Sozialwissenschaftliche Integration am Beispiel der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
Einst forderte der Hessische Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz die Bewegung von Fridays for Future (FFF) dazu auf, die Proteste auszusetzen und wieder dem Regelunterricht in gewohnter Manier beizuwohnen. Ferner damit verbunden war die Bitte an Lehrkräfte, die Proteste in den Klassenräumen zu thematisieren (vgl. hierzu Otto, 2019 LINK https://www.zeit.de/2019/29/klimastreiks-schueler-schule-abitur). Hierbei handelt es sich um einen sinnvollen und dazu nett gemeinten Vorschlag, eine Nachhaltigkeitsdidaktik im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) im schulischen Unterricht zu implementieren. Ungelöst bleibt weiterhin die Frage, welches Fach sich am besten eigne. Wir sollten den Anhaltspunkt von FFF, weltweite Aufmerksamkeit auf eine historische Herausforderung für die Menschheitsgeschichte zu sorgen, zum Anlass nehmen, diese Frage genauer zu beleuchten.
Greta Thunberg – so wurde behauptet – „schwänze die Schule“, um das Klima zu retten. Ob es sich um Schule schwänzen, selbst im rechtlichen Sinne handelt, sei zuvorderst in Frage gestellt (vgl. das Unterrichtsmaterial zu Greta Thunberg und eben jener Frage im Kontext zum Thema Personalities: Nijhawan, 2022). Es ist ebenso debattierbar, ob ihr Ansatz des zivilen Ungehorsams legitim und effizient ist. Der Diskurs um Klimamigration gewinnt seit Jahren an Bedeutung. Ist die Flucht vor Dürre, Wasserknappheit und Umweltverschmutzung ein legitimer Fluchtgrund, welcher explizit durch die etwas in die Jahre gekommene Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden sollte? Das ist eine politische Frage, welche einer holistischen sozioökonomischen Analyse bedarf. Die Bestandsaufnahme hinsichtlich Lebensbedingungen, verfügbarer Ressourcen, Handlungsoptionen bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur. Entsprechend war der Ansatz des inzwischen erfolgreich abgewickelten PolECulE-Projektes der Goethe-Universität (www.polecule.com) gestrickt, eben nicht nur jene logische sozialwissenschaftliche Integration (vgl. www.sowi-online.de/blog/integration_statt_separation.html) als DNA des Projektes fest zu verankern, sondern das Leitbild dahingehend zu erweitern, ebenfalls kulturelle Fragen zu integrieren. Dass Kultur und Sprache fest miteinander verwoben sind und teils sogar synonym gebraucht werden („language is culture“), ist hinreichend bekannt (Kramsch, 1998).
Eben jene Klimakrise lässt sich nur im Diskurs zwischen den sozialwissenschaftlichen Fachwissenschaften sachlich, offen und kontrovers behandeln. Im weiteren Sinne hat sich FFF inzwischen zu einer gesellschaftlichen und transnationalen Reformbewegung gewandelt, welche weitaus ‚mehr als nur das Klimaretten‘ will (vgl. Nijhawan, 2021). Das bedeutet, es handelt sich um einen Ansatz für mehr Nachhaltigkeit im 21. Jahrhundert. Bildungspolitisch wird dies mit Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) auf Grundlage der Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der Vereinten Nationen umschrieben, wenngleich FFFs Ziele noch als weitaus ehrgeiziger anzusehen sind, zumal sich der Protest im intersektionalen Dreieck „race – class – gender“ bewegt. Hierfür ist neben dem logischerweise erforderlichen naturwissenschaftlichen Verständnisses hinsichtlich ‚harter Klimafakten‘ auch eine humanistische Erweiterung unverzichtbar. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass FFF ein Exempel für Glokalität und damit Mehrsprachigkeit darstellt (Nijhawan, Elsner, & Engartner, 2021). Entsprechend ist eigentlich jedes Fach für das Klima verantwortlich, was sich an hiesigen Universitäten in der Zunahme von transdisziplinären Studiengängen, die z.B. als „Klimawissenschaften“ bezeichnet werden, widerspiegelt.
Ein best practice-Beispiel wurde an der Goethe-Universität mit dem Projekt The Blue Planet (www.theblueplanetproject.de) ins Leben gerufen. Die Didaktiken der Sozialwissenschaften, der modernen Fremdsprachen (Englisch) sowie der Biologie kooperieren mit dem Ziel, die „Umwelt-SDGs 13-15“ (Maßnahmen zum Klimaschutz, Leben unter Wasser, Leben an Land) exemplarisch anhand des Artenschutzes als einen Baustein einer umfassenden BNE zu didaktisieren. Es handelt sich damit nicht nur um Interdisziplinarität und Integration, sondern um einen transdisziplinären Ansatz und ‚Hybridisierung‘, welcher ohne bereits vorher integrierte Fächer als ersten Schritt nicht möglich wäre.
Wer Greta Thunberg beobachtet, erkennt eben jenen Ansatz in ihrem Protest. Dieser befasst sich nicht nur mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten. Sie nimmt auch mehrsprachig, in Schwedisch und Englisch, selbst am Diskurs teil. Und die Partizipation der Teilnehmenden und Sympathisant*innen findet natürlich ‚ausgesprochen vielsprachig‘ statt. Dies lässt sich ebenfalls in dem Bemühen der Administration, vermehrt auch mehrsprachige Konzepte in den Schulen hinsichtlich einer ressourcenorientierten Teilhabe zu implementieren, höchstoffiziell belegen.
Kramsch, C. J. (1998). Language and Culture. Oxford: Oxford University Press.
Nijhawan, S. (2022). Young people going ahead – Greta Thunberg’s “skolstrejk för klimatet”. Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch. Heftthema “Personalities“, Leonhardt, J.E. & Viebrock, B. 2022(176).
Nijhawan, S. (2021). Dürfen Schüler*innen überwältigt werden, die welt zu retten? Kontroverse aspekte einer ‘nachhaltigkeitsdidaktik’. In J. Drerup, D. Yacek, & M. Zulaica y Mugica (Eds.), Dürfen lehrer ihre meinung sagen (pp. 228-240). Stuttgart: Kohlhammer.
Nijhawan, S., Elsner, D., & Engartner, T. (2021). The construction of cosmopolitan glocalities in secondary classrooms through Content and Language Integrated Learning (CLIL) in the social sciences. Global Education Review, 8(2-3), 92-115. Retrieved from https://ger.mercy.edu/index.php/ger/article/view/607
Otto, J. (2019). Sie werden weitermachen. Die Zeit, 2019(29), 57.