Der Mythos von der „Leistungsgesellschaft“: Ein (zu) seltenes Thema für den sozialwissenschaftlichen Unterricht
Immer mehr Menschen erkennen, dass die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs als eines der zentralen Versprechen der „alten“ Bundesrepublik – man denke an Ludwig Erhards 1957 propagierten „Wohlstand für alle“ – nicht mehr breitenwirksam eingelöst wird. Während man es bis in die "goldenen" 1970er Jahre durch Tat- und Schaffenskraft zu Wohlstand bringen konnte, um von der Miet- in die Eigentumswohnung zu ziehen, den VW Käfer durch einen Audi zu ersetzen oder den Urlaub auf den Balearen zu verbringen, ist der von Ulrich Beck Mitte der 1980er Jahre identifizierte „Fahrstuhl-Effekt“ inzwischen verpufft. Für viele ist der Fahrstuhl stecken geblieben. Universitäre Abschlüsse gewähren nicht mehr zwangsläufig Aufstieg, Sicherheit und Status. Viele Arbeitnehmer/innen profitieren nicht mehr von steigenden Gewinnen des Unternehmens, für das sie arbeiten. Statt der eigenen Leistung sind Erbschaften der entscheidende Faktor für individuellen Wohlstand. Während sich die hart arbeitende Mittelschicht in städtischen Ballungsräumen (also dort, wo sie Arbeit findet), kaum noch Wohnraum leisten kann, spekulieren die Superreichen über Immobiliengesellschaften mit eben diesem, um ihren eigenen Wohlstand zu mehren.
Warren Buffet, laut dem Wirtschaftmagazin Forbes drittreichster Mann der Welt, sieht in den allein über große Erbschaften zu Reichtum gelangten Personen die „glücklichen Gewinner der Spermienlotterie“, denen der gesellschaftliche Aufstieg durch leistungslos erworbenen Wohlstand in einer vermeintlichen „Leistungsgesellschaft“ geebnet wird. Tatsächlich ist das Leistungsprinzip für die Verteilung ökonomischer Ressourcen nicht mehr (allein) ausschlaggebend, d. h. Leistung lohnt sich nicht mehr zwingend. Wenn Ökonomen wie Hans-Werner Sinn in der Tugendhaftigkeit des Einzelnen bzw. in dessen Versagen den Grund für den sozialen Auf- oder Abstieg erkennen wollen, lenken sie vom Versagen eines Wirtschaftssystems ab, das größtmöglichen Wohlstand für alle verspricht, dies aber immer weniger realisiert, weil es Leistung, die sich in harter Arbeit ausdrückt, nicht anerkennt. Dieser Trend lässt sich auch in anderen entwickelte Industriestaaten beobachten: Während es 1940 geborenen US-Amerikaner(inne)n noch in 90 Prozent der Fälle gelang, gegenüber ihren Eltern ökonomisch aufzusteigen, verwirklichen den American Dream unter den im Jahre 1984 Geborenen nur noch 70 Prozent, wenn sie zur oberen Mittelschicht zählen und nur noch 35 Prozent, wenn sie der working class zuzurechnen sind.
Die Sorge um den ausbleibenden gesellschaftlichen Aufstieg im Strudel einer zunehmend weniger meritokratischen Gesellschaft gehört ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Bildung, und zwar nicht nur, weil es ein ebenso relevantes wie interessantes Thema ist. Zugleich lassen sich politische, gesellschaftliche und ökonomische Aspekte problem- und lebensweltorientiert verbinden, indem das auf dem Gedanken der Leistungsgesellschaft basierende Aufstiegsversprechen mit bildungs-, steuer- und sozialpolitischen Debatten verknüpft und um eine Diskussion der ökonomischen Anreizmechanismen (z. B. Mindestlohn) verbunden wird. Nach wie vor wird nicht nur das Themenfeld „Soziale Marktwirtschaft“ im sozialwissenschaftlichen Unterricht zu selten mit Blick auf diese Phänomene behandelt. Das sollte sich ändern.