßig von einem ausgehen sollen. Das Schema "Übersicht über die Jahrgänge" (s. Seite 170) veranschaulicht die erweiterten Lernfelder. (27)

Der Zielsetzung eines solchen Curriculummodells und seinem Integrationsansatz korrespondiert In weiten Teilen die Projektmethode, deren Merkmale kurz skizziert werden sollen:

  • "die Beteiligung von Lehrern und Schülern an der Planung und Durchführung des Unterrichts,
  • die gemeinsame Findung des Themas und der Lernziele,
  • die Überwindung der Fächergrenzen und
  • die Handlungsrelevanz des Themas." (28)

Die zentralen Merkmale dieser Methode ziehen eine Fülle von Schwierigkeiten für ihre unterrichtliche Anwendung nach sich. So bereitet ein an Lernzielen festgemachter Unterricht enorme Probleme, die Schüler "echt" an der Planung zu beteiligen, denn die Ziele sind ja Vorgaben, die nicht so ohne weiteres geändert werden können. In letzter Konsequenz müßte die Mitbestimmung allerdings bis hin zu den Lernzielen gehen. Weitere Schwierigkeiten sind von der Schulaufsicht und den Eltern zu befürchten, wenn der Unterricht nicht mehr in den gewohnten und durch Richtlinien gesicherten Bahnen verläuft. Es mag sein, daß der Nebenfachcharakter die Proteste zurückhält, solange nicht auch noch politisch "Anrüchiges" in den Projekten erarbeitet wird. (29)

Der andere Punkt in der Praxis, der problematisch zu sein scheint, ist die Handlungsrelevanz des Themas. Sie birgt für einen Lehrer zusätzliche Belastungen und Risiken, mit dem Unterricht über den Klassenraum hinauszugehen. Nur werden es ihm die Schüler danken, denen damit der Sinn von Schule wieder erschlossen werden könnte, besonders in den oberen Jahrgängen. (30) Die Vorteile der Projektmethode für den integrierten Unterricht sind ohne weiteres einsichtig: Zum einen wird das Lernziel der Selbst- und Mitbestimmung im Lernprozeß, also der schulischen Sozialisation, ernst genommen und zum ändern ist die Fächerintegration von der Methode ebenfalls eingeschlossen, wenn es das Thema erfordert. Sie bereitet die Chance, den Ernstcharakter des Lernziels und des Lernprozesses zurückzugewinnen und damit die Chance, die Vermittlung von Erkenntniszusammenhängen in den Mittelpunkt zu rücken. [/S. 170:]

 
Lernfelder

Jg.
I
Sozialisation
II
Arbeit/Wirtschaft
III
öffentliche Aufgaben
IV
Internationale Konflikte
V
Zeit
VI
Raum
5/6 wie bisher im RLP
und Erfahrungsdefizite
wie bisher im RLP
mehr polytechnische Bildung
wie bisher im RLP wie bisher im RLP Urgesellschaft
Antike
Sich fortpflanzen und in Gemeinschaft leben
Wohnen
7/8 wie bisher im RLP
und Erfahrungsdefizite
wie bisher im RLP
mehr polytechnische Bildung
wie bisher im RLP wie bisher im RLP Feudalismus
Frühkapitalismus
Kapitalismus
Arbeiten
sich versorgen
und konsumieren
9/10 wie bisher im RLP
und Erfahrungsdefizite
wie bisher im RLP
mehr polytechnische Bildung
wie bisher im RLP wie bisher im RLP Imperialismus
Gegenwart
Alternative Modelle
sich bilden
sich erholen
Verkehrsteilnahme

[/S. 171:] Die groben Strukturen des Lehrplans würden zusammengefaßt wie folgt aussehen (31):

  1. Bestimmung und Begründung des obersten Lernziels
  2. Ableitung und Begründung der sechs Lernfelder
  3. Übersicht über die Lernfelder
  4. Darstellung der jeweiligen sechs Lernfelder und ihrer
    • Lernzielzusammenhänge
    • Teillernziele
    • Themenstichworte
    • Fähigkeiten und Fertigkeiten auch fachspezifisch in Form von Verweisen auf
    • Intensivkurse