Integration statt Separation
Tim Engartner
Im „Verdrängungswettbewerb“ der sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen droht die ökonomische Bildung sowohl die notorisch unterschätzte politische wie auch die seit vielen Jahren marginalisierte soziologische Bildung weiter an den Rand zu drängen. Dabei rütteln die Befürworter/innen eines Separatfachs „Wirtschaft“ an den Grundfesten der Stundentafeln. Wissentlich und willentlich unterschlagen sie, dass das disziplinistische Prinzip, wonach jeder Disziplin ein Unterrichtsfach zugesprochen wird, die Schulen organisatorisch und inhaltlich überfordern würde. So ließe die Einführung dieses neuen Unterrichtsfachs z. B. den Anteil fachfremden Unterrichts unbotmäßig ansteigen.
Während die Befürworter eines Separatfachs „Wirtschaft“ ausschließlich die Wirtschaftswissenschaften als Bezugsdisziplin heranziehen, basiert die sozialwissenschaftliche Bildung auf der Annahme, dass die gegenseitige Befruchtung der Teildisziplinen Politik, Soziologie und Ökonomie nicht zu deren gegenseitiger Sterilisation führt, sondern vernetztes Denken im Sinne der Trans- und Interdisziplinarität fördert. Ein Unterrichtsfach „Wirtschaft“ hingegen löst ökonomische Aspekte aus dem sozialwissenschaftlichen Fächerverbund heraus und überlässt die Vernetzung dieser dann rein additiven „Bildungsbausteine“ den damit überforderten Schüler(inne)n, die sich die Lebenswirklichkeit nicht entlang von Fachdisziplinen erschließen, sondern in toto wahrnehmen.
Will man dem von zahlreichen Lobbyorganisationen geforderten Separatfach „Wirtschaft“ entgegenwirken, braucht es eine Wiederbelebung der politischen und der soziologischen Bildung. Dies schließt die Aufbereitung ökonomischer Themen in bester Tradition der Politischen Ökonomie und der Wirtschaftssoziologie ein, sollte sich jedoch nicht darauf beschränken. In einem Separatfach „Wirtschaft“ droht die auf die „Totalbewirtschaftung“ des Lebens zielende Kosten-Nutzen-Kalkulation, die alles Tun und Trachten – von der Aufnahme des Studiums bis hin zur Familiengründung – unter den ökonomischen Vorbehalt des „Sich-Rechnen-Müssens“ stellt, zum Fixpunkt ökonomischer sowie zum Referenzrahmen sozialwissenschaftlicher Bildung zu werden. Längst geschieht dies im Rahmen von Initiativen wie „business@school“, „Geldlehrer e. V.“ und „My Finance Coach“ durch die Übernahme von Unterricht durch Unternehmensvertreter.
Anders als ein Separatfach „Wirtschaft“ schlägt das sozialwissenschaftliche Verbundfach zahlreiche Brücken zu anderen Unterrichtsfächern. Der „Anknüpfungscharakter“ ergibt sich schon aus der Dekonstruktion der Sprache – und damit z. B. unter expliziter Bezugnahme auf das Unterrichtsfach „Deutsch“: Begriffe wie „Eigenverantwortung“, „Modernisierung“ und „Reform“ eint nicht nur ihre positive Konnotation, sondern auch die Tatsache, dass sie häufig ahnungs-, bedenken- und kritiklos wiederholt werden. Sozialwissenschaftliche Bildung kann in besonderer Weise für diesen „Orwellschen Neusprech“ sensibilisieren, indem sie verdeutlicht, dass – anders als es etwa das Wort „Reform“ suggeriert – mit Bildungs-, Renten- und Steuerreformen nicht notwendigerweise Verbesserungen für die Menschen einhergehen.
Bedenkt man zudem, dass Ehepartner hierzulande im Durchschnitt nur sieben Minuten pro Tag miteinander reden und sich zugleich nur jeder zwanzigste Mann mehr Gespräche mit seiner Partnerin wünscht, darf man getrost behaupten, dass Initiativen, die „Unternehmergeist in die Schule“ tragen wollen, im Allgemeinbildungskanon nicht vorrangig sind. Offenkundig braucht es dringlicher denn je eine Wiederbelebung des (sozialen) Miteinanders. Deshalb müssen u. a. soziologische Paradigmen, Perspektiven und Positionen einen deutlicheren Widerhall in der sozialwissenschaftlichen Bildung finden. Diesen Anspruch kann nur ein sozialwissenschaftliches Integrationsfach einlösen. „Integration statt Separation“ lautet daher die Losung.