Wirtschaftskompetenz in Österreich: Fakten statt Ideologie – Replik auf den Agenda Austria-Beitrag „Verbotenes Wissen“
In dieser Replik wird die von Agenda Austria vertretene These, wonach das Wirtschafts- und Finanzwissen in Österreich gering sei, auf Basis internationaler Vergleichsstudien empirisch widerlegt. Zudem werden Finanzierung, programmatische Zielsetzungen und Vorgehensweise des wirtschaftsliberalen Think Tanks offengelegt. Analysiert wird, wie durch rhetorische Zuspitzungen, selektive Datennutzung, pauschale Diskreditierungen und die Verengung des Bildungszugangs ein stark verzerrtes Bild wirtschaftlicher Bildung in Österreich erzeugt wird. Ideologisch motivierte Pauschalurteile werden dabei ausdrücklich zurückgewiesen. Stattdessen wird für die Weiterentwicklung einer wissenschaftlich fundierten, schüler*innenorientierten sowie plural und integrativ angelegten Wirtschaftsbildung plädiert, wie sie im Integrationsfach Geographie und wirtschaftliche Bildung gewährleistet und kontinuierlich vorangetrieben wird.
1. Ausgangslage: Österreich schneidet international gut ab
Entgegen der alarmistischen Darstellung im Agenda Austria-Beitrag „Verbotenes Wissen“ (Treml et al. 2025) zeigen aktuelle internationale Vergleichsstudien, dass Österreichs Jugendliche und Erwachsene hohe Finanzkompetenzen besitzen:
- PISA-Test Financial Literacy 2022: Österreichs Jugendliche erreichen im internationalen Vergleich statistisch signifikant höhere Werte als der OECD-Durchschnitt (OECD 2024).
- International Survey of Adult Financial Literacy 2023: Österreich belegt nach Deutschland Platz 2 bei Finanzwissen und finanziellem Wohlbefinden (Voith & Zieser 2024).
- Global Financial Literacy Survey: Mit Platz 21 von 142 Staaten liegt Österreich auch im weltweiten Vergleich im obersten Sechstel (Klapper et al. 2015).
Diese empirischen Befunde zeigen klar: Das von der Agenda Austria gezeichnete Bild, Österreichs (junge) Menschen wüssten wenig über Wirtschaft und Finanzen, ist völlig haltlos und durch internationale Studien widerlegt.
2. Geldquellen und Programm des wirtschaftsliberalen Think Tanks Agenda Austria
Wer bezahlt die Agenda Austria? Banken, Privatstiftungen, Konzerne, Holdings …
Gefordert werden von der Agenda Austria unter anderem die Einführung einer Flat-Tax und eine spürbare Entlastung hoher Einkommen, ein umfassender Abbau von Förderungen und Subventionen, die Anhebung des Pensionsantrittsalters sowie Pensionserhöhungen unter der Inflationsrate (Kluge et al. 2025; Schellhorn 2025a). Ergänzend propagiert Agenda Austria die stärkere monetäre Belastung privater Haushalte als Beitrag zur Bewältigung ökonomischer Probleme (Kluge & Lorenz 2025).
In den Veröffentlichungen der Agenda Austria wird die jahrzehntelange erfolgreiche Sozialpartnerschaft – bestehend aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen – als Mitverursacher ökonomischer Fehlentwicklungen sowie Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer als „Teuerungsgewinner“ kritisiert (Agenda Austria 2023 und 2025). Parallel dazu finden sich in den Texten negative Urteile über die aktuelle Regierungspolitik und die Geldpolitik der EZB (vgl. Kluge 2025; Sustala 2019).
Was Schüler*innen laut Agenda Austria aber auf jeden Fall wissen sollten: „Sie sollten wissen, dass Armut der Naturzustand des Menschen ist und Wohlstand erst geschaffen werden muss“ (Schellhorn 2025b, S. 34).
3. Rhetorik statt Analyse: das Framing der „unterdrückten“ Wirtschaftsbildung
Agenda Austria konstruiert in ihrem Beitrag eine dramatische Erzählung: Wirtschaftsunterricht sei in Österreich „verbotenes Wissen“ – ein von linken Pädagog:innen bewusst vernachlässigtes Fachgebiet. Diese Rhetorik bedient ein kulturkämpferisches Narrativ, das Bildungspolitik als ideologisches Machtspiel interpretiert.
Die Realität ist nüchterner. Das Unterrichtsfach „Geographie und wirtschaftliche Bildung“ (GWB) verfolgt seit vielen Jahren explizit das Bildungsziel, gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und politische Zusammenhänge integrativ, plural und schüler*innennah zu vermitteln (siehe zuletzt den Lehrplan für die Sekundarstufe I, BMBWF 2023). Dies geschieht in sozialwissenschaftlicher Tradition (Hedtke 2015). Im Zentrum stehen die Menschen und ihre gegenwärtigen sowie zukünftigen Herausforderungen – nicht nur individuell gedacht, sondern immer auch gesellschaftlich eingebettet. Wirtschaftliche Handlungen stehen immer auch in einem gesellschaftlichen Verhältnis. Es geht um das Einordnen wirtschaftlicher Prozesse in soziale, politische und ökologische Zusammenhänge – also um ökonomische Urteilsfähigkeit, nicht um wirtschaftsliberale Indoktrination. Siehe dazu auch die frei verfügbaren qualitätsgesicherten Unterrichtsbeispiele unter https://insert.schule.at/unterrichtsbeispiele.
Auch die Behauptung der Agenda, es existiere ein ideologisch gesteuertes Lehrwesen, ist empirisch nicht haltbar. Ein Beitrag von Fridrich (2018) – auf die sich Agenda Austria ironischerweise selbst bezieht – betont gerade die Komplexität ökonomischer Bildung und warnt vor deren Reduktion auf unkritische und verengte ökonomistische Modelle.
4. Selektive und fragwürdige Datennutzung
Es wird deutlich, dass Agenda Austria offenbar keine Schulbuchanalyse durchgeführt hat, sonst wären Forschungsfragen, Stichprobenziehung, methodisches Design, Analysekriterien etc. angeführt gewesen. Sie war offenkundig auf der Suche nach der „ideologisch stark gefärbte[n] Aufbereitung“ (Treml et al. 2025, S. 6).
Was dürfen Schulbücher und deren Autor*innen darstellen? Dürfen sie angesichts der aktuell rund 50 Millionen in Sklaverei gehaltenen Menschen (UNO 2024) das Fallbeispiel eines betroffenen Jugendlichen bringen? Dürfen sie Vor- und Nachteile zum Beispiel von multinationalen Konzernen sowie von Globalisierung erarbeiten? Dürfen sie – während jährlich Millionen Menschen verhungern (FAO 2025) – ein Interview zum Thema Hunger und Verhungern mit dem langjährigen UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, aufgreifen?
Ja, Schulbuchautor*innen dürfen das alles u.v.m. nicht nur darstellen, sondern sie müssen es sogar – im Sinne der Ausgewogenheit und des Kontroversitätsgebotes. All das passt der Agenda Austria aber gar nicht. Sie diskreditiert diese Darstellungen als „Klassenkampf“, im „strammen linksideologischen Kontext“, „Verschwörungstheorien“, „tendenziös“ etc. (Treml et al. 2025, S. 6, 8, 9, 10, 13).
5. Pauschale Diskreditierung der Lehrkräfte
Diese Art der Polemik erinnert weniger an Bildungsforschung als an politische Propaganda. Besonders problematisch ist die diffamierende Darstellung der Lehrenden an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. Ihnen wird kollektiv unterstellt, sie würden „inhaltslose und ideologische Systemkritik“ (ebd., S. 5) vorbringen. Das ist erstens völlig haltlos und zweitens scharf zurückzuweisen.
Ferner würde das Integrationsfach Geographie und wirtschaftliche Bildung „Kindern nicht einmal die notwendigsten Basics“ vermitteln (ebd., S. 2). Auch dies wurde weder durch empirische Studien belegt, noch entspricht es der Realität.
Diese und andere Punkte wurden auch von der österreichischen Bundesarbeitsgemeinschaft der AHS-(Gymnasial-)Lehrer*innen kritisiert und widerlegt (Hitz und Hofmann 2025). Das Integrationsfach leistet vielmehr einen systematischen, wissenschaftlich fundierten Aufbau von ökonomischen Konzepten, Modellen und Kompetenzen (siehe die Lehrpläne: BMBWF 2023).
6. Instrumentelles Bildungsverständnis
Das Papier reduziert Wirtschaftsbildung auf das Vermitteln marktwirtschaftlicher Funktionsmechanismen und das Einüben individuellen Finanzverhaltens. Damit wird Bildung ökonomisch funktionalisiert – als Mittel zur Anpassung an wirtschaftsliberale Denkmuster. Ähnliche Bestrebungen und Kampagnen sind auch für Deutschland sehr gut dokumentiert (Engartner und Engartner 2022). Anpassung statt Aufklärung darf jedoch kein Bildungsziel sein (Hedtke 2018).
Moderne sozialwissenschaftliche Bildung verfolgt jedoch ein anderes Ziel: kritisch-reflexive ökonomische Urteilskompetenz. Schüler*innen sollen anhand mehrperspektivisch angelegter Wissensbestände ökonomische, soziale und ökologische Dimensionen von Wirtschaft verstehen, ihre Zielkonflikte analysieren und eigene Positionen begründet vertreten können.
Die von Agenda Austria geforderte ideologiefreie Wirtschaftsbildung ist in Wahrheit ein normatives Projekt: Sie privilegiert eine spezifische Weltanschauung – den neoliberalen Marktoptimismus – und diskreditiert alle Alternativen als linke Systemkritik.
Die Herausforderungen liegen in der didaktischen Integration ökonomischer, sozialer, politischer und ökologischer Perspektiven – also nicht in der Abschaffung, sondern in der konstruktiven, zukunftsfähigen Weiterentwicklung des bestehenden Integrationsfaches. Wer „Wirtschaft“ nur als Markt und nicht als gesellschaftliche Praxis begreift, verkennt nämlich die Essenz wirtschaftlicher Bildung.
7. Anstelle eines Resümees
Ähnliche Kritikpunkte an diesem Papier der Agenda Austria werden nicht nur seitens Vertreter*innen des Unterrichtsfachs Geographie und wirtschaftliche Bildung angeführt, sondern z. B. auch von einem Redakteur der Tageszeitung Der Standard: „Überhaupt orten die Autoren des Thinktanks eine ‚ideologisch stark gefärbte Aufbereitung von Themen‘, eine Ortung, zu der sie besonders befähigt sind, weil ihnen selbst jegliche ideologisch stark gefärbte Aufbereitung von Themen völlig fremd ist, wie man gelegentlichen Äußerungen besagter Tanks in den Medien entnehmen kann […]“ (Traxler 2025).
Prof. Dr. habil. Christian Fridrich ist Vorsitzender der österreichweiten Fachgruppe Geographische und Sozioökonomische Bildung (GESÖB).
Literatur
Agenda Austria (2023): Die Kammern als große Teuerungsgewinner. Wien: Agenda Austria. https://www.agenda-austria.at/grafiken/die-kammern-als-grosse-teuerungsgewinner/?utm_source=chatgpt.com
Agenda Austria (2025): Die Renaissance der Sozialpartner. Wien: Agenda Austria. https://www.instagram.com/p/DHv4OoHs4gJ/
BMBWF – Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (2023): Lehrplan der Allgemeinbildenden Höheren Schule. Geographie und wirtschaftliche Bildung. BGBl. II – Ausgegeben am 2. Jänner 2023 – Nr. 1. https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblAuth/BGBLA_2023_II_1/Anlagen_0012_E1BFECE6_7E8B_4ACF_AEFD_3EC871222138.pdfsig
Engartner, Ch., Engartner, T. (2022): Stärker im Verbund. Zum Verhältnis von politischer und ökonomischer Bildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 72(48). S. 41-45.
FAO (2025): The State of Food Security and Nutrition in the World 2025. Addressing high food price inflation for food security and nutrition. Rom: FAO, IFAD, UNICEF, WFP, WHO. https://openknowledge.fao.org/items/ea9cebff-306c-49b7-8865-2aef3bfd25e2
Fridrich, Ch. (2018): Österreichische Wirtschaftswissenstests auf dem Prüfstand – oder: Täglich grüßt das Murmeltier. In: sowi-online blogs, https://www.sowi-online.de/blog/%C3%B6sterreichische_wirtschaftswissenstests_auf_dem_pr%C3%BCfstand_%E2%80%93_oder_t%C3%A4glich_gr%C3%BC%C3%9Ft_murmeltier.html
Hedtke, R. (2015): Sozioökonomische Bildung als Innovation durch Tradition. In: GW-Unterricht 140(4), S. 18–38 https://www.gw-unterricht.at/images/pdf/gwu_140_18_38_hedtke.pdf
Hedtke, R. (2018): Anpassen oder aufklären? Finanzerziehung und sozioökonomische Bildung. In: GW-Unterricht 152. S. 14–30. doi: 10.1553/gw-unterricht152s14
Hitz, H., Hofmann, P. (2025): Gegendarstellung zur Publikation „Verbotenes Wissen“ (Agenda Austria, 25.09.2025). Linz: Bundesarbeitsgemeinschaft der Lehrer:innen für Geographie und wirtschaftliche Bildung an AHS. https://bundesarge.gwb.at/gegendarstellung-zur-publikation-verbotenes-wissen/
Klapper, L., Lusardi, A., Oudheusden, P. v. (2015): Financial Literacy Around the World. Insights from the Standard & Poor’s Ratings Services Global Financial Literacy Survey. https://responsiblefinanceforum.org/wp-content/uploads/2015/12/2015-Finlit_paper_17_F3_SINGLES.pdf
Kluge, J. (2025): Die Regierung plant etwas. Rette sich, wer kann! Wien: Agenda Austria. https://www.agenda-austria.at/industriestrategie-rette-sich-wer-kann/
Kluge, J., Lorenz, H. (2025): Lohnverhandlungen: Wie Österreich zum kranken Mann Europas wurde. Wien: Agenda Austria. https://www.agenda-austria.at/publikationen/lohnverhandlungen-wie-oesterreich-zum-kranken-mann-europas-wurde/?utm_source=chatgpt.com
Kluge, J., Lorenz, H., Kucsera, D. (2025): Wir. Streichen. Alles. Eine Anleitung zum radikalen Förderstopp. Wien: Agenda Austria. https://www.agenda-austria.at/publikationen/foerderungen-streichen/
OECD (2024): PISA 2022 Results (Volume IV): How Financially Smart Are Students? Paris: PISA, OECD Publishing. https://www.oecd.org/content/dam/oecd/en/publications/reports/2024/06/pisa-2022-results-volume-iv_125a58b3/5a849c2a-en.pdf
Schellhorn, F. (2025a): Das österreichische Pensionssystem und sein schmutziges Geheimnis. Wien: Agenda Austria. https://www.agenda-austria.at/das-oesterreichische-pensionssystem-und-sein-schmutziges-geheimnis/?utm_source=chatgpt.com
Schellhorn, F. (2025b): Wirtschaftsunterricht: Wie Ideologie den Weg ins Klassenzimmer findet. In: Die Presse vom 11.10.2025, S. 34.
Sustala, L. (2019): Negativzinsen: Eine Premiere in 5.000 Jahre Zinsgeschichte. Wien: Agenda Austria. https://www.agenda-austria.at/publikationen/armsparen-mit-der-ezb/negativzinsen-eine-premiere-in-5-000-jahren-zinsgeschichte/
Traxler, G. (2025): Nur kein Klassenkampf! – Schulbücher und Kickl im „Blattsalat“. Agenda Austria sieht in Schulbüchern viele „grob falsche Darstellungen“ und „ein besonders kritisches Bild der Marktwirtschaft“. In: Der Standard vom 27.09.2025 https://www.derstandard.at/story/3000000289554/nur-kein-klassenkampf-schulbuecher-und-kickl-im-blattsalat
Treml, C., Lorenz, H., Schelling, H. (2025): Verbotenes Wissen. Warum Österreichs Schüler so wenig über Wirtschaft wissen. Und warum das nicht gut ist. Wien: Agenda Austria. https://www.agenda-austria.at/publikationen/wirtschaftsbildung-verbotenes-wissen/
UNO (2024): Modern slavery is on the rise. New York: UNO. https://www.un.org/en/observances/slavery-abolition-day
Voith, V., Zieser, M. (2024): OeNB Report 2024/13: International Survey of Adult Financial Literacy 2023: first results for Austria. Wien: OeNB. https://www.oenb.at/Publikationen/Volkswirtschaft/reports/2024/report-2024-13-financial-literacy-asfl/html-version.html