Dringlicher denn je: Mehr politische Bildung in der Schule!
Das lange Zeit Unvorstellbare ist geschehen: Die Alternative für Deutschland (AfD) ist in den Deutschen Bundestag eingezogen. Gerade im Schatten unserer Historie können wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Es braucht einen Kraftakt der Demokratinnen und Demokraten. Zivilcourage und politisches oder soziales Engagement müssen jedoch erlernt werden, denn demokratisches Bewusstsein stellt – so formulierte es einst Oskar Negt trefflich – „keine anthropologische Konstante“ dar. Und wenn nach einer gerade veröffentlichten repräsentativen Umfrage im Auftrag der Körber-Stiftung vier von zehn Schülerinnen und Schülern nicht wissen, dass Auschwitz-Birkenau ein Konzentrations- und Vernichtungslager während des Zweiten Weltkriegs war, dann müssen die Alarmglocken auch in den Kultusministerien schrillen. Derweil rechtspopulistische Parolen von Flensburg bis Passau wabern, so muss der Ruf nach (mehr) politischer Bildung als „Gegengift“ lauter schallen denn je. Latent bedroht war die Demokratie durch Apathie, Extremismus und Populismus schon immer. Nun aber wird die Bedrohung mit der parlamentarischen Aufwertung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit virulent.
Doch darf nach politischer Bildung in der Schule nicht nur in akuten „Krankheitsphasen“ verlangt werden, ist sie doch konstant zur Stärkung der Demokratie verpflichtet. Die Förderung politischer Bildung vollzieht sich eben auch und gerade auf der schulorganisatorischen Ebene, d. h. in Form von ausreichend vielen Schulstunden, einschlägig ausgebildeten Lehrkräften und ansprechenden (obligatorischen) Lehrerfort- und -weiterbildungen. Die Realität der Stundentafeln zeichnet indes ein düsteres Bild. So werden in Sachsen - also just in dem Bundesland, in dem die AfD stärkste Partei wurde - dem Fach Gemeinschaftskunde in der neunten und zehnten Klasse nur zwei Wochenstunden zuteil. Im Zwei-Städte-Staat Bremen ist zwar von der fünften bis zur neunten Jahrgangsstufe der sogenannte Lernbereich Geografie, Geschichte und Politik abgedeckt – dies jedoch mit nur knapp zweieinhalb Wochenstunden. Selbst der „Bildungsvorreiter“ Bayern schneidet im Ländervergleich dürftig ab: So wird an bayerischen Gymnasien im Laufe von acht Schuljahren nur drei Jahre lang das Fach Sozialkunde unterrichtet – mit einem Stundenkontingent von einer Wochenstunde in den Jahrgangsstufen zehn bis zwölf.
Soll Schule ihren Bildungsauftrag einlösen und wollen wir weder Politikverdrossenheit noch Geschichtsvergessenheit nicht zum Schulprogramm erheben, muss politische Bildung von der ersten bis zur letzten Jahrgangsstufe ausgebaut werden. Historisch verpflichtet sind wir aufgrund des Reeducation-Programms, das uns die Alliierten nach 1945 im erstaunlicherweise unerschütterten Glauben an die stabilisierende Kraft der Demokratiepädagogik auferlegten. Wir sollten uns dringend die Worte Hannah Arendts ins Gedächtnis rufen: Politische Bildung befähigt zum Leben in Freiheit. Denn allein politische Bildung ermöglicht es, sich von Vorurteilen und Verblendungen zu befreien, Reflexions-, Kritik- und Urteilsfähigkeit auszubilden und damit Distanz zum scheinbar allmächtigen Zeitgeist zu gewinnen. Es ist Zeit für einen bildungspolitischen Aufbruch zu Gunsten politischer Bildung. Sie ist auch in der Schule dringlicher denn je.